Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.11.2004. Im New Yorker erzählt Jonathan Franzen von der zentralen Rolle, die die "Peanuts" für ihn spielten. Outlook India begleitet den Postboten Khetaram auf seinen meilenweiten Gängen durch die Wüste Thar. Plus Minus sieht zu, wie nun auch in Kiew der Homo sovieticus verschwindet. Das TLS lernt von Richard Dawkins Neues über die Mode in der Evolution. Die New York Times Book Review ist ganz der Lyrik gewidmet.

New Yorker (USA), 29.11.2004

In einem wunderbaren Text erinnert sich Jonathan Franzen (mehr) an seine Kindheit und an die zentrale Rolle, die die Peanuts darin spielten. "Ein Beispiel: Linus nervt Lucy und bettelt sie an, ihm eine Geschichte vorzulesen. Damit er Ruhe gibt, schnappt sie ein Buch, schlägt es irgendwo auf und liest: 'Ein Mann wurde geboren, lebte und starb. Ende.' Sie wirft das Buch zur Seite und Linus hebt es ehrfürchtig auf. 'Was für eine faszinierende Geschichte', sagt er. 'Man könnte sich fast wünschen, den Typ gekannt zu haben.' Die perfekte Albernheit von Sachen wie diesen, ihre buddhistische Unergrüdlichkeit entzückten mich schon mit zehn Jahren." Gegen Ende des Texts schildert er eine herrlich bizarre Szene zwischen seinen Eltern, in der es um die - titelgebende - "Behaglichkeitszone" auf dem Heizungsthermostat ging. "Ich frage mich, warum 'cartoonhaft' eine Abwertung geblieben ist. Ich habe jedenfalls mein halbes Leben gebraucht, um es zu schaffen, meine Eltern als Cartoons zu sehen. Und wenn ich selbst etwas cartoonmäßiger würde: Was wäre das für ein Sieg."

Weiteres: David Sedaris (mehr) erzählt gleichermaßen komisch wie melancholisch von den "Grenzen der Liebe"; im Zentrum seiner Geschichte stehen zwei schwule wetteifernde Hypochonder und ein gemeines Furunkel. Robert Gottlieb porträtiert George S. Kaufman, den "vermutlich größten Hitschreiber" in der Geschichte des Broadway. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Joke" von Roddy Doyle.

Elizabeth Kolbert stellt Fritz Ringers neue Max-Weber-Biografie vor. Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem Sammelband amerikanischer Comics vor 1945 und einer Geschichte des Zeichentrickfilms. Alex Ross sieht mit dem Wechsel von James Levine von der New Yorker Met zu den Bostoner Philharmonikern "eine neue Ära" anbrechen. Und David Denby sah im Kino "Kinsey", die Filmbiografie des Sexualwissenschaftlers Alfred C. Kinsey mit Liam Neeson in der Hauptrolle.

Nur in der Printausgabe: eine Reportage über die Suche nach Menschen auf der Flucht, ein Fan verabschiedet sich von der Oper, und Lyrik von Yehuda Amichai.
Archiv: New Yorker

Prospect (UK), 01.12.2004

Im Gespräch mit dem ehemaligen polnischen Verteidigungsminister Radek Sikorski äußert sich ein siegeszufriedener Paul Wolfowitz zur Bedeutung der Bush-Wiederwahl und versucht, seine - vornehmlich europäischen - Widersacher in Widersprüche zu verstricken: "Der Widerspruch besteht doch darin zu behaupten, die Tatsache, dass man den Menschen erlaubt, ihr Regime frei zu wählen, bedeute, ihnen unsere Vorstellungen aufzuzwingen. Es gab da einen wundervollen Moment bei einer Konferenz über die arabische Welt hier in Washington. Jemand sagte, es sei arrogant von uns, der arabischen Welt unsere Werte aufzuzwingen, und ein Araber stand auf und antwortete, es sei arrogant zu sagen, dies seien unsere Werte, weil sie doch universelle Werte seien."

