Post aus Neapel

Kinematografisches Fegefeuer

Von Gabriella Vitiello
19.10.2002. "Mach du ihn", soll Federico Fellini zu Roberto Benigni gesagt haben. Am 11. Oktober ist jetzt Benignis Film "Pinocchio" in den italienischen Kinos angelaufen. Vertrieben wird der Film von einer Firma Berlusconis. Linke und rechte Filmkritiker nehmen das übel.
"Nicht ich habe ihn, sondern Pinocchio hat mich ausgewählt", verrät der Schauspieler und Regisseur Roberto Benigni zum Kinostart seines neuen Films (mehr hier). Zwanzig Jahre lang hat Benigni davon geträumt, Carlo Collodis Meisterwerk (mehr hier) von 1881 zu verfilmen, das er ursprünglich zusammen mit Federico Fellini realisieren wollte: "Wir wollten den Film gemeinsam machen und hatten sogar schon Probeaufnahmen gedreht. Fellini nannte mich Pinocchietto und sagte zu mir: 'Robertino, dieses Jahr müssen wir Pinocchio unbedingt machen'. Als ich ihn zum letzten mal sah, war er krank. Damals sagte er zu mir: 'Mach du ihn.' - das war seine Segnung." (So Begnini auf einer Pressekonferenz in Rom, nach der Vorpremiere von "Pinocchio". Hier die Version der PK in La Repubblica , hier eine längere Fassung der Unita.)

28 Wochen Drehzeit und 45 Millionen Euro waren nötig, um "Pinocchio" am 11. Oktober in die Kinos zu bringen (hier der Trailer). Benigni und seine Frau Nicoletta Braschi (mehr hier) haben mit ihrer Firma, der Melampo, das Filmereignis des Jahres selbst produziert; und sie haben jetzt verständlicher Weise ein großes Interesse daran, dass die Kinokassen klingeln. Pünktlich zu Weihnachten wird der Film in den US-Kinos anlaufen. In Italien spielte "Pinocchio" am ersten Wochenende in 940 von 1.200 italienischen Kinos fast 9,5 Millionen Euro ein und brach damit alle bisherigen Kassenrekorde (siehe auch das Pinocchio-Special der Repubblica).

Für das rege und finanzstarke Interesse haben sich Benigni und Braschi schon bei den Zuschauern bedankt, während so mancher Kinobesitzer wiederum den Produzenten seinen Dank ausspricht. Kein Wunder, denn Pinocchio ist unter sieben Euro pro Kinokarte nicht zu haben. Die Preisermäßigungen, seien es die Nachmittagsvorstellung oder spezielle Club-Karten, wurden aufgehoben. Der lachende Dritte dürfte die Medusa sein. Die Filmvertriebsfirma aus dem Medienkonzern Berlusconis hat den Vertrieb übernommen, nachdem der zunächst von der Melampo ausgewählte Florentiner Medienunternehmer Cecchi Gori vor finanziellen Schwierigkeiten stand.

Benigni, der oscarprämierte ("Das Leben ist schön") Vorzeige-Linke, der im Frühjahr noch auf der großen Gewerkschafts-Demonstration in Rom gesehen wurde, und ein von Interessenkonflikten gezeichneter Premier - passt das zusammen, fragten sich viele italienische Filmkritiker irritiert. Sie gerieten in Anbetracht der exorbitanten künstlerischen und finanziellen Erwartungen, die an den Film gestellt werden, ins politische Dilemma. Darf die Linke sich eingestehen, dass ihr der Film gefällt, obwohl "Pinocchio" von Berlusconis Medusa verteilt wird; oder kann sie es sich leisten, ihn zu verreißen, obwohl Benigni seinerzeit dem legendären Parteisekretär des Partito Comunista Italiano, Enrico Berlinguer, einen Film ("Berlinguer ti voglio bene") widmete und ihn buchstäblich auf den Arm nahm (Foto)?

Viel besser ergeht es der Rechten auch nicht. Kann sie es wagen, den Film zu kritisieren, nachdem Benigni in den letzten Wochen die Protestkundgebungen gegen Berlusconi gemieden hat; oder darf sie ihn gar loben, obwohl das Berlusconi-treue Blatt von Giuliano Ferrara, il Foglio, derzeit Benignis härtester Kritiker ist? Natalia Aspesi, die Filmkritikerin der Tageszeitung La Repubblica, fasste das polemische Wirrwarr in ihrer lesenswerten, nüchternen Filmrezension zusammen und stellt fest, dass diese Art der politischen Phantasterei, die Fantapolitica, eine typisch italienische Angelegenheit sei.

