Bücherbrief

Bücherbrief September 05

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
30.08.2005. Wozu Wahlen führen können, wie ein Engel in den Schrank kommt und was der 25. Klon denkt: alles und mehr in den besten Büchern des Monats, die der Perlentaucher nach unzähligen Wahlgängen ermittelt hat.
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Weitere Anregungen finden Sie hier in unserem Vorgeblättert, hier in den Büchern der Saison, hier in Arno Widmanns "Nachttisch" oder hier im vergangenen Bücherbrief. Und schon mal vormerken: ab 13. Oktober erscheinen die Zeitungsbeilagen zur Frankfurter Buchmesse.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!


Larmoyanter Klon

Michel Houellebecqs
neuer Roman "Die Möglichkeit einer Insel" () ist unbestritten das literarische Großereignis des Monats. Innerhalb von vier Tagen (!) haben es alle Zeitungen besprochen, und alle erkennen schon in den ersten Zeilen den typischen Stil des skandalerprobten Autors. Die SZ vermisst im Lebensekel des 25-mal geklonten Protagonisten Daniel allerdings die verzweifelte Wut von früher. Die FR kann dem "Pseudo-Porno" nichts abgewinnen, während die taz eben an den "naturalistisch-sexistisch-abenteuerlichen Szenarien" ihre Freude hat. Houellebecq ist gar kein Provokateur, sondern ein unheilbarer Romantiker, stellt dagegen die FAZ mit einer ungewohnten Milde klar, ein Romantiker, der die schleichende Abschaffung des Menschen und die Unvermeidlichkeit des Alterns beklagt.


Antisemitisches Amerika

"Atemberaubend eindrücklich", applaudiert die FR lautstark, während die Zeit sich still vor Philip Roths "verehrungswürdiger Erzählkunst" verbeugt. 1940 erringt der Fliegerheld und Nazi-Sympathisant Charles Lindbergh einen erdrutschartigen Wahlsieg gegen Franklin D. Roosevelt und wird Präsident der USA, die sich in den beiden folgenden Jahren zur antisemitisch geprägten Diktatur wandelt. Die "Verschwörung gegen Amerika" ist Roths "wohl bedeutendster politischer Roman", raunt die taz. Die autobiografischen Elemente, die Roth in den achtjährigen Erzähler, ein jüdischer Junge gleichen Namens, einfließen lässt, sorgen für Bodenhaftung inmitten der kühnen historischen Fiktion. Dass am Ende aber mit der Flucht Lindberghs alles wieder in bekannte Bahnen gelenkt wird, finden alle Rezensenten enttäuschend, die FR spricht mit der aufrichtigen Empörung eines um einen guten Schluss betrogenen Lesers gar von einem "abstrusen" Einfall.


Fußläufige Beobachtungen

Wie in Trance versinkt die FR in den Aufzeichungen Peter Handkes, die er während seiner Wanderjahre zwischen 1987 und 1990 gemacht hat, in denen er keinen festen Wohnsitz hatte und vor allem zu Fuß quer durch Europa, Ägypten oder Japan reiste. Mit der Bewunderung für "Gestern unterwegs" ist die FR nicht allein. Die Zeit erfährt mit dem Pilger Handke eine willkommene Verlangsamung und findet ein "Auge für das Unscheinbare und Schöne". Die SZ berichtet ein wenig erleichtert, dass Handke alles außen vor lasse, was der Poetisierung des Alltags im Wege steht: die eigene Person, die Gegenwartsliteratur und glücklicherweise auch die Politik. Dadurch kommt die "ganze Kunst des Schriftstellers Peter Handke" ungetrübt zum Vorschein.


Die Leidenschaft der Achtziger

"Als hätten Bob Dylan und The Clash zusammen einen Song geschrieben." Leidenschaftlich, wuchtig, ökologisch korrekt: Jonathan Franzens schon 1992 in den USA erschienener Roman "Schweres Beben" ist ein beeindruckendes Produkt der Achtziger, staunt die taz. Sind die unerklärlichen Beben um Boston die Folge ungezügelter Abwasserentsorgung? Auf 685 Seiten werden in einem großen Bogen von der Ausrottung der Ureinwohner bis zu den Machenschaften der Chemiekonzerne alle Untaten des amerikanischen Establishments abgehandelt, was der Zeit bisweilen zu komplex ist, die SZ aber als genau beobachtetes Abbild der Wirklichkeit feiert.


