Im Kino

Quer zu den Bildern

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Jochen Werner
04.08.2021. Dominik Graf langt für seine Kästner-Verfilmung "Fabian oder der Gang vor die Hunde" mit beiden Händen ins filmhistorische Archiv und nutzt das riesige Reservoir der Möglichkeiten für einen Avantgardefilm, der wenig mit avantgardistischem Pathos, aber viel mit der Sinnenfreude des Kinos zu tun hat. Jasmila Žbanić erzählt in "Quo vadis, Aida" von einer bosnischen Übersetzerin im jugoslawischen Bürgerkrieg und nutzt dafür ein vom Genrekino erlerntes Instrumentarium.


Das Problem mit der Avantgarde ist ja, dass sie immer so avantgardistisch ist, heißt es an einer Stelle in Dominik Grafs loser Kästner-Verfilmung "Fabian oder der Gang vor die Hunde". Was sich in dieser lustvollen Szene - Sommer, Wasser, Leute drin - ausplaudert, ist vielleicht auch die Haltung dieses schönen Films: Was muss die Filmkunst oft so unsinnlich sein? Was müssen das Spiel und Experiment mit den Formen, der Griff ins filmhistorische Archiv oft so ernstelnd ausfallen? Die Kammer der Filmgeschichte, das Reservoir der Möglichkeiten ist reich gefüllt, man muss sich nur bedienen. Denkt sich Dominik Graf, der beherzteste Spieler des hiesigen Gegenwartskinos, und schafft einen Avantgardefilm, der mit avantgardistischem Pathos wenig, aber viel mit der Sinnenfreude des Kinos zu tun hat.

Sinnenfreude heißt wohlgemerkt nicht Opulenz, auch nicht Fetisch des Dekors. Keine ausgewachsenen Abteilungen haben hier HD-kompatibel noch bis ins Detail am Prunk einer vergangenen Dekade geschliffen, wie etwa beim deutschen Serienblockbuster "Babylon Berlin", mit dem sich "Fabian" grob das Setting teilt: Berlin, die dekadenten Jahre am Ende der Weimarer Republik, am Vorabend der Machtübernahme durch die Nazis. Eine chaotische Zeit der Krise, Tanz auf dem Vulkan: Der Werbetexter Jakob Fabian (Tom Schilling) lässt sich - Oh Boy! - durch die Großstadt treiben: Nachtleben, Exzess, Literatur, Philosophie, Bohème. Fabian im Modus teilhabender Distanz, in die Vollen greifend, aber kühl dabei. Vielleicht auch, weil er von Weltkrieg Eins traumatisiert ist.

Eine junge Liebe, die Bardame Cornelia (Saskia Rosendahl), stolpert in sein Leben. Sie wohnt in der gleichen Mietsstube wie er. Sie visiert eine Karriere beim Film an. Fabians Freund Stephan (Albrecht Schuch), deutlich besser gestellt als Fabian, reicht seine Habilitation ein. Fabian selbst verliert seinen Job - auf dem Anwesen von Stephans Vater sieht er, umgeben von Wohlstand, einem Leben in großstädtischer Armut entgegen. Cornelia versucht derweil, beim Film zu landen. An der Uni machen sich die Nazis breit, noch laufen, im Hintergrund des Geschehens, orthodoxe Juden wie selbstverständlich durchs Straßenbild.

Der Blick der deutschen Gegenwart auf eine deutsche Zeit, von der uns wer weiß schon wieviele Phasen und Schichten trennen: Wende, deutsche Teilung, das Regime der Nazis. Wer sich dieser Zeit nähern will, muss tief runter. Und vielleicht ja wirklich runter in den Berliner U-Bahnhof Heidelberger Platz - in seinem bürgerlichen Prunk der schönste der Stadt, in seiner Illusion von bruchloser Geschichte vielleicht aber auch der verlogenste -, in den sich Hanno Lentz' hungrige Kamera gleich zu Beginn versenkt, in den U-Bahnhof von heute wohlgemerkt, den sie einmal durchwandert, um am Ende, am anderen Ausgang, dann doch in der Vergangenheit herauszukommen. Man kann diesen buchstäblichen Move vielleicht als Behauptung von Kontinuität lesen - ich sehe darin eher eine Geste des Gespensterhaften: Die Geister dieser Vergangenheit sind unserer Gegenwart nicht ausgetrieben, vielmehr sind sie ihr psychogeografisch eingeschrieben. An einer anderen Stelle im Film gleitet die Kamera wie absichtslos nach unten - zu sehen sind Stolpersteine, die an die Opfer der Nazis erinnern. Vergangenheit und Gegenwart - beider Gespenster bevölkern die jeweils andere Domäne. Es ist kompliziert.



