Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2002. Die SZ analysiert den französischen Antiamerikanismus. In der FR gibt Bruce Ackerman der deutschen Kritik an der Bush-Regierung recht. Die NZZ erinnert an die Bedeutung der Teezeremonie im politischen Leben Japans. Die taz meldet, dass das geplante Deutsche Zentrum für Fotografie in Berlin wohl nicht zustande kommen wird. Die FAZ beklagt die Überalterung der Hochkultur.

SZ, 16.10.2002

Johannes Willms ist der Meinung, dass "zu den gleichsam konstitutiven Eigentümlichkeiten des französischen Wesens (...) ein besonders ausgeprägter Antiamerikanismus" gehört. Feindbilder, so Willms, werden aber "zur eigenen Entlastung" gebraucht und bedienen "sich einer Vermeidungsstrategie", die darauf "abzielt, den eigenen Problemen und Komplexen nicht ins Gesicht zu schauen, respektive deren Ursachen zu ergründen oder gar auf Änderung zu dringen." Willms hofft auf eine baldige Entzauberung des französischen Antiamerikanismus und empfiehlt dazu zwei jüngst erschienene Studien: "L'Obsession anti-americaine. Son fonctionnement, ses causes, ses inconsequences" (Verlag Plon, Paris) von Jean-Francois Revel und "L'Ennemi Americain. Genealogie de l'antiamericanisme francais" (Verlag Seuil, Paris) von Philippe Roger.

Weitere Artikel: Sonja Zekri freut sich, dass heute endlich die neue Bibliothek in Alexandria eröffnet wird. In einem Gespräch mit Susan Vahabzadeh erklärt Schauspieler Jeff Bridges, was ihn so sehr am Film "K-Pax" gereizt hat. Roswitha Budeus-Budde hat sich mit der Jugendbuchpreisträgerin Alexa Henning von Lange über ihre Kindheit und das Schreiben unterhalten. Tim B. Müller hat dem neu eröffneten Heidegger-Museum in Meßkirch einen Besuch abgestattet. Jürgen Berger schwärmt von der neuen Mannschaft des Badischen Staatstheaters.

Florian Welle hat eine Tagung in München besucht, die dem unbekannten Schriftsteller Wolgang Koeppen auf der Spur war. Robert Jacobi beschäftigt sich mit der Zukunft des Internets. "Schö" meldet, dass Claus Peymann den Nestroy-Theaterpreis doch nicht will. "Cjos" fragt nach Geschichtsschreibern, die sich der NS-Vergangenheit des Holtzbrinck-Verlags widmen könnten. In der Popkolumne widmet sich Karl Bruckmaier dem amerikanischen Sänger und Pianisten Andy Bey. In der Kolumne findet "Jby", dass Christina Weiss in der neuen Regierung einfach fehl am Platz ist - denn da bleibt ja alles beim Alten.

Auf der Medienseite berichtet Klaus Ott über die kläglichen Einschaltquoten des deutschen Auslandsfernsehens "German TV".

Besprochen werden Krystian Lupas Bulgakov-Adaption auf den Berliner Festwochen, Homero Franceschs Klavierkonzert in München, Iain Softleys Film "K-Pax", die New Yorker Kinokömodie "Der Super-Guru", die Ausstellung "Living in Motion" im Berliner Vitra Design Museum, die Retrospektive "Dan Graham Werke 1965-2000" in der Düsseldorfer Kunsthalle und Bücher, darunter Reclams Lexikon der Bibelzitate und ein Buch zu Thomas Hardy.