Engel im Schrank

Wie jedes gute Buch ist Cees Nootebooms "Paradies veloren" kurz, lobt die Zeit (immerhin 159 Seiten). Die Szene, wie eine als Engel verkleidete Frau in einem Schrank in Perth auf ihre Entdeckung wartet, wird ihr immer im Gedächtnis bleiben. Das bleibt aber gottlob nicht das einzige Kompliment der Kritiker an die Geschichte der beiden brasilianischen Freundinnen Alma und Almut, die sich nach Australien aufmachen, um Traumata zu überwinden und Träumen nachzugehen. Die FR vermutet hier ein Alterswerk und verortet Nooteboom auf der Höhe seines Könnens. Befriedigt notiert sie, dass der niederländische Schriftsteller nicht moralisiert, sondern einfach nur beschreibt, "listig, immer sanft ironisch". Und die NZZ gibt sich ganz und gar dem erfrischenden Wechsel von "schwereloser Heiterkeit" und "großem Ernst" hin.


Die Jäger des verlorenen Buchs

Schon im März hat die SZ den "ebenso spannenden wie schrägen Philologenkrimi" "Die Blender" des Kolumbianers Santiago Gamboa entdeckt, die restlichen Zeitungen zogen erst vor kurzem nach. Ein Schriftsteller, ein Journalist und ein Sinologe treffen in Peking aufeinander; alle drei sind auf der Suche nach der mysteriösen Gründungsschrift der Boxer-Sekte. Der NZZ gefallen die beklemmenden Schilderungen des heutigen Peking, die FR lobt, wie Gamboa unter der Oberfläche eines schmissigen Philologen-Krimis existenzielle Fragen verhandelt. Nur der FAZ ist das Geflecht aus Spionage, Verwechslungen und Verfolgungswahn zu comichaft überzeichnet.


Di Fabios Reden an die Nation

Es rappelt im Karton! Die Aufforderung Udo di Fabios, zu traditionellen Werten wie Verantwortungsbewusstsein und Kinderliebe zurückzukehren, spaltet die Kritikergemeinde. Während die SZ die "Kultur der Freiheit" des Verfassungsrichters ob der libertären und religiösen Thesen fassungslos zurück lässt, verortet die FAZ diese "nationalpädagogische Streitschrift mit erkenntnistheoretischem Ehrgeiz" in der besten Tradition von Fichtes "Reden an die deutsche Nation". Die taz sieht in di Fabio einen kulturkritischen Romantiker mit immerhin flotter Schreibe, und die FR freut sich ganz ungeniert über die Erschütterungen, die das Buch in unserer "freudlosen Republik" seit seines Erscheinens auslöst.


Zweitausend Jahre Marketingerfahrung

Bruno Ballardini ist kein verbitterter Exkatholik, der Verschwörungstheorien über die katholische Kirche verbreitet, versichert die taz. Vielmehr stellt "Jesus wäscht weißer" anschaulich und amüsant die Marketingstrategien des ältesten multinationalen Unternehmens der Welt vor. Von der Erzeugung des Schuldgefühls bei den potenziellen Kunden bis hin zum "ziemlich geschmacklosen" Trademark des Kreuzes: Ballardini erläutere "sinnesfroh", warum Gott und Coca-Cola in mancherlei Hinsicht nicht allzuweit voneinander entfernt sind.


Die Rücksichtslose

Eine "wunderbare Buchgeburt" kann die FR mit Friederike Mayröckers "Und ich schüttelte einen Liebling" () anzeigen. Neun Monate hat die Lyrikerin aufgeschrieben, was sie erlebt und gedacht hat. Dabei ist kein Tagebuch entstanden, sondern dank "künstlerischer Rücksichtslosigkeit" ein Blick auf den Kern des Menschlichen. Stilistisch wie emotional ein "Höhe- und Tiefpunkt" des Mayröckerschen Werks, in dem ihre Technik des figuralen Schreibens in unbekannte Extreme vordringt. Die eigenwillige Interpunktion, die abrupten Themenwechsel oder die ungeordnete Abfolge von Lyrik und Prosa stört sie nicht, versinnbildlicht es doch in vollendeter Weise das vielfältige und chaotische Wesen des Menschlichen überhaupt".


Sonnenbrillen und Scheinehen

"Deutsch-türkische Post-Pop-Literatur", ein langes Wort für ein so rasantes Buch! Wohltuend bedeutungsleicht und gut geschrieben kommen Imran Ayatas Geschichten über die Jugendlichen der türkischen "Parallelgesellschaft" in Deutschland daher, vermerkt die FR. Im "Hürriyet Love Express" geht es um Liebe, Sex und Sonnenbrillen, aber auch um klischeeträchtige Sujets wie die Scheinehe, die Ayata aber erfrischend "unverkrampft" handhabt Die einzelnen Texte sind nicht immer rund, bemerkt die taz. Genau das aber komme dem fragmentierten Bewusstsein der türkischstämmigen deutschen Jugendlichen recht nahe. Ein Buch über das Leben in all seinen Facetten eben.