Vom Nachttisch geräumt

Der Supermarkt ist Gott

Von Arno Widmann
20.11.2018. Vom Glück klarer Anweisungen: Konformismus ist das Ideal für Sayaka Muratas "Ladenhüterin".
Ein Bildungsroman. Eine Ladenangestellte, die Ladenangestellte wurde, weil sie zum Leidwesen ihrer Verwandten und Bekannten es nicht schafft, mehr aus sich zu machen. Der Roman handelt davon, wie sie nicht etwa sich aufmacht, aus ihrer untergeordneten Stellung herauszukommen, sondern wie sie im langsam begreift, dass das exakte Ausführer klarer Anweisungen ihr Weg, ihr Ziel, ihr Glück ist. Als sie das entdeckt, gelingt es ihr, den Mann loszuwerden, der sich an sie gekettet hat, um sie auszunehmen. Sie erklärt ihm: "Für mich als Mensch wäre es vielleicht besser, mit dir zusammen zu sein. Meine Familie und meine Freunde wären erleichtert. Aber für mich als Konbini-Angestellte bist du völlig überflüssig."

Der Supermarkt (Konbini) braucht sie ganz und sie braucht den Supermarkt. Sie fühlt sich wohl, wenn alles flutscht, wenn also das, was verkauft werden soll, so steht, dass der Kunde es auch kauft. Sie und der Supermarkt werden eins. Ganz am Ende des Romans stehen die Zeilen: "Plötzlich sah ich mein Spiegelbild in der Scheibe des Ladens, aus dem ich gerade gekommen war, und bei dem Gedanken, dass meine Gliedmaßen allein für den Konbini existierten, erkannte ich in meinem Abbild zum ersten Mal ein Wesen, dessen Leben einen Sinn hatte." Das ist eine Parodie, eine beißende Kritik, sagen wir. So dachten wir auch, als wir zum ersten Mal amerikanische Popart sahen. Die transportierte aber Begeisterung. Erinnern wir uns: Das goldene Kalb war keine Parodie auf Gott, sondern es war Gott. So wie Andy Warhols Cola-Flasche es war oder Jasper Johns US-Flagge.


Wir reden viel von Freiheit, machen aber nur selten Gebrauch von ihr. Wichtiger ist uns Sicherheit. Genau so geht es der "Ladenhüterin" Keiko Furukura in Sayaka Muratas kurzem Roman. Sie erreicht diese Sicherheit durch Entsagung. Sie sehen, wir sind mitten drin in der Mutter aller Bildungsromane, in Goethes Wanderjahren. Sie verzichtet auf Liebe. Sie verzichtet auf einen eigenen Kopf. Sie erfährt das aber nicht als Verlust. Im Gegenteil: Die Idee, sie solle und sei es nur das Allergeringste - zum Beispiel, was sie anziehen soll - selbst entscheiden, überfordert sie. Die vorgeschriebene Berufskleidung befreit sie von der Freiheit der Wahl. Ihr wird auch gesagt, was sie sagen soll, wenn sie sich einem Kunden nähert. Mann hat ihr auch beigebracht, wie sie es tun soll. Sich einem fremden Willen zu überlassen, stand in der christlichen Tugendlehre immer an oberster Stelle. Die Freiheit eines Christenmenschen bestand bei Luther darin, Gott untertan zu sein. Im Großen Katechismus erklärte er: "Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott." Für Keiko Furukura ist das der Supermarkt. Sie ist ihm ergeben. Mit ihm will sie Eins werden. Nicht als Kundin, sondern als Angestellte. Angestellt zu sein, ist ihr Ideal.

Das hohe Lied des Verzichts auf den eigenen Willen wird auch in Japan gesungen. Weniger dramatisch, weniger als Unterwerfung. Auch die japanischen Leser werden den Roman nicht einfach als die Beschreibung einer beängstigenden Entmündigung lesen. Der Verzicht auf den eigenen Willen gehört nicht nur im Christentum zur Grundausstattung eines guten Mönches. Auch der japanische Schwertkämpfer ist erst dann gut, wenn er nicht mehr nachdenkt und abwägt, sondern sich aufgibt. Nichts anderes macht Keiko Furukura. Sie praktiziert das hohe Ideal des Verzichtes auf das Selbst an einer Stelle, für die es nicht vorgesehen war, aber nur zu gern nicht nur angenommen, sondern auch eingefordert wird. Konformismus als Ideal. Aber wie jedes Ideal unerreichbar.

Keiko Furukura ist eine Fiktion. Mitten in einem realistischen Setting. Niemand sonst lebt nur für die Firma. Nur sie verschmilzt mit Konbini. Alle anderen Figuren des Romans haben ein Leben neben dem Beruf. Einer hat nicht einmal diesen. Er lebt nur. Er wollte von Keiko Furukura leben. Aber sie schüttelt ihn ab. Nicht, weil er ein Schmarotzer ist, sondern weil ein Zusammenleben mit ihm sie daran hindern würde, ganz für die Firma da zu sein.

Sayaka Murata, geboren 1979 in Inzai, 63 Kilometer nordöstlich von Tokio, ist eine der bekanntesten vielfach ausgezeichneten japanischen Autorinnen. Man kann "Die Ladenhüterin" auch ganz anders lesen, als ich das hier tue. Auf femundo.de findet sich folgende Einschätzung: "Die Autorin, welche selbst lange Zeit in einem Konbini gearbeitet hat, stellt in ihrer Parabel den Leistungsdruck der japanischen Gesellschaft in Frage, der gerade auch Frauen den allerhöchsten Ansprüche unterwirft: Karriere machen, früh heiraten, Kinder bekommen und nebenbei noch den Körper und Freundschaften pflegen. Ihre Protagonistin Keiko fügt sich nicht in das vorgegebene Raster und wird so zu einer unerhörten Provokation für ihr Umfeld."

Sayaka Murata: Die Ladenhüterin, Aufbau Verlag, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, 145 Seiten, 18 Euro.