Vorgeblättert

Leseprobe zu Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Teil 1

06.09.2010.
(S. 25 ff)

Körper und Ehre

Eine kurze Geschichte der Ohrfeige

Die Ohrfeige ist schon eine Sache, die in die Geschichte eingegangen ist. (Beate Klarsfeld in einem Interview)

Die Ohrfeige zwischen Symbol und Körperstrafe


Am 14. Januar 2000 ereignete sich auf der kenianischen Insel Lamu ein Vorfall, der bald die Gerichte, die deutsche Presse und nicht zuletzt die Regenbogenblätter beschäftigen sollte. Ernst August Prinz von Hannover, der auf der Urlauberinsel ein Ferienhaus besitzt, war mit einem Discothekenbesitzer in Streit geraten. Ernst August warf dem Wirt schon lange vor, seine Nachtruhe durch laute Musik und einen Lichtlaser zu stören. Am besagten 14. Januar nun kulminierte der Streit. Wie das Landgericht Hannover im Jahr 2004 feststellte, hatte der Prinz seinen Gegner von Helfern festhalten lassen und dann mit einer Art Schlagring derart verprügelt, dass das Opfer mit mehreren Rippenbrüchen und verletzter Lunge ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Ernst August wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 445.000 Euro verurteilt und galt seitdem als vorbestraft.
     Der Prinz ließ das nicht auf sich sitzen. Er fühlte sich durch die Anschuldigung in seiner Ehre gekränkt, wie er mehrfach verlauten ließ, und strengte ein Wiederaufnahmeverfahren vor dem Landgericht Hildesheim an. Tatsächlich habe er nämlich seinen Gegner nicht verprügelt, auch keine Gehilfen dazu mitgebracht und keinen Schlagring benutzt, sondern sei, als er den Discothekenwirt am Strand gesehen habe, lediglich spontan zu ihm gegangen und habe ihm zwei Ohrfeigen verpasst, je eine rechts und links, und zwar mit den Worten: "One for the music, one for the light." Es handele sich also, so die Rechtsvertreter des Prinzen, nicht um eine gefährliche Körperverletzung, sondern allenfalls um eine "tätliche Beleidigung".2 Gleich in doppelter Weise ging es dabei um die Ehre: Zum einen sah der Prinz durch die Verurteilung seine Ehre bedroht und wollte sie wiederhergestellt sehen. Und zum anderen wurde die Ohrfeige von ihm nicht als Gewalttat, sondern bloß als Angriff auf die Ehre des anderen, nämlich als Beleidigung eingestuft.
     Nun ist eine Ohrfeige offenkundig und sichtbar ein Akt physischer Gewalt. Aber eine Ohrfeige wird zugleich als etwas anderes verstanden. Unabhängig davon, ob sie besonders brutal oder nur als milder Backenstreich ausgeführt wird, erscheint sie an erster Stelle als Demütigung. Der Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht des Gegenübers ist eine Attacke auf die Ehre des Menschen schlechthin: Die Ohrfeige, die ja ohne Hilfsmittel, ohne Instrument oder Waffe, ausgeführt wird, zerstört die vom Anstand gebotene Distanz zwischen den Körpern. Die geschlagene Person wird in einem ganz elementaren Sinn wenigstens für einen Moment ihrer Souveränität und Autonomie beraubt und bloßgestellt. Der Geohrfeigte verliert sein Gesicht.