Kompliziert ist es auch in materialästhetischer Hinsicht. Das digitale Filmbild entspringt der Gegenwart, Einschübe von Super8 entsprechen einer Vergangenheit, einer Form filmischer Privatheit und Intimität, die im Jahr 1931 allerdings noch Zukunft ist. Dazu: Materialien aus den Archiven, schwarzweiße Straßenimpressionen, hektisch und wild, kontrastive Marker tiefer Vergangenheit, die neben den digitalen Bildern selbst schon im Verhältnis zum sonst Gezeigten so fern wirken wie Sagen aus der Antike: Man staunt ja immer, dass Menschen aus der Zeit des Stummfilms im echten Leben reden konnten und ihre Umwelt genau wie wir in Farbe sahen und sich keineswegs eckig-zackig bewegten und wohl auch nicht theatralisch gestikulierten.

Wenn Fabian, Cornelia und Stephan ihre Tage miteinander verbringen, steht das quer zu den Bildern, die uns das Filmerbe in den Archiven von dieser Zeit vermittelt, vom Simulakrum der Geschichte, wie es uns gängigerweise vorkonstruiert wird. Man kriegt diese Zeit nicht zu fassen, schafft kein Verhältnis dazu: Die Position des Films bleibt stets die der Gegenwart, nie geht es um simulative Anverwandlung. Die Kamera ist oft wendig und schlank, fast so wie auch der späte Stummfilm wendig und schlank war, bevor mit den großen Tonfilmkameras die Erdenschwere des UFA-Films Einzug ins Kino hielt. Der große Schriftzug "1931" zu Beginn ist unterlegt von verzerrten E-Gitarren - der ganze Film: ein großer, ein sanfter, ein darin paradoxer Brecht'scher Verzerrungs-, pardon: Verfremdungseffekt.



Ich sagte ja schon: keine Opulenz. Manche Sets wirken fast abstrakt, mit viel Schwarz im Hintergrund. Die Kleidung ist nicht exaltiert auf Modenschau getrimmt. Das Nachtleben ist exzessiv, aber exzessiv im Rahmen menschlichen Augenmaßes, nicht auf Videoclip getrimmt. Manche Szenen könnten fast heutzutage spielen. Keine Retromania, kein Film gewordenes Coffeetable-Book. Wie Fabian durch die politische Krise seines Landes und seine eigene Lebenskrise wie ein unbeteiligter Beobachter in absoluter Fühlnähe gleitet, gleitet dieser Film durch seinen Stoff, seine Zeit, seine Form. Auch deshalb wirkt "Fabian" brüchig, wie zusammengesetzt aus Scherben, widerstrebenden Sinneseindrücken, nicht festgelegt, ohne geraden Vektor in die Zukunft.

Ohnehin neigt Graf nicht zur geschlossenen Form: Weder in seinem übergeordneten Werk, das viele Genres umfasst, vom populären Krimi zum intellektuellen Essay reicht, das spielerische der Liebe genauso kennt wie existenzielle Härte und sich eher in Zyklen der Kooperationen mit Drehbuchautoren organisieren lässt als durch eine alles bestimmende Vision eines Künstlersubjekts. Noch in den einzelnen Werken, in denen oft entgegenstrebende Fliehkräfte walten, die das Zentrum der Filme zu zerreißen drohen.

Dieses Scherbenhafte führt in "Fabian" zu einem paradoxen Seheindruck. Fast - aber eben wirklich und eindeutig nur: fast - wirkt die Ungebundenheit des Films wie eine kleine Utopie. Die Abzeichnung eines Möglichkeitsraums, von unserem heutigen Wissen wie ein Schatten belegt, dass das Moment gesellschaftlicher Auflösung, das dieser Film streift, in die größte Katastrophe Europas des 20. Jahrhunderts geführt hat. Davon kann Fabian natürlich noch nichts wissen.