In seinen Notizen aus der Londoner U-Bahn widmet sich Dan Kuper den Selbstmördern und wundert sich, warum der Todessprung vor den einfahrenden Zug so beliebt ist. So verlässlich wie allgemein angenommen sei diese Art des Selbstmordes nämlich keineswegs, ganz zu schweigen davon, dass man dabei die oft völlig traumatisierten U-Bahn-Fahrer vergesse. Doch "nicht alle Springer sind rücksichtslos. In einer Londoner U-Bahn-Station wurde ein Mann dabei beobachtet, wie er einen Umschlag auf dem Bahnsteig hinterließ, bevor er sich vor einen Zug stürzte. Als Leute den Umschlag öffneten, fanden sie eine 20-Pfund-Note und ein Stück Papier, auf dem zu lesen war: 'Sagen Sie dem Fahrer, es tut mir Leid. Das ist für ihn - für einen Drink.' "

Weitere Artikel: "Ich befehle Euch nicht, zu kämpfen. Ich befehle Euch zu sterben." Auch solche geflügelten Worte sind es, die Atatürk zum türkischen Nationalhelden gemacht haben. Jonny Dymond nähert sich dem Kult um den vergötterten Säkularisten. Andrew Brown rammt das neue Flaggschiff der britischen Regierung in Sachen Schulpolitik. Private Schulträger sollen in den sogenannten "academies" bessere Erziehungsbedingungen gewährleisten. Doch was tun, wenn die Schulträger - wie im englischen Conisbrough - beabsichtigen, Kreationismus zu lehren? Julian Evans gratuliert Christopher Booker zu seinem Buch "The Seven Basic Plots" und plädiert für eine Rückkehr zur narrativen Kultur. Und Simon Schaffer war in Cragside (mehr hier) zu Besuch und erklärt, was das Haus, das als erstes auf der Welt mit elektrischem Licht erleuchtet wurde, so revolutionär macht.
Archiv: Prospect

Outlook India (Indien), 29.11.2004

Pramila N. Phatarphekar hat den Postboten Khetaram auf seinen meilenweiten Gängen durch die Wüste Thar begleitet, zu Haushalten, die durch ihn an ihre Familien angeschlossen bleiben. Und an die spärlichen Tropfen von Geldströmen, die anderswo fließen. "Etwa 120 Kilometer hinter der letzten Bahnstation im Barmer, 50 Kilometer hinter dem letzten Telefon und zehn Kilometer hinter der Stelle wo die Barmer-Chohtan-Straße unvermittelt im Sand verläuft, der so fein ist, dass nicht einmal Fahrräder weiterkommen, dort erscheinen die Fußabdrücke des 55-jährigen Khetaram zwischen Sandtälern und Dünen. Nur sein körperlicher Einsatz stellt sicher, dass die Post - vom Postzug auf Busse weitergeleitet, bevor sie auf seine Schulter geladen wird - innerhalb von 24 Stunden ab dem 330 Kilometer entfernten Jodhpur - bis zur 2,5 Kilometer entfernten indisch-pakistanischen Grenze ausgetragen wird."

S. Anand widmet sich in der Titelgeschichte dem Thema, das Indien dieser Tage in Atem hält: den Hintergründen der Verhaftung von Jayendra Saraswati, der mächtigsten klerikalen Figur des Hinduismus, der beschuldigt wird, den Mord an Sankararaman Anantakrishnasharma, einem früheren Funktionär seines Tempels in Auftrag gegeben zu haben. Der hatte seit Jahren auf finanzielle Unregelmäßigkeiten im Kanchi Shankara Math aufmerksam gemacht und beabsichtigte nach Informationen der Polizei, mit Enthüllungen über Saraswati an die Öffentlichkeit zu gehen. (Hier ein Interview mit Saraswati über das Verhältnis zwischen Hinduisten und Moslems aus dem Juli 2003)

Schließlich zwei Rezensionen: Sam Miller hatte eine weitere Hagiografie und jede Menge "hyperbolischen Quatsch" erwartet und ist daher angenehm überrascht, dass das von Rajiv Mehrotra herausgegebene Buch "Understanding the Dalai Lama" nüchterne Einblicke in das Leben des 14. Dalai Lama bietet, der sich ja im Übrigen selber gar nicht als Inkarnation Buddhas betrachte. Und Sandipan Deb gibt sich nicht der Illusion hin, dass Indien auf knapp dreihundert Seiten zu erfassen wäre, doch "The Granta Book of India", eine Sammlung von Reportagen, Erzählungen und Erinnerungen, komme dem Unmöglichen doch so nahe, wie es geht.
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Dalai Lama, Fahrräder, Fahrrad, Buddha

