Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulrike Ackermann (Hg.): Welche Freiheit. Teil 3

26.02.2007.
Dieses "mehr und mehr" stellte allerdings keine Garantie gegenüber dem unberechenbaren Verhalten eines Unzufriedenen dar, der auf einmal "Nichteßbares" wollte, und dies nicht etwa für sich selbst (wie der hochverdiente General Hryhorenko, der Gerechtigkeit für die Krimtataren forderte, obwohl er selbst keinerlei Verbindung zu ihnen hatte), und so fand man eine einfache Erklärung: er ist verrückt geworden. Und die Götzendiener in Weiß diagnostizierten bereitwillig eine bisher in der Geschichte der Psychiatrie unbekannte Krankheit: "schleichend verlaufende Schizophrenie"? Das alles geschieht nun nicht etwa aus bösem Willen oder gar aus Dummheit, nein, so ist nun einmal die marxistische Konzeption des Menschen, die man für die Religion eingetauscht hat. "Das Wertvollste, das der Mensch besitzt, ist das Leben." Aha, tatsächlich? und die Seele? Die Seele wurde gestrichen: "Popengewäsch!" (V.I. Lenin) Na gut, mag so sein, aber wie steht es mit einem reinen Gewissen, Achtung, Würde? Vergeßt es! "Moralisch ist, was dem Sieg des Proletariats dient." (V.I. Lenin). Das ist alles. Basis und Überbau, wenn es was zu essen gibt, gibt?s auch was zu singen. Alles klar? Ach ja, richtig, und Hauptsache: Frieden. Noch Fragen?! Dann weg-trrreten!
Die erste dokumentarische Erinnerung daran, als diese einfache und glasklare, in ihrer Eindimensionalität verführerische Weltanschauung begann, die Massen zu beherrschen, fand ich in den Aufzeichnungen von Aleksandra Tolstoj, datiert auf das Jahr 1916, als die Gräfin als freiwillige Krankenschwester in einem Hospital arbeitete. Dort hörte sie zum ersten Mal von den Bolschewiken, die mit ihrer Propaganda zersetzend auf die Einheiten an der Front wirkten. Ein junger Leutnant erzählte heulend, wie sein Kamerad starb. Bereits schwer verwundet kommandierte er noch "Feuer!", doch keiner der Soldaten regte sich, da kroch der Offizier Blut spuckend selbst zum Maschinengewehr, wo er schließlich im feindlichen Kugelhagel starb.
Die Soldaten kommentierten dann diese in ihren Augen heldenhafte Tat: "Schau nur wie den Offizieren dieser Krieg nützt, selbst verwundet kriechen sie noch zum MG!"
Das war der Beginn und zwölf Jahre nach dem offiziellen Ende des Bolschewismus als Regierungsform erscheint ebenfalls ein Bursche, diesmal auf dem Bildschirm, der zwar keine Goldschnitt verzierten Bände der "bärtigen Klassiker" auf den Armen hat, den Anwesenden dafür aber mit hellseherischer Ruhe erklärt, in voller Übereinstimmung mit seinen "klassischen" Lehrern, was für die Menschen "immer zuerst kommt". "Was solln denn hier irgendwelche Ideen?" Was für ein abgehobens Gelaber, Jungs?
Und die Jungs stimmen ihm schweigend zu. Sie wurzeln auch dort, an der Front des "kämpferischen Materialismus", und daß die Menschen noch etwas anderes motivieren kann, vermögen sie sich nur nebelhaft vorstellen.
"Du hast gewonnen." Ende des dritten Intermezzos.