Nichts ist immer schon im Gewebe der Gegenwart für die Zukunft festgelegt, aber geschehen kann alles, nicht nur, aber auch das Schlimmste - darauf scheint Grafs Film zu insistieren. Es hätte damals vielleicht auch alles anders kommen können, falsche Sicherheiten führen ins Verderben.

Was das über unsere Gegenwart sagt, bleibt fürs Erste abzuwarten.

Thomas Groh

Fabian - Deutschland 2021 - Regie: Dominik Graf - Darsteller: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker, Michael Wittenborn - Laufzeit: 176 Minuten.

---



"Ich bin nur ein Pianist", sagt der Kommandant der niederländischen Blauhelmtruppen, Thomas Karremans, einmal, früh im Film, und Aida übersetzt das dem verständnislosen Gegenüber mit: "Ich bin nur ein Bote." Um die tatenlos verstreichenden Ultimaten der Vereinten Nationen geht es da, und darum, dass den serbischen Truppen bei der Eroberung der Stadt Srebrenica nicht, wie angedroht, Luftangriffe entgegengesetzt werden. Man wird Karremans später am Telefon hören, wie er diese Luftangriffe bei fernen Vorgesetzten vergeblich einfordert. Geschehen wird nichts. Er ist nur ein Pianist, keiner, der bestimmt, welche Musik gespielt wird.

Der fünfte Film der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić beginnt mit dem serbischen Einmarsch in Srebrenica nach dreijähriger Belagerung und mit der Flucht zehntausender Einwohner*innen, die im Stützpunkt der niederländischen Blauhelme Schutz suchen. Einige Tausend werden hereingelassen, viele mehr harren vor den bewachten Toren der wenigen hundert niederländischen Soldaten aus oder flüchten auf eigene Faust in die umliegenden Wälder.

Aida Selmanagic (sensationell: Jasna Đuričić) arbeitet als Übersetzerin für die UN und wird durch diesen Beruf zur Wandlerin zwischen den Welten. Aus der Sicht der hilfesuchenden Geflüchteten gehört Aida den Vereinten Nationen an und wird zur Adressatin ihrer verzweifelten Bitten. In der Tat verfügt Aida durch den direkten Kontakt zu den Offizieren über begrenzte Einflussmöglichkeiten; so vermag sie es anfangs etwa, ihren Ehemann Nihad und ihren Sohn Hamdija entgegen anderslautenden Befehlen aus der wartenden Menge heraus in den vermeintlichen Schutzraum des UN-Stützpunkts zu retten.



Wie begrenzt dieser Einfluss tatsächlich ist, zeigt sich im Laufe von "Quo Vadis, Aida?" aufs Schmerzlichste. Aida ist nur eine Pianistin, nur eine Übersetzerin, eine zwar, die sich gegen ihre Rolle auflehnt, aber auch eine, die so lange immer wieder fremde Worte übersetzt, bis es zu spät ist. Was gespielt wird, was gesprochen wird, das bestimmen andere, bis zum bitteren Ende. So entscheidet sich das Schicksal von Aidas Familie durch Karremans, der zwar im Großen selbst nur eine Marionette ist und zwischen der Tatenlosigkeit der UN-Vorgesetzten und der eiskalten Skrupellosigkeit des serbischen Generals Ratko Mladić zerrieben wird, der aber, gleichwohl oder gerade deshalb, im Rahmen seines Einflussbereichs zur Aufrechterhaltung einer strengen, bürokratischen Regeltreue entschlossen ist, koste es, was es wolle.

Gleich mit ihrem Regiedebüt "Grbavica" ("Esmas Geheimnis") gewann die damals 31-jährige Jasmila Žbanić 2006 den Goldenen Bären der Berlinale, was ja zu Dieter Kosslicks Zeiten nicht immer ein gutes Zeichen war. Tatsächlich war das um das Trauma einer Kriegsvergewaltigung herum gebaute Mutter-Tochter-Drama ein Paradebeispiel für jene formlosen Themenfilme, die als klassische Kompromisskandidaten gern mal die Preise aus den oft bizarr kuratierten Wettbewerben heimtrugen, und der vier Jahre später ebenfalls in den Berlinale-Wettbewerb eingeladene Nachfolger "Na putu" ("Zwischen uns das Paradies"), ein Islamismusdrama, in dem jedes einzelne Bild falsch schien, bekräftigte eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem weiteren Œuvre Žbanićs.