Espresso (Italien), 25.11.2004

Alessandra Mussolini könnte mit ihrer kleinen Rechtspartei Liberta di Azione die anstehenden Regionalwahlen entscheiden. Deshalb wagt niemand in Italien, die Enkelin Musslinis anzugreifen, erklären Marco Damilano und Denise Pardo. "Alle tun so, als würden sie den Odeur des Faschismus nicht wahrnehmen, sie schließen ihre Augen vor den hakenförmigen Flaggen auf ihren Wahlveranstaltungen und ihren Freunden von der Straße, die bisher als nicht vorzeigbar galten, und sie schlucken das Märchen vom mitfühlenden und gereiften Mussolinismus: bis hin zur Linken ist es quasi unmöglich, jemanden zu finden, der Klartext redet."

"Die Niederlande lebten in einem künstlichen Frieden", meint der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun und drängt auf eine forcierte Integration der europäischen Muslime. Die Werbespots der neuen Generation sind längst nicht mehr nur lästige Unterbrechungen des Fernsehprogramms, folgert Ambra Somaschini aus einer Studie. Regisseur Spike Lee schwärmt im Anschluss von seinem Gandhi-Spot (hier kann man ihn runterladen) für die italienische Telecom. Eleonora Attolico gratuliert Sylvie Vartan zum Sechzigsten. Cesare Balbo stimmt uns auf den cineastischen Advent ein, unter anderem mit "Bad Santa", produziert von den Coen-Brüdern (hier das Drehbuch).

Der Titel beschäftigt sich mit einem kulturellen Großereignis: Der aktuelle Pirelli-Kalender ist da. Der Espresso bringt alle Monatsschönheiten exklusiv, und Enrico Arosio informiert über die wichtigen Details.
Archiv: Espresso

Plus - Minus (Polen), 20.11.2004

Das Thema der ukrainischen Präsidentschaftswahlen beschäftigt weiterhin die polnische Presse. Bohdan Osadczuk berichtet im Magazin der polnischen Rzeczpospolita aus Kiew über die neue Mobilisation im Land: "Auf dem Platz der Unabängigkeit blieb eine Menschenmenge zurück, die wie im Londoner Hyde Park bis zum Umfallen diskutierte. Und hier wurde die Veränderung in der bislang eingeschüchterten und faulen ukrainischen Gesellschaft sichtbar. Die Menschen, wenigstens in Kiew, haben keine Angst mehr. In ihren Augen sah man Mut. Der homo sovieticus verschwand." Angesichts dieser positiven Entwicklungen ist die Reaktion und das Interesse des Westens enttäuschend. "Außer der Hilfe aus Polen können die ukrainischen Demokraten nur auf sich selbst zählen. Kein westlicher Staatsmann, keine Partei im Westen, nicht mal in den USA haben einen Finger gekrümmt, als Putins Russland durch sein einseitiges Engagement für den regimetreuen Kandidaten die Souveränität der Ukraine angetastet hat."

Gibt es einen modernen Patriotismus? Ja, doch, sagt der Publizist Marcin Krol. "Es ist das Recht, andere in mein Haus zu lassen, und das Recht, sie nicht reinzulassen, auch wenn sie dieses Recht reklamieren. Natürlich muss ich jenes Recht auch anderen zuerkennen, die mich je nach Belieben reinlassen können oder nicht. Es gibt nicht mehr die eine Interpretation des Polnisch-Seins (als ob es sie je gegeben hätte!) und es gibt nicht mehr die eine Gruppe, die eine Ideologie, die eine politische Haltung oder die eine Religion, die zu dieser ausschließlichen Auslegung berechtigen würde. Der moderne Patriotismus ist somit unausweichlich pluralistisch, was nicht heißt, dass alle Werte und alle Interpretationen identisch und gleichwertig sind".
Archiv: Plus - Minus

