Post aus London

Clare Morrall und der Booker-Preis

Von Henning Hoff
07.10.2003. Der kleine Verlag Tindal Street Press aus Birmingham stellt ein paar Branchen-Riesen ein Bein und könnte beim Booker-Preis den großen Coup landen.
"Giant Killer" überschrieb die britische Presse Mitte September die Veröffentlichung der "kurzen Liste" der Autoren, die für Großbritanniens prestigereichsten Literaturpreis, den Booker Prize, nominiert sind. Tatsächlich blieben viele "Riesen" des englischsprachigen Literaturbetriebs auf der Strecke. Weder Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee, noch Martin Amis oder Graham Swift kamen in die nächste Runde, und mit ihnen gingen so renommierte Verlagshäuser wie Jonathan Cape, das zu Random House (und damit zu Bertelsmann) gehört, und Hamish Hamilton aus der Penguin-Gruppe leer aus.

Geschafft hat es dagegen die Autorin Clare Morrall, eine 51jährige Musiklehrerin, deren erster veröffentlichter Roman "Astonishing Splashes of Colour" die wahre Sensation der "Booker"-Kurzliste ist. Die unsentimentale Geschichte einer Mutter, die um ihre Tochter trauert, hat die britische Literaturkritik durchweg begeistert. (Hier ein Artikel aus dem Guardian.) Der Verlags-David, der den Goliaths der Branche ein Bein gestellt hat, ist Tindal Street Press aus Birmingham.

Es ist immer noch ungewöhnlich, dass ein nicht-Londoner Verlag bei Literaturpreisen so weit kommt. Großbritannien ist trotz der neu geschaffenen Regionalparlamente für Wales und Schottland gerade in Sachen Medien ein stark zentralistisches Land. Der einzige Großverlag außerhalb der Hauptstadt ist Canongate in Edinburgh, das den "Booker"-Gewinner des Vorjahres, Yann Martels Buch "Schiffbruch mit Tiger" (Originaltitel: "The Life of Pi"), veröffentlicht. Canongate muss regelmäßig Gerüchte dementieren, dass ein Umzug nach London kurz bevorsteht. Vor ein paar Wochen bestätigte der Verlag allerdings, ein Hauptstadt-Büro einrichten zu wollen, da sich Treffen mit Autoren und Agenten so leichter organisieren lasse.



Von solchen Vorhaben ist Tindal Street Press noch meilenweit entfernt. Der Birminghamer Verlag ist ein überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziertes Kleinstunternehmen, und die Zahl der festen Angestellten lässt sich an zwei Fingern abzählen: Emma Hargrave, "managing director", arbeitet Vollzeit, "editorial assistant" Luke Brown hat eine halbe Stelle. Sechs Bücher bringt Tindal Street Press im Jahr heraus, und erst seit 2002 hat der Verlag ein richtiges Büro. Das Buch von Clare Morrall war das dreizehnte, das Tindal Street Press publizierte, für den Verlag eine glückliche Nummer.

Der Achtungserfolg, der sich bei der "Booker"-Preisverkündung am 14. Oktober noch in eine großen Coup verwandeln könnte, steht gleichzeitig für eine allmähliche Renaissance, die die "Regionen" in Mittel- und Nordengland seit ein paar Jahren erleben. Im einstigen industriellen Herzen Englands machte sich der Niedergang der britischen Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten besonders schmerzhaft bemerkbar. Die Folgen des "Thatcherismus" taten ihr Übriges, um einst stolze Metropolen wie Manchester, Liverpool oder eben Birmingham niedergehen zu lassen. Im Gegensatz zum Trauerbild der jüngeren Vergangenheit präsentiert sich Birmingham heute als aufsteigende Stadt. Mit fast einer Million Einwohnern ist sie Großbritanniens zweitgrößte Kommune, und mit einem Anteil "ethnischer Minderheiten" von fast 30 Prozent an der Gesamtbevölkerung außerdem eine der größten Einwandererstädte des Landes. Der englische Durchschnitt liegt bei knapp unter zehn Prozent.

Wer mit dem Zug nach Birmingham reist, kommt im Bauch der Stadt an. Das Zentrum liegt auf einer Anhöhe, und der düstere, unterirdische Bahnhof "New Street" ist in diesen Berg hineingebaut. Ein paar Schritte entfernt liegt der Bullring, einst Birminghams traditioneller Marktplatz, heute eine gigantische Shopping Mall, die eine halbe Milliarde Pfund gekostet hat und Anfang September eröffnet wurde. Der "Bullring" ist das Herzstück einer auf sieben Milliarden Pfund bezifferten städtischen Wiederbelebung, die vom Einzelhandel angeführt werden soll. Es ist das größte Projekt seiner Art in Europa. Die neue Filiale des Kaufhauses Selfridge's, die den Komplex an einer Seite abschließt, ist mit ihren organischen Formen ein beeindruckendes Meisterstück. Die übrigen Gebäude des "Bullring" bieten dagegen nur charme- und einfallslose Einkaufspassagen-Architektur.



Fotos: Henning Hoff

Tindal Street Press ist räumlich nicht weit entfernt, doch liegen Welten dazwischen. Der Verlag belegt den Raum 217 der Custard Factory. Die ehemalige Puddingfabrik, inmitten einer Gegend aus verlassenen Seitenstraßen und Hinterhofgaragen gelegen, wurde einst von Sir Alfred Bird, dem Erfinder des Vanillepudding-ähnlichen "custard", erbaut und beheimatet seit 1990 eine Reihe von Kunst- und Kreativprojekten. In dem kleinen Büro, das eine eindruckvolle Aussicht auf die Innenstadt bietet, herrschte bislang wenig Betrieb. Als sich aber an einem Nachmittag im August Clare Morralls Buch auf der "langen Liste" des "Booker"-Preises wiederfand, stand auf einmal das Telefon nicht mehr still.