Aber vielleicht hätte man in der Zwischenzeit doch einmal genauer hinschauen sollen, sind doch in der Dekade zwischen ihrem letzten Berlinale-Beitrag und der Premiere von "Quo Vadis, Aida?" im Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig im Pandemiesommer 2020 zwei weitere, weit weniger beachtete Filme entstanden, die jeweils für sich nicht restlos überzeugen, jedoch von einem Willen zur künstlerischen Weiterentwicklung künden. Gemeinsam mit der australischen Autorin und Performerin Kym Vercoe adaptierte sie 2013 deren Theaterstück "For Those Who Can Tell No Tales" zu einem nicht durchweg geglückten, aber doch ambitionierten und interessanten Film, der atmosphärisch stellenweise beinahe ins Geisterfilmhafte abkippt und erstmals in Žbanićs Werk von einer Suche nach einer passenden und originellen Form für das zu Erzählende kündet.



Als ein weiteres Formexperiment lässt sich "Love Island" von 2014 begreifen, eine leicht angequeerte RomCom im Pauschalurlaubssetting, mit der Žbanić zwar nicht unbedingt komödiantisches Timing beweist, aber doch ihre Entschlossenheit, sich mit generischen Erzählformaten auseinanderzusetzen, in deren Rahmen ihre Narrative durch Zuspitzung oder Kontrast spezifischer zur Wirkung gebracht werden können. Insofern kann man diese beiden weniger bekannten Arbeiten nicht nur als Formexperimente und Nebenwerke betrachten, sondern auch als Vorstudien, die sich nun in einem deutlich erweiterten filmhandwerklichen Instrumentarium auswirken.

Denn im Grunde greift "Quo Vadis, Aida?" eine formal klassische Kinosituation auf. Ein belagerter Innenraum, umstellt von übermächtigen Aggressoren. Man kennt das aus unzähligen Klassikern, von Hawks über Carpenter bis Romero. Selbstverständlich macht Žbanić aus ihrer Erzählung vom Genozid von Srebrenica keinen Genrefilm, aber man hat durchweg den Eindruck, dass sie ein vom Genrekino erlerntes Instrumentarium nutzt, um in Räumen zu erzählen und diese mit Spannung aufzuladen. Ihre Figuren jedoch, ihre Konflikte, ihr Scheitern und ihre Resignation scheinen vor diesem Hintergrund eher verschärft, als dass sie darin verschwimmen würden, und der erschütternde Epilog zeigt ein Bestreben, kraftvolle Bilder zu finden, das in Žbanićs Werk neu ist.

Von fantastischen Schauspieler*innenleistungen getragen (neben der grandiosen Đuričić ist vor allem Boris Isakovićs leise Brutalität in der Rolle des General Mladić hervorzuheben) wird "Quo Vadis, Aida?" von einem straffen Spannungsbogen vorangetrieben, ohne den Fokus auf die Figuren und ihre jeweiligen Verstrickungen zwischen Einflussnahme im Kleinen und Machtlosigkeit im Großen - das eigentliche Thema des Films - aus den Augen zu verlieren. All dies macht "Quo Vadis, Aida?" nicht nur zum bisher stärksten Beitrag zu Jasmila Žbanićs fünf Filme umfassendem Werk, sondern zur Arbeit einer künstlerisch gereiften Filmemacherin, die man fortan auf dem Zettel wird haben müssen. Bisher mag Žbanić eher Pianistin gewesen sein, jetzt dirigiert sie das Orchester.

Jochen Werner

Quo vadis, Aida - Bosnien-Herzegowina 2020 - Regie: Jasmila Žbanić - Darsteller: Jasna Đuričić, Boris Isaković, Izudin Bajrović, Boris Ler, Dino Bajrović - Laufzeit: 103 Minuten.