Economist (UK), 19.11.2004

Es ist nichts Außergewöhnliches, dass sich nach einer Wahl die unterlegene Partei die Wunden leckt und sich Erklärungen für ihr Scheitern zurechtlegt, meint der Economist. Doch warnt er die amerikanischen Demokraten davor, sich mit dem Mythos zu trösten, George Bush habe die Wähler zu Tode geängstigt und sie so zu seiner Wiederwahl getrieben: "Diese Erklärung ist gefährlich, weil sie ein gewisses Maß an Wahrheit enthält. Sicherlich wurden die Wahlen vor dem Hintergrund der Angst ausgetragen (schließlich sind islamische Fanatiker darauf versessen, so viele Amerikaner wie möglich zu töten). Und die Republikaner haben die Angst-Karte sicherlich mit Genuss ausgespielt (so wie übrigens auch die Demokraten - erinnern wir uns an die Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht). Doch um eine nützliche Lehre aus ihrer Demütigung zu ziehen, müssen die Demokraten erkennen, dass die Republikaner sie nicht nur auf dem Terrain der Angst geschlagen haben. Sie haben sie in puncto Hoffnung abgehängt." Wenn sie dies nicht begreifen, prophezeit der Economist, werden die Demokraten nicht ins 21. Jahrhundert finden, sondern sich in eine Partei des 19. Jahrhunderts zurückverwandeln.

Ein ausführlicher Artikel ist den Reformbemühungen der Vereinten Nationen und dem "Forum der Weisen" gewidmet, das von Generalsekretär Kofi Annan einberufen und mit einem Reformpapier in Sachen Angriff und Verteidigung beauftragt wurde. Obwohl die Veröffentlichung des Berichts noch bevorsteht, hat der Economist schon einen Blick darauf werfen können und findet das Ergebnis zwar nicht revolutionär, aber fruchtbar, zumal sich die Weisen auf eine Definition von Terrorismus einigen konnten.

In weiteren Artikeln ist zu lesen: wie sehr das wiedereröffnete MoMA überzeugen kann, wie Chinas Medien sich der westlichen Welt öffnen, wie virtuelle Anstandsdamen sexuelle Belästigung in Arztpraxen verhindern sollen und wie sich der amerikanische Angriff auf Falludschah auf die Austragung von Wahlen im Irak auswirken kann. Schließlich noch der hübsche Nachruf auf Scheich Zayed bin Sultan al-Nahayan, Gründer der Vereinigten arabischen Emirate und durch und durch arabischer Patriarch mit Hollywood-Flair .
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 19.11.2004

Vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen ist Tim Flannery über "The Ancestor's Tale", in dem der Zoologe und Charles Simonyi Professor of the Public Understanding of Science in Oxford, Richard Dawkins, die Evolution rückwärts erzählt und zwar im Stil von Chaucers "Canterbury Tales"! "Einer der interessantesten Aspekte", findet Flannery, "ist Dawkins Sicht auf die Bedeutung der Mode in der Evolution. Für Dawkins ist sie nichts Flüchtiges, sondern entscheidend für die Ausbildung neuer Spezies. Dies erklärt er mit seinen Überlegungen zum aufrechten Gang. Dawkins glaubt, dass unsere Vorfahren nur bei bestimmten Gelegenheiten aufrecht gingen (wie Gorillas und Schimpansen auch heute noch ), doch dann, in der Linie, die zu uns führte, 'kam die Mode des aufrechten Gangs auf, und zwar so plötzlich und launisch, wie Mode dies nun mal tut. Es war ein Gimmick... Ein bewunderter oder dominanter Affe erlangte sexuelle Attraktivität und sozialen Status durch seine ungewöhnliche Virtuosität, auf zwei Beinen zu stehen. Andere imitierten diese Angewohnheit und es wurde cool, das Ding...'"

Weiteres: Richard Davenport-Hines feiert zwei Familiengeschichten, die ziemlich eindrücklich den "viktorianischem Sadismus" schildern: Christopher Simon Sykes "The Big House" und Alexander Waughs "Fathers and Sons": "Sir Tatton Sykes senior, ein robuster Mann vom Lande, der jeden Morgen Hammelfett auf Stachelbeertorte, dunkles Bier und Sahne frühstückte, peitschte seinen ältesten Sohn dafür aus, dass er so weibisch war, eine Zahnbürste zu besitzen und seine Hemden öfter als zweimal in der Woche zu wechseln. Sir Tatton Sykes junior wurde ein erbärmlicher, hoffnungsloser Hypochonder, dessen Leben von einer Reihe unangenehmer Obsession beherrscht wurde, darunter eine exklusive Milch-Pudding-Diät. Seine erschreckend unglückliche Ehe kulminierte in einem wilden Gerichtsprozess und einem unglaublichen Akt rachsüchtiger Gewalt von Sir Tatton gegen seinen einzigen Sohn Mark. Sir Tattons Zeitgenosse Arthur Waugh, ein Arzt aus Somerset, war ein Sadist, der, als er einmal eine Wespe auf der Stirn seiner Frau sah, mit der Elfenbeinspitze seiner Peitsche zuschlug, um sicherzugehen, dass sie auch ja gestochen werde. Die Muster seiner Grausamkeit überlebten in seinen Ahnen: Evelyn Waughs Gefühlskälte erscheint kaum normal, und Auberon Waughs eingefleischte Verachtung trug auch nicht gerade zum menschlichen Glück bei."