"Wie alle Verlage durften auch wir Vorschläge für den 'Booker' machen", erklärt Emma Hargrave, "wir taten das im Frühjahr, und, um ehrlich zu sein, vergaß ich die ganze Sache bald danach. Und an einem Freitag im August rief auf einmal die Times bei uns an und fragte nach einem Interview mit Clare Morrall, sie stünde auf der 'Booker'-Liste. Das war fantastisch, ganz fantastisch, es kam völlig aus dem Nichts." Die Autorin befand sich zu der Zeit auf Sommerurlaub, und erst am Folgetag konnte die Times ihr Interview führen. "Es hat ein paar Tage gedauert", erinnert sich Emma Hargrave, "bis wir das Ganze richtig begriffen haben, und was es für uns bedeuten wird."

Eine Vorahnung, dass es das Buch Mitte September sogar in die Endrunde schaffen würde, hatte Tindal Street Press nicht. "Es gibt da keine Insiderinformationen. Die Preisrichter treffen sich an dem einen Nachmittag und entscheiden. Wir hatten uns so gut wie möglich auf den eventuellen Erfolg vorbereitet, aber uns auch auf eine Enttäuschung eingestellt - und so waren wir überrascht und begeistert." Emma Hargrave und Alan Mahar, der freiberufliche "publishing director" von Tindal Street Press, setzten sich kurzfristig in den Zug nach London, um an der Party zur Verkündung der Endauswahl teilzunehmen. "Es war nicht das, was ich eine Party nennen würde, aber es war wirklich toll, ein bisschen einschüchternd, aber nett, denn die Leute dort wollten uns kennenlernen, und das war das erste Mal, dass wir in der Situation waren, wo Leute wirklich mehr über Tindal Street Press erfahren wollten. Es war aufregend, aber am Ende war es ein Teil der Arbeit."

Der Verlag hat in wenigen Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Er ging aus einer Gruppe von lokalen Schriftstellern hervor, die sich die Tindal Street Fiction Group nannte, da ihr wöchentlicher Treffpunkt eine Schule in der gleichnamigen Straße war. Einer der Birminghamer Autoren, Alan Beard, hatte eine Geschichtensammlung mit dem Titel "Taking Doreen Out of the Sky" verfasst, die alle Londoner Verlage ablehnten. Die Gruppe beantragte daraufhin Geld aus dem Kulturfond der britischen Lotterie und brachte das Buch selbst heraus, begleitet von viel Lob - sogar von der nationalen Presse.

Dieser Erfolg beflügelte die Gruppe. Tindal Street Press wurde gegründet und veröffentlichte im Herbst 1999 das erste Buch, "Hard Shoulder", eine Sammlung von Kurzgeschichten von verschiedenen Autoren der Region. Der Band gewann auf Anhieb den angesehenen "Raymond Williams Prize for Community Publishing", der die Veröffentlichung regionaler Literatur auszeichnet. Mit finanzieller Unterstützung des Birminghamer Stadtrats, der staatlichen Kulturförderung Arts Council England, des Lotterie-Funds und dem Busunternehmen Travel West Midlands konnte der Kleinverlag den Betrieb aufnehmen.

Seitdem widmet sich Tindal Street Press ganz der "regional fiction" - Literatur mit regionalem Einschlag, deren Autoren aus Birmingham und Umgebung stammen oder deren Handlungen Bezug zur Region "Midlands" haben. Emma Hargrave spricht von einer "Literatur mit einem ausgeprägten Sinn für den Ort". Das galt lange als publizistisches Gift bei Verlagen und Buchhändlern. Doch der Erfolg von Clare Morralls Buch gibt Tindal Street Press Recht. "Die Tatsache, dass das Buch in Birmingham spielt, schreckt Leser nicht ab, denen Birmingham unbekannt ist, und diejenigen, die es kennen, bereitet die Lektüre eine Menge Vergnügen. Wir wollen Vorurteile bekämpfen, indem wir sagen, gute Literatur kann von überall kommen, es ist lächerlich, das abzustreiten."

Emma Hargrave rückt außerdem das Bild vom "winzigen Verlag" zurecht: "Wir haben einen Herausgeber-Beirat, und viele Leute wie die Designer der Einbände arbeiten als Freiberufler mit uns zusammen. Durch die Anthologien haben wir schon mehr als hundert Autoren veröffentlicht, dazu fünfzehn Romanschriftsteller." Der Erfolg mit der "Booker"-Nominierung könnte dem Verlag noch weitere Türen öffnen. "Astonishing Splashes of Colour" hat bereits die üblichen Dimensionen von Tindal Street Press gesprengt. Normalerweise erscheinen die Taschenbücher in einer Auflage von 2.000 Stück - von Clare Morralls Buch ist bald die zehnfache Zahl gedruckt, wenn auch noch nicht verkauft. Fast täglich laufen Anfragen nach Übersetzungen und Auslandsrechten ein.

Was genau passiert, sollte das Buch am 14. Oktober beim Gala-Dinner im Britischen Museum den "Booker" gewinnen, mag sich Emma Hargrave noch gar nicht ausmalen. In den letzten Tagen hat sie mit Clare Morrall die "Kleiderfrage" besprochen, und es gab eine Menge zu organisieren, von Hotelzimmern in London bis hin zur Klärung der Frage, ob jemand am Tisch Vegetarier ist. Emma Hargrave ist sich jedoch sicher, dass ein Sieg beim wichtigsten Literaturpreis des Landes den Verlag verändern würde. Der regionalen Literatur will Tindal Street Press aber treu bleiben. Das Logo des Verlags, das Sackgasse-Symbol der Tindal Street, hat keine weitere Bedeutung.