     Die Ohrfeige ist dabei ein kleines Stück Alltagskommunikation. Sie folgt unausgesprochenen Regeln, sie ist eine Gegengabe, die auf ein - reales oder vermeintliches - Fehlverhalten reagiert, vor allem auf eine Beleidigung. Sie soll in der Regel nicht Beginn einer Auseinandersetzung sein, sondern diese beenden, indem sie die Ordnung, die Hierarchie, zumindest die moralische Hierarchie, wiederherstellt. Und sie soll das tun, indem sie eben das Gegenüber erniedrigt. Deshalb konnte sie umgekehrt auch genutzt werden, um ein Duell zu erzwingen. Wenn die Duell-Forderung abgelehnt wurde, konnte man, dafür bietet das 19. Jahrhundert zahlreiche Beispiele, durch eine gezielte Ohrfeige den Gegner so demütigen, dass er nun dem Duell ohne nachhaltigen Ehrverlust nicht mehr ausweichen konnte. Die Ohrfeige folgt in diesem Modell also einem Kalkül. Sie ist insofern rational, doch kann sie Emotionen suggerieren und imitieren. Und sie kann schließlich auch wirklich von Emotionen motiviert sein oder sogar spontan in emotionaler Eruption erfolgen. Die Ohrfeige ist außerordentlich vieldeutig.
     Geohrfeigt wird aber häufig nicht unter Gleichrangigen, in Status und Ehre Ebenbürtigen, sondern von oben nach unten. Wer das nicht beachtet oder gezielt durchbricht, will die Hierarchie umdrehen, und zwar nicht oder nicht bloß die soziale, sondern die moralische Hierarchie. Mithin ist die Ohrfeige auch eine symbolische Gabe, sie steht im Unterschied zum Attentat, das das Leben des Feindes vernichten oder beschädigen will, für die symbolische Abstrafung, für die Delegitimation, die Denunziation, die Bloßstellung. Dies auch dann, wenn sie die realen Gewaltverhältnisse auf den Kopf stellt, also wenn beispielsweise die durch eine unziemliche Annäherung eines Mannes unangenehm berührte Frau den Aggressor ohrfeigt.
     Die Ohrfeige, oder genauer: die Frage, wer wen ohrfeigt und was dabei als zulässig, legitim, verwerflich oder sogar strafbar eingeschätzt wird, sagt also sehr viel aus über Hierarchien und Herrschaft in der Gesellschaft, über Ehrverständnis und Beleidigungsfähigkeit, nicht zuletzt auch über Geschlechter- und Generationenverhältnisse. Nicht umsonst wird seit über hundert Jahren in der pädagogischen Literatur gestritten, ob - abgesehen von der bloßen körperlichen Züchtigung - der Ohrfeige quasi eine besondere Dignität im Erziehungsprozess zukommt, die sie gerade nicht als bloße Gewalt oder Körperstrafe erscheinen lässt, sondern als Form der liebevollen Zuwendung und pädagogischen Fürsorge für das unmündige Wesen, dessen Obhut man übernommen hat. Das deutet an, dass die Ohrfeige per se, auch wenn sie nicht im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern angesiedelt ist, eine pädagogische Symbolhandlung ist, die erst durch die Tatsache ihrer Ausführung die quasi vormundschaftliche Rolle des Ohrfeigenden und die Erziehungsbedürftigkeit des Geohrfeigten herausstellt. Gerade darin liegt ihre moralische und ehrverletzende Wirkung, wenn sie einem Erwachsenen gilt.
     Die Ohrfeige hat längst metaphorische Bedeutung bekommen. In einem Buch mit dem Titel Ohrfeige für die Seele geht es mitnichten um physische Gewalt, sondern darum, wie man mit Kränkungen umgeht.3 Wenn in der Presse zu lesen ist, jemand habe eine Ohrfeige, gar eine schallende Ohrfeige erhalten, so hat er diese im wörtlichen Sinn gerade nicht bekommen, sondern irgendeine Niederlage hinnehmen müssen, die als ehrenrührig verstanden wird. Besonders gern wird das Wort von der schallenden Ohrfeige in der Fußballberichterstattung verwendet. Bremen, so konnte man im September 