Weiteres: Ronald Wright lüftet einige Geheimnisse der Osterinseln, rätselt aber weiter darüber, warum die Bewohner ihre Bäume gefällt haben. David Hawkes stellt Gregory M. Colon Semenza Buch "Sport, Politics and Literature in the English Renaissance" vor.

Nouvel Observateur (Frankreich), 18.11.2004

In seinem neuen Essay "La Mort dans l'oeil" (Maren Sell Editeurs) geißelt Stephane Zagdanski das Kino als "habgierige Industrie", die auf einer "hypnotischen und manipulativen" Ideologie basiere. Sein Rundumschlag reicht von den Brüdern Lumiere bis zu "Matrix", außerdem beschimpft er "große Theoretiker" des Kinos wie Elie Faure oder Gilles Deleuze. Besonders scharf greift er Jean-Luc Godard an: Dieser sei gewissermaßen die "Inkarnation der cinephilistischen Anmaßung". Der Obs lud Godard und Zagdanski zu einem Streitgespräch, das zwei Stunden dauerte und an dessen Ende die beiden als "die besten Feinde der Welt" schieden. In dem Gespräch gibt es auch eine sehr seltsame Passage über den Holocaust: "J.-L. Godard: - Zu den Todeslagern hat selbst so jemand wie Hannah Arendt gesagt: 'Sie haben sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen.' Ich denke eher im Gegenteil: Sie haben Israel gerettet. Im Grunde gab es sechs Millionen Selbstmordattentäter. - S. Zagdanski: - So würde ich das nicht sagen. - J.-L. Godard: - Die sechs Millionen haben sich gerettet, indem sie sich geopfert haben. Die Filme, die man darüber machen müsste sind nie gemacht worden. - S. Zagdanski: - Ich bin überhaupt nicht einverstanden."
(Bei France Culture können Sie das ganze auch hören)

Vorgestellt wird außerdem ein über 1.300 Seiten starker Band mit Briefen von Marcel Proust (Plon).

Al Ahram Weekly (Ägypten), 18.11.2004

Thema Nummer eins ist weiterhin Jassir Arafat: Mahmoud Darwish schreibt einen Nachruf, in dem er die symbolische Bedeutung der Figur Arafats als Survivor hervorhebt: Sein Überleben war das Überleben der Palästinenser und ihres Kampfes im Angesicht von Niederlagen. "Etwas von ihm", schreibt Darwish, "ist in jedem von uns. Er war der Vater und der Sohn: der Vater einer ganzen historischen Epoche der palästinensischen Menschen, und ihr Sohn, dessen Rhetorik und Image sie mit hervorbrachten."

Hani Shukrallah beschreibt den Populismus Arafats - seine Nähe zu Volk und Land - als seine Stärke und große Schwäche. Und Noam Chomsky unterzieht die Nachrufe und Analysen in der New York Times und dem Boston Globe - die wichtigste und die liberalste der großen amerikanischen Zeitungen - einem close reading und interpretiert sie als Lehrstück über die Macht der Geschichtsschreibung.

Dazu ein ausführlicher und hochinteressanter Artikel über den Mythos des reinrassigen Araber-Hengstes - eine ägyptisch-britische Koproduktion - und die Welt der modernen Pferdezucht mit ihren Standbeinen in der Genetik und der Mythologie: Jenny Jobbins verfolgt das arabische Zuchtpferd durch viertausend Jahre menschlicher Geschichte.
Archiv: Al Ahram Weekly

