Siegfried Kracauer

Frühe Schriften aus dem Nachlass. 2 Teilbände

Werke in neun Bänden, Band 9
Cover: Frühe Schriften aus dem Nachlass. 2 Teilbände
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004
ISBN 9783518583494
Gebunden, 804 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Herausgegeben von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Mit dieser Ausgabe wird das Werk des Schriftstellers, Philosophen, Soziologen und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer (1889-1966) erstmals umfassend zugänglich gemacht. Neben bereits erschienenen Schriften Kracauers enthält die Ausgabe auch eine Vielzahl von bisher unbekannten Texten sowie Studien, Entwürfe und Varianten aus dem umfangreichen Nachlass. Alle Texte werden kritisch durchgesehen und kommentiert. Die Frühen Schriften aus dem Nachlass vereinen sechs unveröffentlichte Arbeiten aus den Jahren 1912 bis 1920, in denen Kracauer sich mit philosophischen Problemen, künstlerischen Strömungen und sozialen und politischen Fragen der Zeit auseinandersetzte. Dazu gehört die wichtige Studie über seinen Lehrer, den Philosophen und Soziologen Georg Simmel und die kritische Studie über die zeitgenössische "Kulturbewegung" des Expressionismus, die - wie alle Werke Kracauers - angesichts der wachsenden Bedeutung der Kulturwissenschaften auch gegenwärtigen Diskussionen entscheidende Impulse geben kann.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 11.12.2004

Als der, der er wurde, ist Siegfried Kracauer in seinen hier im Doppelband versammelten philosophischen Frühschriften noch nicht recht zu erkennen, stellt Uwe Justus Wenzel erst einmal fest. Arg metaphysisch geht es noch zu, der Wunsch zur Tat münde darüber hinaus generationentypisch im Willen zum Krieg im Jahr 1914. Es gärt in Kracauer, das sagt er selbst, eine eigene Philosophie, gefunden aber hat er sie, zwischen seinem Lehrer Georg Simmel und transzendentaler Obdachlosigkeit, noch nicht. Es ist in den hier versammelten Schriften die eher kulturkonservative Rede vom "Drang des Wissensübersättigten nach dem ihm verloren gegangenen inneren Kräftegleichgewicht", von der Fatalität eines "entgotteten Werdens" und Ähnlichem. Das wird man, so Wenzel, "Schwulst" nennen dürfen - und ein bisschen staunen lernen darüber, wie Kracauer in den zwanziger Jahren dann nicht mehr von oben herab auf die Menschen schaute, sondern "auf Augenhöhe". Zur Ausgabe, die mit diesem Doppelband fortgesetzt wird, kann der Rezensent nur unumwunden feststellen, dass sie "rühmenswert" ist.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 17.08.2004

Den Eindruck einer Disparität der Kracauerschen Schriften, also eines Expertentums auf verschiedenen Ebenen - Musik, Film, Soziologie, Kulturtheorie -, hatte die alte Werkausgabe nach Meinung von Ralf Konersmann nicht zerstreuen können. Die neue Werkausgabe, wie sie nun begonnen wurde, werde sich dieser Frage erneut stellen müssen, insistiert der Rezensent. Immerhin ist die aktuelle Werkausgabe umfassender als die alte, informiert er; allerdings seien die aus dem Nachlass ausgewählten Texte des jungen Kracauer nicht unbedingt dazu angetan, ihn "als eigenständigen Denker hervortreten zu lassen". Kracauer erweise sich darin nicht etwa als Adept der Kritischen Theorie, der er meist "als Denker der zweiten Reihe", so Konersmann, zugeschlagen werde, sondern als Bewunderer des Kulturphilosophen Georg Simmel. Kracauer erhebt Simmel zum Vorbild wie Gegenstand zugleich, resümiert der Rezensent, der die Meinung vertritt, Kracauers Kritik an Simmels philosophischer Urteilsenthaltung sei nicht als Distanzierung zu verstehen. Eher für eine Entdeckung hält er den Beitrag "Leiden unter dem Wissen", der noch zur Zeit des Ersten Weltkriegs entstanden ist und auf bemerkenswerte Weise, findet Konersmann, einen Bewusstseinswandel bei dem anfangs kriegsbegeisterten Kracauer ausdrückt. Insgesamt haben die frühen Texte Kracauers eher den Charakter von "akademischen Exerzitien", meint Konersmann etwas abfällig klingend, die der persönlichen und zeitgeschichtlichen Verständigung dienten.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 27.05.2004

"Der Suhrkamp Verlag und die Leser haben einen großen Autor wiedergewonnen", preist Rezensent Thomas Meyer diese Werkausgabe von Siegfried Kracauer. Als großes Verdienst rechnet er den Herausgeberinnen Ingrid Belke, Sabine Biebl und Mirjam Wetzel an, dass sie sich nicht mit den "üblichen Archivrecherchen" begnügt haben, sondern "Tausende von schwer erreichbaren Details zu Filmen zusammengetragen, die zum Teil nicht mal mehr in Kopie existieren". Am bedeutendsten scheint ihm bei diesen frühen Schriften Kracauers Schrift zu Georg Simmel, die jetzt erstmals komplett vorliegt. Meyer sieht darin einen "erstaunlichen Beitrag zur geistigen Situation der Zeit" und zeigt sich überzeugt von Kracauers Misstrauen gegenüber den antirationalen Bestrebungen und jeglichen Formen religiöser Erneuerung. Brillant findet Meyer darüber hinaus auch die Analysen zu den "theoriegesättigten Gegenwartsdiagnosen" von Ernst Troeltsch und Karl Mannheim sowie zum antidemokratisch-nationalistischen Gewaltchauvinismus" von Ernst Jünger und Frank Thieß.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.05.2004

Mark Siemons berichtet, dass es Siegfried Kracauer zu Lebzeiten nicht gelungen war, auch nur eine der hier nun abgedruckten philosophischen Abhandlungen vollständig zu veröffentlichen. Und der Rezensent hat auch eine Erklärung dafür. Man habe den Eindruck, schreibt Siemons, der Kontakt mit Georg Simmel habe Kracauer "enthemmt, was die Überführung persönlicher Gedanken und Empfindungen in großräumige Theorien" betrifft, nicht aber "diszipliniert, diese Wucherungen auch formal und empirisch zu erden." Aber der Rezensent hat auch eine Erkenntnis gewonnen: ohne den "selbstquälerischen Ernst" der hier jetzt dokumentierten Anfänge hätten Kraucauers spätere Erkundungen der profanen Welt, meint Siemons, "vermutlich auch nicht ihre bis heute nachbebende Vibration" erlangen können.
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