Der Interessenkonflikt von Silvio Berlusconi, der zugleich Premier und Inhaber eines gigantischen Medienkonzerns ist, scheint sich auf die Künstler zu übertragen und diese in eine moralischen Zwickmühle zu drängen. Die geschäftlichen Verbindungen mit einem Unternehmen Berlusconis werden linken Filmemachern oder Schriftstellern, wahlweise - und je nach Bedarf - von der linken oder der rechten Presse gerne als ethisch fragwürdiges Verhalten angelastet.

Nicht ganz ohne Häme beobachtet so der Direktor des konservativen Corriere della Sera, Paolo Mieli, die eisige Stimmung vieler Linker gegenüber Benigni und weist seine Kollegen mit den Worten des Dichters Paolo Luzi darauf hin, "dass es in einer Situation der kulturellen und politischen Schwächung und des Zerfalls schwierig ist, ein ethisch verantwortungsvolles Verhalten beizubehalten." Leider sagt Mieli nicht genauer, was er mit kulturellem Verfall meint. Vielleicht Pinocchio?

Im eigenen Interessenkonflikt hat sich der Co-Drehbuchautor von Benignis "Pinocchio", Vincenzo Cerami verzettelt. Als direkt von der Kritik Betroffener beschwert er sich in der Turiner La Stampa über den aggressiven Ton einiger linker Filmrezensenten und sieht in der vermeintlichen Krise der Kinokritiker eine Metapher für die Krise der italienischen Linken: "Ich habe den Eindruck, dass die Filmkritiker von einst (am Werk als Linksintellektuelle, die nicht besseres zu tun haben, als Benigni täglich und beharrlich anzugreifen, die Gelegenheit nutzen, die ihnen ein derart mit hohen Erwartungen beladener Film bietet, um sich mit viel Lärm neu zusammenzusetzen und wieder als Clique, die auseinandergefallen war, zu formieren." Dass er mit dieser Argumentation die Logik Berlusconis annimmt, der für gewöhnlich hinter jeder Kritik die bösen Kommunisten wittert, ist Cirami wohl nicht aufgefallen. (Hier ein Interview mit Cirami auf Benignis homepage)

Das Metaspektakel in der Presse erreichte seinen Höhepunkt, als die Universität Bologna dem toskanischen Filmemacher und Schauspieler den Ehrendoktortitel für seine Interpretation der "Göttlichen Komödie" von Dante verlieh. Da verging auch der konservativen und liberalen Presse das Lachen. Nur die ersten drei Minuten der Veranstaltung durften von den Medien aufgezeichnet oder übertragen werden - so sei es Tradition, meldete der Universitäts-Präsident Pier Ugo Calzolari. Doch die Journalisten sahen dies anders und boykottierten Benignis Doktorwürden. Die Fotografen lieferten den Presseagenturen und Zeitungen ein Foto, auf dem Benignis Kopf komplett "gepixelt" war. "Fotografen gegen Benigni. Er benimmt sich wie eine Diva", titelte der Corriere. In der Stampa polemisierte Massimo Gramellini gegen den "lachenden Millionär der Linken, Hauptdarsteller in einem Reigen, der sich nur um ihn dreht. Sein Pinocchio hat ihn den Dimensionen des Filmemachers entrissen, um ihn endgültig ins System zu integrieren. Weniger als vom Film wird in diesen Tagen nur von den kommerziellen Schachzügen gesprochen, die Katze Roberto und Fuchs Nicoletta sich ausgedacht haben, um Goldtaler abzuschöpfen." Die Journalisten der Associazione della Stampa Estera (Vereinigung der Auslandspresse) waren sowieso schon verärgert, da Benignis Agentur ihnen mitgeteilt hatte, ihre Anwesenheit sei beim Presse-Preview von "Pinocchio" nicht erwünscht.

Trotzdem haben einige Filmkritiker sich die Mühe gemacht, Benignis "Pinocchio" seriös und unabhängig von politischen Zugehörigkeiten zu besprechen. Im linksintellektuellen manifesto engagiert sich Mariuccia Ciotta mit einer psychoanalytischen Interpretation und bezeichnet Pinocchio darin als ein "göttliches Stück Holz", dem Benigni eine beinah heilige Aura verleihe sowie eine philosophische Dimension: "Pinocchio wird in dem Moment zum Menschen, in dem er sich vom zwanghaften Dilemma zwischen der Freude an der Freiheit und dem 'Sich Zwingen zur Pflicht' - zwischen Himmel und Erde - befreit und damit eine metaphysische Dimension in dieser Welt findet." Diese Deutung mag auf das Buch Collodis zutreffen, für Benignis "Pinocchio" ist sie jedoch zu hoch gegriffen. Seine Interpretation der Holzpuppe hat etwas Ernüchterndes. Pinocchio wirkt entzaubert.