2008 in der Presse lesen, "versetzte Klinsmann gleich fünf schallende Ohrfeigen". Die im Grunde doch rätselhafte Äußerung - eine Stadt verabreicht Ohrfeigen? - war indes jedem Leser sofort verständlich: Gemeint waren fünf Tore bei der 2:5-Niederlage Bayern Münchens und damit die Demütigung des Bayern-Trainers Jürgen Klinsmann, die Genugtuung der nichtbayerischen Fußballwelt. Jenseits solcher Alltagsbefunde hat die Geschichte der Ohrfeige einen harten Kern, eine ernsthafte Seite. Die gilt es auf verschiedenen Ebenen zu eruieren, auf der Ebene der realen Nutzung im Rahmen des Strafens, dabei auch auf der Ebene des pädagogischen Einsatzes gegenüber Kindern und auf der Ebene der literarischen und metaphorischen Deutung und der politischen Instrumentalisierung.
     Lexikalisch ist die Ohrfeige schwer zu erschließen: Der Brockhaus kennt sie nicht, und Wikipedia führt zwar das Stichwort, verzichtet aber auf eine nähere historische Abhandlung. Immerhin nennt Wikipedia zahlreiche Synonyme umgangssprachlicher und landsmannschaftlicher Art, zum Beispiel "Watschn", "Backpfeife", "Maulschelle" und "Backenstreich". In letzterem Begriff spiegelt sich im übrigen, dass auch der Begriff "Ohrfeige" auf "Ohrfeg", das heißt Streich oder Hieb auf das Ohr, zurückgeht.6 In anderen Sprachen (engl.: slap, franz.: une gifle, une claque) ist die Ohrfeige übrigens schon begrifflich nicht so aufgeladen wie im Deutschen; sie scheint, selbst wenn sie Aufsehen erregt, weniger mit dem Gefüge von Ehre und Demütigung verbunden zu sein.
     Die historisch-begriffliche Erfassung der Ohrfeige ist umso schwieriger, als der "Backenstreich" zugleich einen positiven Akt der Mündigwerdung markieren, also als Teil von rites de passage erscheinen kann. In dieser Form kennt ihn auch der Brockhaus: Der Backenstreich als "Schlag mit der flachen Hand auf die Wange" begleitete demnach symbolisch den Akt der Freilassung eines römischen Sklaven, die "Wehrhaftmachung von Knappen" und die "Ernennung des Lehrlings zum Gesellen". Und auch das Sakrament der Firmung, die vollständige Aufnahme katholischer Kinder in die Kirche im Alter von etwa zwölf Jahren, wird unter anderem durch einen leichten Backenstreich symbolisch dargestellt. Insofern hat sich die ehrverleihende Kraft der Ohrfeige in Spurenelementen bis heute erhalten. Volkskundler weisen im übrigen darauf hin, dass Ohrfeigen im älteren Volksglauben auch eine vor Übel schützende oder sogar heilende Kraft zugesprochen wurde, zumal wenn ein Herrscher sie Kranken verabreichte. Und das Grimmsche Wörterbuch ebenso wie das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte führen noch weitere Bedeutungsvarianten aus dem Rechtsleben auf. Dazu zählten der Grenzumgang und die Setzung eines Grenzsteines, wobei Knaben an den Ohren gezupft oder ihnen eine Ohrfeige verabreicht wurde, erstens um Grenzen einzuprägen, zweitens um den Vorgang der Grenzsetzung selbst unauslöschlich in Erinnerung zu halten, drittens schließlich um ihn formal zu bezeugen. Die Ohrfeige machte den Geohrfeigten, der auch noch Geschenke erhalten konnte, zum Geschäftszeugen. Sie konnte dabei die Urkunde ersetzen: Eine Rechtsangelegenheit wurde eben "hinter die Ohren geschrieben". In Richard Wagners Meistersingern von Nürnberg aus dem Jahr 1867 spricht Hans Sachs:

