Außer Atem: Das Berlinale Blog

Moderne Erziehungsmethoden in Jean-François Caissys 'La marche à suivre' (Forum)

Von Anja Seeliger
12.02.2014. Zurichtung des rebellischen Geistes oder liebevolle Einbläuung moralischer Richtlinien? Das ist die Frage in Jean-François Caissys Doku über eine Schule in der kanadischen Provinz.


Zuerst sieht man die gelben Busse und die weit in die majestätische Landschaft gestreckten Gebäude, vor denen sie halten. Eine Fabrik? Ist es nicht, sondern eine Schule, wie sich schnell herausstellt. Minutenlang beobachten wir, wie die Kinder zielstrebig aus den Bussen in die Schule strömen. Alle haben es eilig. Man muss sich am Ende an dieses Bild erinnern, weil es doch zeigt, dass es offenbar kein großes Widerstreben gegen dieses Gebäude gibt.

Mir ging das anders. Über 76 Minuten zeigt Jean-François Caissy in seiner Doku "La marche à suivre" die Schüler aus einer kanadischen Provinz, alle im Teenageralter. Er zeigt sie beim Fußballspielen (die Jungs), Paintballspielen (die Mädchen), Schwimmen und Laufen. Vor allem aber zeigt er sie, wie sie einzeln vor ihrem Sozialpädagogen oder einem Lehrer sitzen, zu dem sie bestellt waren. Die Erwachsenen sieht man - mit einer Ausnahme - nie. Man sieht nur die Jugendlichen, die auf Ermahnungen oder Vorhaltungen reagieren.

"La marche a suivre", das heißt in etwa "Richtlinien", und darum geht es. Kinder, die andere geschlagen oder tyrannisiert haben, Drogen nehmen oder immer wieder den Unterricht stören, wird deutlich gemacht, dass ihr Verhalten unakzeptabel ist. Und das ist es tatsächlich. Das ein oder andere Mal ist auch ein Opfer vorgeladen, dass erzählt, ob sich die Situation verbessert. "Die Schule", heißt es im Begleittext zum Film, "interessiert hier weniger als eine wissensvermittelnde Institution, sondern ist die letzte Einflussmöglichkeit der Gesellschaft auf ihre Kinder. So wie sie hier kollektiv gegen Krankheiten geimpft werden, wird auch die moralische Richtschnur des gesellschaftlichen Miteinanders für sie aufgespannt."



Das dies getan wird, ist verständlich. Die unsichtbaren Pädagogen machen eigentlich alle einen guten Eindruck. Sie schreien nicht, machen keine Vorwürfe, aber sie lassen auch nicht locker und zwingen den Betreffenden immer wieder, sich mit seinem Verhalten, und der Wirkung, die es hat, auseinanderzusetzen. Es ist auch interessant, jedenfalls eine Zeitlang, die Gesichter der Jugendlichen zu beobachten, ihre Ausweichstrategien, auf die sie so stolz sind. Und hier liegt die Crux des Ganzen: Sie haben überhaupt keine Chance. Früher hätte der Lehrer sie vielleicht zusammengebrüllt oder - noch früher - versohlt und dann wäre die Sache erledigt gewesen, jedenfalls bis zum nächsten Mal. Hier, an dieser Schule, gibt es überhaupt keine Fluchtmöglichkeiten für den rebellischen Geist mehr.

Immer wieder werden sie zum Gespräch aufgefordert. Und immer müssen sie am Ende selbst einsehen, dass sie einen Fehler gemacht haben. Der Fehler muss immer zugegeben werden. Die gute Pädagogik sieht irgendwann wie schwarze Pädagogik aus. Eine Tyrannei des Geistes, eine gut gemeinte Zurichtung junger Menschen, die immer abstoßender wird, je länger man zusieht. Es ist ganz bestimmt nicht Absicht dieses Films: Aber ich frage mich am Ende doch, ob eine Ohrfeige hier und da nicht kinderfreundlicher wäre.

Anja Seeliger

La marche à suivre - Guidelines. Regie: Jean-François Caissy. Kanada 2014, 76 Minuten (Forum, alle Vorführtermine)