Gazeta Wyborcza (Polen), 20.11.2004

Jaroslaw Kaczynski von der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit", ein konsequent antikommunistischer Hardliner, forderte unlängst ein Verbot der postkommunistischen Regierungspartei SLD, jetzt setzt er einen drauf. Im Interview mit der Gazeta Wyborcza fordert er die Einrichtung einer neuen Super-Behörde gegen Korruption, die Schaffung eines neuen Geheimdienstes ohne ex-kommunistische Funktionäre und eine "Kommission der Wahrheit und Gerechtigkeit", mit eigenen Staatsanwälten und ausgebauter Sanktionsmacht. "Für mich waren die Gespräche am Runden Tisch nur nötig, um die Solidarnosc zuzulassen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass wir mit den Kommunisten eine Abmachung über eine Abolition unterschreiben".
Archiv: Gazeta Wyborcza

New York Times (USA), 21.11.2004

Das kann sich nur noch die New York Times Book Review erlauben. Eine Ausgabe, die ausschließlich der Poesie gewidmet ist! Acht Dichter (die meisten davon Universitätsprofessoren) und ein Kritiker diskutieren im Symposium über ihre persönlichen Favoriten der vergangenen 25 Jahre. Mary Karr (hier ein Interview mit Salon.com und eine launiger Text im New Yorker) etwa wählt den polnischen Kollegen Zbigniew Herbert und seinen "Bericht aus einer belagerten Stadt", denn: "Herberts Gedichte sind Slapstick für Intellektuelle und Philosophie für die Ungebildeten." Und sie macht Herbert ein schönes Kompliment: "Er bringt Marmorstatuen zum Atmen."

Leon Wieseltier stöbert in Yehuda Amichais (mehr) nachgelassenen Materialkisten und übersetzt einige Fundstücke, deren angemessene Übersetzung zweiten Grades wir uns wiederum nicht zutrauen. David Yezzi preist den jüngst verstorbenen Anthony Hecht (hier lebt er noch), der "mit dem Bild einer öden Landschaft das Spektrum der Menschlichkeit einfangen konnte".

Aus den Besprechungen: Emily Nussbaum liest "American Smooth", Gedichte von Rita Dove, die den Glamour als Maske und als Form des Widerstands verhandeln. Christian Wiman empfiehlt James Merills "elegante" Prosasplitter (erstes Kapitel) eher dem autobiografisch interessierten Leser, der wahre Merill sei nach wie vor in seinen Gedichten zu finden. Die Erfahrung, Czeslaw Milosz zu lesen, "ist mit die lohnendste Beschäftigung, die man sich vorstellen kann", jubelt Meghan O'Rourke angesichts der Sammlung "Second Space" (Auszug) des im August dieses Jahres verstorbenen Poeten.

Im New York Times Magazine erklärt Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek Deborah Solomon im Interview, warum die europäischen Intellektuellen politisch engagierter sind als die amerikanischen. "Je kleiner eine Gruppe ist, desto leichter ist es für mehr Leute, zu argumentieren und sich in die Diskussion einzuschalten. Die USA sind riesig. Sie sind zu groß. Die Intellektuellen verstecken sich in Enklaven, in Großstädten oder Universitäten, wie ein Haufen Hühner, die sich vor dem Fuchs verstecken."

Die weit verbreiteten Antidepressiva wie Prozac stehen nun im Verdacht, die Selbstmordrate bei Jugendlichen zu begünstigen, schreibt Jonathan Mahler in der voluminösen Titelreportage des Magazins. Die Medikamente verhelfen dem Patienten zu mehr Energie und Tatendrang, fatalerweise aber manchmal schon, bevor sich die Stimmung bessert. Sie nicht mehr zu verschreiben könnte aber eine noch größere Gefahr bedeuten, befürchtet Mahler. "Laut Dr. John Mann, Selbstmordexperte an der Columbia Universität, haben weniger als 20 Prozent der 4000 Jugendlichen, die in den USA jedes Jahr Selbstmord begehen Antidepressiva eingenommen."

Weiteres: Jim Holt sieht in den Rechten der Bundesstaaten eine Chance, sich dem Zugriff Bushs und des Weißen Hauses zu entziehen. Matt Bai beschreibt die letzten 24 Stunden vor der Wahlniederlage John Kerrys aus der Ohio-Zentrale der Pro-Kerry-Wahlinitiative America Coming Together. Und Ta-Nehisi Coates stellt Jin Auyeung vor, das seltene Exemplar eines US-chinesischen Rappers.
Archiv: New York Times