Weil wir die Weise wohl vernommen,
sind wir zur Taufe hierher gekommen.
Auch daß wir zur Handlung Zeugen haben,
ruf? ich Jungfer Lene und meinen Knaben.
Doch da?s zum Zeugen kein Lehrbube tut
und heut? auch den Spruch er gesungen gut,
so mach? ich den Burschen gleich zum Gesell;
knie nieder, David, und nimm diese Schell?!
(David ist niedergekniet: Sachs gibt ihm eine starke Ohrfeige.)
Steh? auf, Gesell?, und denk? an den Streich;
du merkst dir dabei die Taufe zugleich!

Ohrfeigen in diesen Bedeutungsvarianten, als heilender oder weihevoller Akt der Aufnahme in einen höheren Status, das heißt auch als Akt der Vermittlung von Ehre, oder als Teil einer Bezeugung und Beurkundung sollen hier nicht weiterverfolgt werden, zumal sie in der Moderne an Funktion verlieren und eben nur noch, wie die Firmung zeigt, in Spuren ablesbar sind. Die Ohrfeige als Erinnerungsmal allerdings, wie es ja auch bei Hans Sachs anklingt, wird noch von Interesse sein. Hier geht es um die Ohrfeige als Demütigung - und auch um Versuche des Opfers, durch die demonstrative Hinnahme der Ohrfeige die Demütigung umzukehren und den Ohrfeigenden zu demütigen. Die Ohrfeige ist dabei eine Art von Bestrafung, doch dies in der Regel nicht formalisiert: Denn in der Geschichte der Prügelstrafe als "eine der ältesten und verbreitetsten Arten der Leibesstrafen" taucht die Ohrfeige nur am Rande auf.
     Zur Erläuterung ist ein Blick auf die Prügelstrafe erforderlich. Denn auch die Prügelstrafe war immer mit Statusdifferenz und Ehrverhältnissen verbunden: In der Antike, bei den Germanen, wie Tacitus sie beschreibt, sowie noch in der fränkischen Zeit des frühen Mittelalters galt sie den Unfreien. Freie dagegen wurden selten der Prügelstrafe unterworfen, eben weil diese zugleich als ehrverletzend eingestuft wurde. Diese Einschätzung blieb, auch als seit dem 12. Jahrhundert die Anwendung der Prügelstrafe ausgeweitet wurde: Städtische Unterschichten, Außenseiter und Kleinkriminelle, jugendliche Delinquenten waren bevorzugte Opfer der Prügel. Die öffentliche Züchtigung durch den Henker, der sogenannte Staupenschlag, bedeutete nämlich Ehrverlust (Infamie). Einem körperlichen Züchtigungsrecht unterlagen auch das Gesinde und hörige Bauern. Beim Gesinde blieb es - mehr oder minder umstritten - noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches erhalten. Im Rahmen des Züchtigungsrechtes stand dem Hausherrn auch die Möglichkeit offen, durch körperliche Züchtigung nicht nur die Kinder, sondern die eigene Frau für Verfehlungen zu bestrafen, nicht zuletzt bei Ehebruch. Zedlers Universal-Lexikon drückte das im Jahr 1732 im Beitrag über die Ohrfeige deutlich und differenziert aus:

Also wenn ein Mann seine Frau erstlich mit Wortten strafft, sie aber die Warnung ihres Mannes nicht in Consideration ziehet, so kan er ihr auch wol eine Ohrfeige geben, jedoch darff er hierinnen nicht excediren, und kan eine Frau wegen einer Ohrfeige, so ihr der Mann gegeben, nicht auf die Ehescheidung klagen, besonders, wenn sie schuld dran ist; Ist sie hingegen nicht schuld dran, so wird der Mann seines Ehe-Rechts beraubt, und wenn er excediert, kan auch wol die Scheidung von Tisch und Bett dazu kommen. [?] Wenn sich hingegen eine Frau, dem Manne Ohrfeigen zu geben, unterstehet, so kan er ihr auch mit dergleichen begegnen, auch noch wol mit einer gelinden Übermaaß.

     Explizit abgeschafft wurde das Züchtigungsrecht des Ehemanns erst im 19. Jahrhundert, am frühesten wohl in Preußen 1812. In der Frühneuzeit kam die Prügelstrafe als Disziplinarmittel im Militär hinzu; auch hier galt sie nur dem gemeinen Soldaten; der Offizier, gar der adlige Offizier, wäre durch die Prügelstrafe unrettbar entehrt worden. Mit dem entstehenden Nationalismus und der allgemeinen Wehrpflicht, die jeden Mann gleichsam als Verkörperung der Nation aufwertete, ging es im frühen 19. Jahrhundert auch mit der Stockstrafe des Militärdisziplinarrechts zu Ende. Preußen machte 1811 den Anfang; für bestimmte Verfehlungen konnten aber noch Stockschläge verabreicht werden. Im Grunde war das allerdings widersinnig: Wer den einzelnen Soldaten prügelte, schlug gewissermaßen auf die Nation ein.

Teil 2