NZZ, 16.10.2002

Urs Schoettli erinnert an die Bedeutung und politische Relevanz der Teezeremonie in der japanischen Tradition indem er auf Kakuzo Okakura verweist, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem 'Buch vom Tee' zu den "vornehmsten Protagonisten einer Rückbesinnung auf japanische Werte" gehörte. Okakura hatte "Japans Triumph über die geradezu barbarische Pragmatik des Westens, die in der Meiji-Restauration über eine Vielzahl von Avenuen Eingang in die japanische Zivilisation erhalten hatte, in der in der Teezeremonie realisierten ästhetischen Überhöhung des Tees" gesehen, schreibt Schoettli. Heute verliere jedoch die Teezeremonie als "Religion der Lebenskunst" zunehmend an Bedeutung und die "Konvention der Selbstbeschränkung", die sich darin spiegele, werde über Bord geworfen.

Das anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums der Konzilseröffnung letzte Woche stattgefundene Treffen hochkarätiger Bischöfe und Theologen in Mainz hat Jan-Heiner Tück besucht. Er kommt zu dem Schluss, dass es nicht mit einer "vagen Berufung auf den Geist des Konzils" getan ist, sondern besonders in den Texten die bedeutenden Anstöße und Perspektiven zu finden sind. "Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils besteht darin, eine unverkrampfte Selbstvergewisserung aus den Quellen der eigenen Überlieferung mit einem geschärften Sensorium für die Zeichen der Zeit verbunden zu haben."

Weitere Artikel: Paul Jandl war auf dem Symposium des Wiener Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften, das sich der Ergründung des Marsyas-Mythos gewidmet hat, "an dessen metaphorischem Reservoir von Gewalt, Macht und Schmerz sich seit der Antike Kunsttheorien exemplifizieren lassen und mit dessen Hilfe der Künstler in anhaltender Gültigkeit sein Selbstbild entwerfen kann." Von der Klassikproduktion im Rahmen des globalen Marktes und der Bedeutung des Künstlerkonktakts bericht Max Nyffeler.

Besprochen werden Werner Nekes' Sammlung zur Mediengeschichte der Moderne im Museum Ludwig in Köln; die Ausstellung Berliner Projekte von Urs Füssler im Architekturmuseum in Basel; die anlässlich der Eröffnung der Salzburger Kulturtage aufgeführte Oper "Tristan und Isolde"; zwei CDs von Richard Strauss und Bücher, darunter ein Buch von Abdelwahab Meddeb und eins von Avraham Barkai und ein Roman von Banana Yoshimoto (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 16.10.2002

So berechtigt auch die Sorgen um die transatlantischen Beziehungen sein mögen - Bruce Ackerman, Professor für Recht und Politische Wissenschaft an der Universität Yale, ermahnt die Europäer zur Geduld, "denn es könnte sein, dass sich die Bush-Regierung bald als Episode, als eine kurzfristige Verirrung erweist." Geduld heiße jedoch nicht Untätigkeit. In der Tat begrüßt Ackerman den deutschen Widerstand: "Gewiss, so mancher Amerikaner wird sich fragen, was ausgerechnet die Kinder und Enkel der Nazis berechtigt, Lehren über die Moralität des Krieges zu erteilen. Doch andere werden einen anderen Standpunkt einnehmen: Wenn es ein Volk gibt, das die Gefahren der Hybris kennen gelernt hat, dann sind es die Deutschen. Es mag sein, dass sie etwas übertreiben, diesen Fehler bei anderen wahrzunehmen, nachdem sie die desaströsen Folgen dieses Haltung selbst erfahren haben. Doch ihre Warnungen verdienen eine ernsthafte Prüfung. Und wenn sie helfen, eine europäische Kritik am amerikanischen Unilateralismus zu entwickeln, dann kann dies auch den Amerikanern selbst helfen, eine kritische Position gegenüber Bushs Außenpolitik zu entwickeln."