- "Ihr seid furchtbar zynisch." Dies war die Antwort eines bekannten Amerikaners, der über ein Jahr in der Ukraine gearbeitet hatte, auf die Anfrage, "in aller Kürze das ukrainische Wesen" zu charakterisieren. Ich erinnerte mich dabei an einen Eintrag im Tagebuch des Schriftstellers Tjutjunyk: "Warum, Alterchen, seht ihr so elend aus?" Der Alte hörte auf zu essen und sagte: "Weil wir so verschreckt sind."
Warum wir so zynisch sind? Weil wir erbärmlich sind.
Nicht im Sinne der Finanzen, unsere Arbeit ernährt uns schon, aber unsere Herzen sind arm, und wir vermögen noch nicht, sie wieder ordentlich zu ernähren. Wir haben zu lange "ordentlich gegessen", waren zu lange an das Montageband gekettet, und als man uns dann von der Kette in die Freiheit entließ, wußten wir einfach nicht, was man in Freiheit noch alles machen könnte, außer ordentlich zu essen und sich zu vermehren, und in dieser äußersten Eindimensionalität machten wir weiter: satter, schmackhafter, betrunkener und bequemer, als es die früheren Generationen hatten. Jene, die Anfang der 1990er zum ersten Mal die Grenzen des großen Knast? durchbrachen, fielen in Ohnmacht, als sie 50 Käsesorten in den Supermärkten sahen?
Woher sollen wir wissen, was man vom Leben noch haben kann außer Luxus und Posten, deshalb verdächtigen wir augenzwinkernd auch jeden, der für sein Anliegen demonstrieren geht: "klarer Fall, der kriegt Geld dafür"; und wenn wir in der Zeitung lesen, daß in Europa eine Sitzblockade auf einer Baustelle für eine neue Startbahn stattfindet, um die von dieser Startbahn bedrohte Flora zu schützen, da grinsen wir nur schief und sagen: "dem Bourgeois geht?s zu gut" (wie allen Elenden scheint es auch uns stets, daß die anderen mehr haben, satter, schmackhafter usw., und deshalb mögen wir sie nicht). Dieses angeborene Mißtrauen gegenüber den Motiven menschlichen Handelns, die keinen unmittelbaren Nutzen bringen, d.h. eine bereits klinisch anmutende geistige Erbärmlichkeit, erscheint als primäres und eindeutiges Merkmal für den Verlust des "Freiheitsgens" im nationalen Genotyp. In die Freiheit entlassen, blieben wir dennoch unfrei, auch in den Fällen, in denen einzelne bis ganz oben auf der sozialen Leiter kletterten.
Selbst als wir die Unabhängigkeit bekamen (bewußt sage ich nicht "erlangten" oder gar "erkämpften", denn um die Freiheit gekämpft haben in historischer Hinsicht zuletzt die Kämpfer der Ukrainischen Partisanen Armee vor einem halben Jahrhundert, und die Eruption, die Hunderttausende in den Jahren 1990/91 auf die Plätze und Straßen der Ukraine warf, ist im gewissen Sinne ein entferntes, über die Generationen weitergetragenes Beben ihrer vereinten Anstrengungen), also selbst, als wir die Unabhängigkeit bekamen, wurden wir nicht zu dem, was Hegel eine "historische Nation" nennt, das heißt zum Urheber unseres Geschicks. Wir tragen nichts zur Schwerkraft der Geschichte bei, unsere Aufgabe ist es, herumzuspringen und sich an Haken zu hängen, die andere zu uns herablassen, sei es Amerika, sei es Russland oder sei es die untere Hierarchie der "eigenen Banditen da oben", welcher gerade, Hand aufs Herz, interessiert uns gar nicht mehr, da wir fremdbestimmt sind, weder Herren im eigenen Land noch über das eigene Leben. Ja, mit den Herren wurde in diesem Land vor gut 70 Jahren im Hunger-Holocaust Schluß gemacht.


Hier würde nun ein hübsch pointiertes Finale passen, doch mein armes, von der Hitze gar gekochtes Hirn hat seine Ressourcen erschöpft - mir ist der Kaffee ausgegangen, eine unabdingbare Ressource zur Wiederherstellung der Hirntätigkeit, und ich beschloß in den Supermarkt um die Ecke zu gehen. Daneben befindet sich ein Kindergarten und dort blieb ich, von einem seltsamen Schauspiel wie gebannt, stehen: In Begleitung zweier Erzieherinnen tappelten völlig schweigsam, aber doch schnaufend in der Hitze, im Gänsemarsch vier- bis fünfjährige Kinder mit Sonnenhüten. Ich blickte genauer hin und bemerkte außer dem für eine Kinderschar ungewöhnlichen Schweigen noch eine weitere groteske Disharmonie, jedes Kind hielt seinen Vordermann am Kleid oder der Hose fest, so daß sich dieser Gänsemarsch der Kinder mit ausgestreckten Armen und nach vorne geneigten Körpern, gebückt, in der Hüfte geknickt, wie Breughels "Die Blinden" ausnahm?
Ich erinnerte mich, daß man auf genau die gleiche Weise - "Ruhe! Kein Geschwätz! Achtung!" - auch mich Mitte der 1960er im Kindergarten "zu gehen" zwang. Zwei Wochen nach meinem ersten, vorsätzlichen Trotz, d.h. jeden Abend Weinen und Bitten: "Ich will morgen nicht in den Kindergarten! Bitte, bitte!" gaben meine Eltern auf und suchten mir ein Kindermädchen. Dafür bin ich ihnen auf ewig dankbar. Wer weiß, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte man mich gezwungen, wie ein Roboter herumzulaufen.
Ich stellte mir vor, wie eine Gruppe kleiner Deutscher, Holländer, Schweden und Franzosen im Museum, Omnibus oder in der U-Bahn herumflattern, zwitschernd wie eine Schar Spatzen, die nach allen Seiten auseinander schwirren und sich gleich darauf wieder artig, entsprechend einem nur ihnen bekannten Flatterplan wie auf Ã"sten niederlassen. Diese liebenswerten Begegnungen, so oft man sie erlebte, riefen außer einem gerührten Lächeln tief im Unterbewußten auch einen schmerzhaften Neidreflex hervor: ihre Kinder wurden nicht gezwungen, wie Roboter herumzulaufen.
Der stumme Gänsemarsch der abgerichteten kleinen Ukrainer in kurzen Hosen und Sonnenhüten trabte an mir vorbei, ihre demütige Unbeholfenheit schnitt mir ins Herz (ein kleines Mädchen konnte nicht richtig im Gleichschritt gehen und war fortwährend einmal zu schnell, dann wieder zu langsam im Tritt) und schließlich verschwanden sie durch das vergitterte Tor des Kindergartens. Und Punkt.
Und Ende. So dachte der unerbittliche Autor in mir, da hattest du ein pointiertes Finale deines Essays. Thema ausgeschöpft. Gleichzeitig mit diesem Gedanken drang ein bekanntes, rostiges Quietschen an mein Ohr, die Erzieherin schloß hinter sich das Tor.

(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Matthes & Seitz
(copyright Matthes & Seitz)


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