Weder der Segen des großen Fellini noch die Seelenverwandtschaft zwischen Pinocchio und Benigni, der am 27. Oktober seinen fünfzigsten Geburtstag feiert, machen den Film über die Holzpuppe zu einem Meisterwerk. Benigni gelingt es nicht, die Illusion aufzubauen, dass er Pinocchio ist. Er bleibt die ganze Zeit hindurch nur Benigni, der versucht, sich selbst zu spielen. In der Pinocchio-Rolle wirkt er oft wie ein fantasieloser Schreihals und lässt den schelmischen und maliziösen Pinocchietto vermissen, der sich in der TV-Show über die Medien-Models mit den zu tiefen Dekolletees stürzt, den Moderatoren schamlos in den Schritt greift und bei der Oskar-Verleihung über Publikum und Sessellehnen zur Bühne springt. Dies sei ein Pinocchio-Zitat, behauptete Benigni im Unita-Interview und erklärte, dass er in seinem Film diese Szene gemäß Collodi inszeniert habe, aber nicht etwa als das eigene Oscar-Plagiat. Trotzdem wirkt die Filmszene, in der Benigni-Pinocchio über die Stuhlreihen nach vorne zu den Marionetten hüpft, langweiliger und bedeutungsloser als seine Performance bei der Oscar-Prämierung.

Einen traurigen Eindruck hinterlässt auch Nicoletta Braschi als Fee mit dem tiefblauen Haar. In einem Vergleich zwischen der literarischen Vorlage und der filmischen Interpretation weist der Literaturkritiker und Schriftsteller Pietro Citati in der Repubblica darauf hin, dass Benignis Fee nicht glänzt. In Collodis Buch ist die Fee jedoch eine vielgestaltige, schillernde Figur: "Königin der Verwandlung, Hüterin des Todes, Schicksalsweberin, Pädagogin und Initiationsmeisterin." Nur wenn Benigni es wagt, sich von Collodis Vorlage zu entfernen und sie zu ändern, kann er den Filmszenen ein wenig Magie verleihen: am Anfang tobt ein wild gewordener Pinienstamm durch den Ort, zerstört Marktstände, Wäscheleinen und Karren und springt bis vor Meister Geppettos Haustür. Am Ende, als Pinocchio als "braver Junge" endlich zur Schule geht, bleibt bei Benigni der Schatten der Marionette vor der Tür stehen, dreht sich um und läuft neuen Abenteuern entgegen.

Benigni hat den Fehler gemacht, die mythische Holzfigur in eine bekannte Persönlichkeit zu verwandeln, meint (hier und hier) der neapolitanische Theatermacher und Komponist Roberto de Simone in Il Mattino. Eine geheimnisvolle Maske, die ein Kollektiv darstellen soll und nicht nur ein Individuum, dürfe die Person dahinter nicht durchscheinen lassen. Benigni konnte seine Identität, seine persönliche Fantasie und Schauspielkunst jedoch nicht hinter den gesichtslosen Zügen der Pinocchio-Figur zu verbergen.

Federico Fellini wusste, dass "Pinocchio" mit seinen mysteriösen und esoterischen Elementen einen Regisseur schnell ins kinematografische Fegefeuer treiben konnte. De Simone erzählt von einem Gespräch mit Fellini, in dem er ihn fragte, warum er 'Pinocchio' nicht realisieren wolle: "Sehen Sie, De Simone - antwortete er - jedes Mal wenn ich kurz davor bin, den Film zu machen, habe ich den Eindruck, eine gefährliche Schwelle zu überschreiten; es kommt mir vor, als stünde ich mit einem Fuß im Feuer. Vielleicht bräuchte ich einen Vergil neben mir, der mich führen würde." Als Dante-Fan und Rezitator der "Göttlichen Komödie" hätte Benigni eigentlich wissen müssen, dass man geheimnisvolle, dunkle literarische Welten nicht ohne kompetenten Führer beritt. Ansonsten wäre aus Pinocchietto vielleicht doch noch ein echter Pinocchio geworden.