Virtualienmarkt

Heidelberger Zement

Von Rüdiger Wischenbart
27.05.2009. So fremd wie Kardinal Lehmann die Koexistenz mit anderen Gottesauffassungen ist dem Heidelberger Appell die Idee von Informationsbehältern ohne Deckel - dabei haben die digitalen Inhalte den Buchmarkt längst revolutioniert.
Denen, die nicht aufmerksam zu lesen verstehen, tritt in der FAZ dieser Tage der eloquente systematische Theologe Friedrich Wilhelm Graf ziemlich burschikos in den Schritt: Nichts weniger als ein "infamer Brief" ist ihm das Schreiben des Kardinal Lehmann an den hessischen Ministerpräsidenten Koch mit seinem Ansinnen, den hessischen Kulturpreis nicht gemeinsam mit dem muslimischen Schriftsteller Navid Kermani entgegen nehmen zu können. Was Graf empört ist, dass Lehmann und sein evangelischer Mitstreiter Steinäcker nicht einmal bemerkt hätten, "dass sie großen integrationspolitischen Schaden angerichtet haben."

Wer würde, einigermaßen nüchtern, solch einen Streit um die höchsten geistlichen Symbole, in einem Atemzug nennen mit den mondänen Streitigkeiten um Urheberrechte, Bücher, digitale Kulturen und Geschäfte? Wohl kaum jemand, hätte es nicht in den nämlichen Feuilletonseiten unlängst einen flammenden Appell in diesen weltlichen Angelegenheiten gegeben, der ganz ähnliche Saiten angeschlagen hätte: "Unsere Kultur ist in Gefahr". Auch hier wird das Ende eines zentralen Stranges abendländischen Selbstverständnisses verkündigt, nicht weniger apokalyptisch als in Sachen religiöser Symbole, auch wenn zugegebenermaßen kein Kardinal, sondern (nur?) ein Professor der Literaturwissenschaft, Roland Reuß, die Stimme bis zum Kippen erhob.

Grundsätzlich freut mich ja solche Debatten-Euphorie, solch ein Bauchaufschwung der Publizisten, die öffentlich und ungeschützt, also angreifbar über Wohl und Wehe der Werte und der Gesellschaft nachdenken. Und beide Themen verbindet, ganz praktisch bedacht, tatsächlich ein wichtiges Moment: Hier wie dort hat der Alltag Fundamente der so genannten "gewachsenen" Kultur unterlaufen.

Die christlichen Kirchen (plus ihrer dem Judentum geschuldeten Bereitschaft zum Dialog) sehen sich einer weiteren Buchreligion ausgesetzt, aus der plötzlich ebenso ernsthafte wie autonom und selbstbewusst formulierte Weltbestimmungen zu einer unerwarteten Konkurrenz erwachsen.

Die Institutionen der Buchkultur - und die Klammer über das Buch ist kein Zufall - sehen sich ebenso Perspektiven wie Praktiken gegenüber, die losgelöst von ihren eigenen Institutionen sind (also Buchhandel, Verlagen, Bibliotheken, Verbänden). Und sie schreien laut auf.

Mit diesen Praktiken meine ich allerdings nicht den illegalen Gebrauch von urheberrechtlich geschützten Buchinhalten, also Piraterie - die spielt in Europa eine ziemlich untergeordnete Rolle. Es geht, ähnlich wie bei den Kirchen, viel mehr um Abweichungen in der grundsätzlichen Lehre, in der "doxa".

Was ist ein Buch? Welchen Preis hat ein Buch? Welche - privilegierte oder nicht privilegierte - Stelle haben Bücher im kulturellen Austausch - also, als Medium und Austauschformat im Wertediskurs - dieser Gesellschaft? Gibt es Verschiebungen in den Interessenskonstellationen? Wie verhalten sich die angestammten Träger des Systems? Was dürfen und was müssen neue Akteure? Wer gewinnt? Wer verliert?

