Marko Martin

"Brauchen wir Ketzer?" - Stimmen gegen die Macht

Porträts
Cover: "Brauchen wir Ketzer?" - Stimmen gegen die Macht
Arco Verlag, Wuppertal 2022
ISBN 9783965870383
Taschenbuch, 350 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Wiederholt sich Geschichte? Angesichts der aktuellen Ereignisse liest Marko Martin vermeintlich "alte" Bücher neu und entdeckt beunruhigende, aber auch erhellende Parallelen. Die Frage "Brauchen wir Ketzer? " des ersten Arco-Autors Fritz Beer im Titel aufgreifend und Hermann Brochs "Der Intellektuelle ist ... sozusagen der 'Ketzer an sich'" im Sinn, wendet er sich scharfsichtigen Autorinnen und Autoren zu, auf die zu wenig gehört wurde: Hatten die Schriftsteller Friedrich Torberg und Hans Habe nicht bereits 1938, im Jahr der trügerischen westlichen Hoffnung auf "Peace for our Time" - unter Preisgabe Österreichs und der Tschechoslowakei an Hitler - die Schrecken des Kommenden feinnervig erspürt und in Romanen beschrieben? Hatten nicht zwei so unterschiedliche Essayisten wie Jean Améry und Ludwig Marcuse die rechtswie linksideologischen Manipulationen ihrer Zeit luzid durchschaut? Hatte die deutschsprachige Prager Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel in ihrem mexikanischen Exil einen behäbigen westlichen Liberalismus nicht ebenso präzis analysiert wie die mörderischen Machttechniken des Stalinismus - darin vergleichbar dem aus Charkiw stammenden Romancier Leo Lania, einem Freund Willy Brandts? Hatte nicht selbst in der DDR Stefan Heym vermocht, den herrschaftskritischen Intellektuellen zum Protagonisten seiner Bücher zu machen? Und war nicht sogar die angepaßtere Anna Seghers in ihren karibischen Novellen zu einer Art literarischer Pionierin postkolonialen Schreibens geworden? Hilde Spiel und Jeanne Herrsch, Primo Levi, Fritz Beer oder Hermann Broch - sie alle waren säkulare jüdische Schriftsteller, luzide Ketzer anstatt wirrköpfige "Querdenker", die, oft unter großem persönlichen Risiko, ihre Zeit beschrieben und uns noch heute viel zu sagen haben. Marko Martins neues Buch knüpft an sein hochgelobtes dissidentisches Denken an, ist eine Erinnerung an tapfere Menschen und gleichzeitig Einladung, durch Lektüren unsere gegenwärtigen Debatten zu weiten.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 07.08.2023

Ein großartiges Buch!, ruft der hier rezensierende Autor Artur Becker nach der Lektüre dieses Bandes, der die Porträts von elf jüdischen säkularen Intellektuelle versammelt, darunter Ludwig Marcuse, Anna Seghers, Primo Levi, Hilde Spiel und Friedrich Torberg. Es sind alles Außenseiter, die oft durch die Umstände - Emigration oder Flucht - ins dissidentische, singuläre Denken getrieben wurden. Und ja, auch Anna Seghers und Stefan Heym passen da hinein, findet Becker, denn so angepasst die beiden in der DDR waren, habe Seghers doch sehr früh den Kolonialismus angeprangert oder Heym den im Antiimperialismus versteckten Antisemitismus aufgespürt. Becker, man spürt es deutlich, hat das Buch mit Gewinn gelesen. Und Anregungen für die Gegenwart, etwa zur Debatte über den Ukrainekrieg oder den Umgang mit der AfD bietet es auch, versichert er.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 22.04.2023

Die rhetorische Frage im Titel von Marko Martins Buch, ob wir Ketzer brauchen, beantwortet Rezensent Stephan Wackwitz nach der Lektüre eindeutig mit "Ja, dringend". Denn der Autor stellt hier eine Vielzahl von Ketzern im Sinne von antitotalitären Einzelkämpfern und -kämpferinnen des 20. Jahrhunderts vor, darunter Albert Camus, André Glucksmann, Hilde Spiel oder Alice Rühle-Gerster, die gerade nicht über kommunistische Umwege zur ihrer freiheitlich-demokratischen Überzeugung gelangt seien, sondern immer schon um die Gefahren von totalitärer Seite wussten und als Intellektuelle die Geistesgeschichte prägten, wie Martins Buch dem Kritiker "lebendig" veranschaulicht. Dabei schätzt Wackwitz das "angenehme Parlando" des Autors, die vielen Verweise auf die politische Gegenwart sowie insbesondere die "zahlreichen geistesgeschichtlichen Überraschungen" des Buchs: So erfährt er etwa gespannt vom großen Einfluss des american pragmatism auf die vorgestellte Generation. Ein Fall von "essayistisch-biografischer Feinmalerei" für den begeisterten Kritiker.