Weitere Artikel: Joachim Staron berichtet, dass der Hamburger Prozess um Friedrich Engel, den SS-Chef von Genua, Italien mit seiner Vergangenheit als Opfer und Täter des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Ina Hartwig gratuliert Günter Grass zum 75. Geburtstag. Rolf C. Hemke berichtet vom Londoner Theaterherbst, auf dessen Bühnen sich schicke Hollywood-Größen wie John Hurt, Glenn Close und Emily Watson tummeln. In Times mager sinniert Adam Olschewski über bösartige Feuilleton-Texte und ihre unsanften Folgen. In einer dpa-Meldung heißt es, dass Claus Peymann den ihm verliehenen Wiener Nestroy-Theaterpreis zurückgegeben hat, aus Protest gegen das "provinzielle Gezeter" um die Preisverleihung, und dass er wünscht, in Zukunft keine österreichische Ehrung zu erhalten.

Auf der Medienseite kommentiert Annette Riedel Klaus Sterns Dokumentarfilm "Andreas Baader - der Staatsfeind". Hans Dembowski hat in Fareed Zakaria, dem indischen - und muslimischen - Chef der "Newsweek", überraschenderweise einen Bush-Sympathisanten entdeckt und "Hbb" berichtet über den gestrigen Streik des Pariser Zeitungsvertriebs.

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst nach Kunst" im Neuen Museum Weserburg in Bremen, Stephen Craigs Feng-Shui-Architektur im Krefelder Haus Lange, eine Günter Grass gewidmete Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, die Uraufführung von Maxim Billers "Kühltransport" in Mainz, ein Konzert von Kindersängern aus Rajasthan in Mainz und ein litauischer Liederabend mit Vilma Pigagaite im Internationalen Theater Frankfurt.

TAZ, 16.10.2002

Brigitte Werneburg berichtet, dass das "einst als Luxusliner geplante Deutsche Centrum für Photographie (DCP)" in Berlin offenbar schon versenkt worden ist. Hat doch auch seine guten Seiten, meinte sinngemäß Peter-Klaus Schuster, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, auf einer Pressekonferenz: Gäbe es das DCP, "wäre man womöglich mit der wunderbaren Ausstellung 'Ansel Adams at 100' (mehr hier und hier) auf Grund gelaufen. Nur weil die Ausstellung von der Kunstbibliothek in der Nationalgalerie für das DCP veranstaltet würde, so Peter-Klaus Schuster, der in diesem Bandwurm der Zuständigkeitsbeschreibung 'ein deutliches Zeichen der Probleme' bemerkte, habe Berlin tatsächlich den Zuschlag erhalten." Die Ausstellung läuft noch bis 5. Januar 2003. Und fragen Sie jetzt nicht, wo.

Einen "Glücksfall" nennt Harald Fricke Johannes Holzhausens Dokumentarfilm "Auf allen Meeren" über die ehemalige sowjetische Kriegsflotte: "Auf den Spuren des 1994 eingemotteten Flugzeugträgers 'Kiew' fächert Holzhausen elegant und ohne jeden Kommentar die Geschichte vom Niedergang der einstigen militärischen Supermacht auf. Der letzte Kapitän der 'Kiew' schnitzt Buddelschiffe an Bord, während seine Matrosen das 350 Meter lange Monstrum nach recycelbaren Gütern absuchen.

Besprochen werden weiter Marcels Odenbachs Video-Retrospektive im Frankfurter Kunstverein, und neue Bücher, entweder "kurz besprochen" oder lang, wie Margot McKinney-Bouchards Biografie einer deutschen 'Kriegsbraut'.

Auf der Medienseite unterhält sich Steffen Grimberg mit dem Medienforscher Lutz Hachmeister über die anstehenden Münchner Medientage. Laut Meldung übernimmt Wolfgang Storz, bisher stellvertretender Chefredakteur, die Chefredaktion der "Frankfurter Rundschau". Bis 2005 muss der Mann 150 Stellen in der FR streichen.

Schließlich TOM.