Wer in klassischen Lexika der vergangenen zwei Jahrhunderte den Begriff des Buchs nachschlägt, wird verblüfft sein, dass von der ach so kontrovers diskutierten besonderen Stellung des Buches für die Kultur in all den Definitionen kaum die Rede ist. "A book is a non-periodical printed publication of at least 49 pages, exclusive of the cover pages, published in the country and made available to the public?, heißt es, ebenso schlicht wie pregnant in der schon 1964 verabschiedeten Definition der Unesco, die genau betrachtet gut auch heute noch taugt, e-Book inklusive. (Zu einer detaillierteren Auseinandersetzungen mit Definitionen und Rahmenbedingungen rund ums Buch siehe hier)

Dogmatische Kontroversen sind stets Interessenskämpfe, so wie auch das Urheberrecht - in den Worten des Juristen Alfred Noll bei der Jahresversammlung des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels in der Vorwoche in Schladming - stets eine "Tochter der Zeit" gewesen ist, und somit dem Druck zur Veränderung unterliegt.

Es ist gewiss nicht nur legitim, wenn zentrale Strukturen wie auch Besitzstände in der Organisation unserer Kultur wie auch der daraus erwachsenen Wissensgesellschaft von deren Repräsentanten gegenüber Kräften der Veränderung verteidigt werden. Im Beharren liegt auch umso mehr Vernunft, als zwischen Bestand und Innovation auch ein vehementer Konflikt gegenläufiger Geschwindigkeiten herrscht: Der Aufbau einer Bibliothek (oder der Backlist eines Verlages) benötigt Jahrzehnte, wenn nicht mehr. Die Innovation indessen besteht ganz wesentlich in der Beschleunigung, etwa aktuell, wenn es darum geht, solche gewachsenen Wissensbestände - mit großer Beschleunigung - besser zugänglich zu machen.

Nichts taugt jedoch weniger, diesen Konflikt der Interessen und Geschwindigkeiten aufzulösen als die Konfrontation um die Herrschaft über den Kulturbestand, oder das Einfrieren eines Rechtsstatus gegenüber jeder Anpassung.

Wer praktisch und genau hinsieht, bemerkt schon jetzt, dass das Problem ganz woanders liegt. Das "Buch" war zumindest seit Gutenberg die universelle Klammer - der universelle Container - für komplexes, aufbereitetes Wissen im Abendland. Im "Buch" wird zusammengefasst, was gedacht, gesammelt, vermittelt wird. Autoren verfassen dieses Wissen, Verlage formatieren und vermitteln es, und Buchhändler vertreiben es, mit einem festen Preis pro Stück.

Gut zwei Drittel dieses Verlagshandels aber, von Fachinformation bis Bildung, leben längst primär von digitalen Inhalten (bei den international führenden Konzernen sind es bis zu 80 Prozent!), und nicht mehr einzelne Einheiten (zum Beispiel Bücher) werden verkauft, sondern alle Arten von Abonnements. Nur im dritten Drittel, bei Belletristik, Sachbuch, Kinderbuch, gelten die alten Regeln und Strukturen, doch selbst hier wächst der Druck zur Diversifizierung und Fragmentierung. Nachdem ich Harry Potter an der Tanke und Bastelbücher über den Baumarkt angeboten bekomme, ist der Tag nahe, dass ich elektronische Bücher per Flatrate, wie Musik, am Handy um 5 Euro pro Monat mitnehme. Und die tolle literarische Entdeckung aus Ungarn oder China wird nur noch verlegt, wenn die Übersetzungskosten gefördert sind.

Das ist allerdings, wie schon oft in dieser Rubrik dargelegt, nicht das Ende der Kultur, sondern ein Umbruch, eine Neuordnung, kurzum ein Neubeginn viel mehr als ein Ende. Wäre ich so verärgert wie Friedrich Wilhelm Graf, fände ich keinen besseren Schlusssatz als er: "Aber nicht einmal das haben diese Lesekünstler gemerkt."

Rüdiger Wischenbart