FAZ, 16.10.2002

In der Hochkultur dominieren die Alten, sowohl unter ihren Produzenten als auch im Publikum, konstatiert Gerhard R. Koch: "Die generelle Überalterung in den westlichen Industriegesellschaften schlägt sich in der Sphäre der Hochkultur besonders nieder; geht die Entwicklung weiter, dann wird das E-Musik-Publikum so ausgedünnt, dass in zwanzig Jahren der herkömmliche Konzertbetrieb kaum mehr aufrechtzuerhalten ist." Was man nun tun soll, weiß Koch nun allerdings auch nicht: "Anarchische Traditionsverweigerung ist genauso fatal wie Vergötzung des Vergangenen. Der Kult um die 'Großen Alten', so beeindruckend diese auch sein mögen, ist kein gutes Zeichen für die derzeitige Kultur."

In Freiburg dagegen tut sich was: Martin Halter singt eine kleine Hymne auf die unbändige Tatkraft der neuen Theaterintendantin der Stadt, der 38-jährigen Amelie Niermeyer: "In der fabelhaften Welt der Amelie soll das Theater neu erfunden werden: junge Regisseure; ein fast komplett ausgewechseltes, vergrößertes Ensemble; selbst Name, Leitfarbe und Logo sind neu. Die Intendantin war sich nicht zu schade, Theatermuffel mit Gummibärchen und Gewinnspielen persönlich von Weinfesten und Dorfhocketses abzuholen." (Was sind Dorfhocketses?) Jörn Peter Hiekel stellt hierzu eine Kritik einer Aufführung des Orchesterspektakels "Surrogate Cities" von Heiner Goebbels am Freiburger Theater.

Weitere Artikel: Ulf Gronvold, Direktor des Norwegischen Architekturmuseums in Oslo, feiert die vom norwegischen Büro Snohetta gebaute neue Bibliothek von Alexandria, die heute eröffnet wird. Wolfgang Köhler porträtiert zugleich den Architekten Muhammad Auwad, der sich um das Bauerbe des 19. und 20. Jahrhunderts in Alexandria verdient macht. Zitiert wird eine Umrage auf der Frankfurter Buchmesse, aus der hervorgeht, dass zeitgenössische internationale Autoren kaum deutsche Schriftsteller lesen. Dietmar Polaczek betrachtet auf der venezianischen Architekturbiennale italienische Projekte, die städtebauliche und Industriebrachen wieder beleben wollen. Oliver Jungen resümiert ein Berliner Symposion über das "Edieren in der elektronischen Ära" (bei dem sich herausstellte, dass manche Editoren monumentaler Ausgaben noch mit Lochkarten arbeiten)

Für die letzte Seite besucht der Kunsthistoriker Detlef Heikamp die neue Skulpturengalerie in der Washingtoner National Gallery of Art. Dietmar Polaczek erzählt, wie die Erben Alfredo Mazzucchis nachweisen konnten, dass er der eigentliche Komponist des weithin bekannten Liedes "O sole mio" sei - was sie noch einige Zeit zum Bezug von Tantiemen ermächtigt. Auf der Stilseite würdigt Jürgen Dollase das Kölner Spitzenrestaurant "Le Moissonnier". Auf der Medienseite wird der Fall der Mody-Bank abgehandelt, die durch einen Artikel des Focus von sieben Jahren in die Pleite getrieben wurde. Focus hat jetzt den Prozess um den Fall gewonnen, und der Herausgeber des Blattes, Helmut Markwort, freut sich im Interview über diesen Sieg der Pressefreiheit. Michael Hanfeld berichtet auch über ein "regelrechtes Massaker", das bei der Frankfurter Rundschau stattgefunden hat: die Entlassung der Leitung des Hauses. Nun tritt eine Troika an die Stelle einer bisher doppelt besetzten Chefredaktion.

Besprochen werden eine Ausstellung zum 250. Geburtstag des Freiherren von Knigge in Hannover, Christopher Roths Film "Baader" und eine Ausstellung des DDR-Malers Hartwig Ebersbach in Magdeburg.