9punkt - Die Debattenrundschau

Der Machtkreis um das eigene ich

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2014. In der Berliner Zeitung prangert Jagoda Marinić die unterschwellige bis offene Verachtung gegenüber der ersten Einwanderer-Generation an: "Für viele sind die Eltern der schwarze Fleck auf ihrer Aufstiegsweste." In der NZZ erklärt Oleg Jurjew, warum Bulgakow und Babel nie über den Ersten Weltkrieg geschrieben haben. In der FR fordert Claus Leggewie eine Architektur der kulturellen Öffentlichkeit. Die SZ beobachtet den in den USA tobenden Kampf zwischen Amazon und den Verlagen. Außerdem beschäftigt die Feuilletons weiterhin der Tod Frank Schirrmachers.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.06.2014 finden Sie hier

Medien

Das FAZ-Feuilleton steht noch immer unter dem Schock von Frank Schirrmachers Tod. Dirk Schümer erinnert an den Adlerblick, mit dem Schirrmacher ganze Epochen ins Auge fasste: "Jacob Burckhardt hat einmal die Arbeitsgrundlage jedes guten Historikers definiert: Er muss aus einem zertrümmerten Kapitell im Geiste einen ganzen Tempel errichten. Bei Frank Schirrmacher funktionierte der Prozess aber auch umgekehrt. Er konnte in jedem Hochhaus, in jeder Stadt, in jeder blühenden Landschaft das künftige Ruinenfeld sehen."

An Schirrmachers jähes Leben und Sterben erinnern sich außerdem Günther Nonnenmacher, Patrick Bahners und Nils Minkmar, zudem Shoschana Zuboff, Mathias Döpfner, Günter Jauch und Martin Walser ("Dass er im Jahr 2002 Reich-Ranicki mir vorzog, verstehe ich heute besser als damals", schreibt er zu der Debatte über sein Buch "Tod eines Kritikers").

In der taz erinnert Dirk Knipphals daran, dass sich Schirrmachers Intellekt nicht nur an Aufklärung, sondern immer auch an der Macht orientierte: "Er wollte immer handeln mit seinen Worten: sich behaupten, Meinungsführerschaft durchsetzen, Gegner bekämpfen. Und oft wollte er die Magie der Worte auch erzwingen. An so etwas wie soziale Aushandelprozesse, intersubjektive Diskurse und gegenseitige Selbstaufklärung des Publikums hat er nicht geglaubt. Auch seine zuletzt aufsehenerregende Hinwendung zur linken Gesellschaftskritik unter dem Titel "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat" klang in meinen Ohren jedenfalls ziemlich autoritär. Aus dem Machtkreis, den er um sein Ich gelegt hat, kam er nicht heraus."

In der NZZ hält Martin Meyer fest: "Frank Schirrmacher war das Gegenteil des Langweilers." Der Perlentaucher erinnert an all die Debatten, die Schirrmacher angestoßen hat. Weitere Reaktionen in unserer Debattenrundschau von gestern.
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Gesellschaft

Im Interview in der Berliner Zeitung beklagt die Schriftstellerin Jagoda Marinic, dass auch das neue Staatsbürgerschaftsrecht die erste Einwanderer-Generation zu einem Schattendasein zwingt: "Meine Eltern sind Teil einer stummen, unsichtbaren Generation. In Deutschland wird sie nur klischeehaft wahrgenommen. Die meisten sind mit "Gastarbeitern" schon fertig, noch bevor das Thema angefangen hat. Die Idee, dass sie ihre vermeintliche Bildungsferne den Kindern vererben, ist absurd, wofür gibt es denn eine Schulpflicht? Deren Problem ist eher die Distanz, die sie zu ihrer Geschichte einnehmen, weil in Deutschland keiner sagt: Klasse, was deine Eltern hier geleistet haben, toll, wie weit ihr in einer Generation gekommen seid. Für viele, die in der Öffentlichkeit auftreten, sind die Eltern der schwarze Fleck auf ihrer Aufstiegsweste."

Martin Dahms berichtet außerdem in der Berliner Zeitung über den erneut aufgeflammten Sprachenstreit auf Mallorca.
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Geschichte

In der NZZ erklärt der Schriftsteller Oleg Jurjew, warum in Russland die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg so blass ist und weder Bulgakow noch Babel über ihn schrieben: "Danach begann der russische Bürgerkrieg, der bis 1922 dauern und weite Teile Russlands verheeren sollte. Die Bolschewisten hatten ihn nach der Oktoberrevolution vorausgesehen und gar ideologisch vorangetrieben: Sie hatten von Anfang an geplant, den "imperialistischen Krieg" in einen "Klassenkrieg" zu verwandeln. So wurde in Russland das Inferno des Ersten Weltkriegs vom Inferno des Bürgerkriegs zwischen den Roten und den Weißen überlagert. Weil es zwischen den beiden Kriegen keine Friedenszäsur gab, ist die Erinnerung an die Katastrophe des Ersten Weltkriegs in Russland nicht in annähernd gleichem Maße verankert wie im westlichen Europa."

In einem weiteren instruktiven Artikel in der NZZ blickt der Historiker Nadir Weber auf politische Protektion und Intervention in der frühen Neuzeit zurück.
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Politik

Die Afrika-Korrespondentin Simone Schlindwein betont in der taz, dass sich die ungeheure Gewalt in Afrikas Kriegsgebieten nicht auf Massenvergewaltigungen von Frauen beschränkt: "Journalisten neigen dazu, sich das herauszupicken, was in den Medien am meisten Schlagzeilen macht. Im Kongo sind es die Vergewaltigungen. In Norduganda waren es die Kindesentführungen und die abgeschnittenen Lippen, in Sierra Leone die abgehakten Hände, in der Zentralafrikanischen Republik die Menschenfresser. Doch das sind alles nur Facetten eines riesigen Gewaltarsenals. Und die Täter sind Produkte jener brutalisierten Gesellschaften. Und selbst Opfer. Wie geht noch mal der Witz? Alle stehen auf."
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Internet

Jörg Häntzschel schildert in der SZ ausführlich den Kampf zwischen Amazon und den Verlagen, der sich in den USA zu einem wahren Wirtschaftskrieg auszuwachsen droht. Dort verlangt Amazon 50 Prozent Rabatt auf E-Books: "Letztlich will Amazon nicht nur den Buchhandel, sondern auch die Verlage aus dem Feld räumen, vom Händler zum Produzenten werden und die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren: "100 Prozent der Einnahmen, 100 Prozent der Daten", so (der Literaturagent) Matthias Landwehr. "Disintermediation" sei das Ziel, das Amazon auch mit eigenen Fernsehserien, dem geplanten eigenen Smartphone, dem eigenen Paketdienst verfolgt. Die von Bezos gehassten "Türhüter" sollen verschwinden."

Im Blog BostInno ist sich Galen Moore nicht so sicher, wer im Kampf zwischen Amazon und Hachette der Gute ist. Natürlich sind Bücher nicht einfach nur ein Konsumprodukt. Aber: "Books and video games are also like music. To produce an album, a label puts down a cash bet in a hits-driven business. Paying $18 for a compact disc reflected that up-front investment, we were told in the aughts. Have iTunes and the $1 download ended innovation in the music industry? Have free and "freemium" ended innovation in video games? They have not."
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Kulturpolitik

Claus Leggewie fordert in der FR eine neue Architektur für Museen und Theater, die wieder eine kulturelle Öffentlichkeit herstellt: "Kulturpolitik kann und soll nicht Sozialpolitik ersetzen, auch darf es keine politische Quote für schwache Kunst geben. Aber Kultur darf auch nicht die sozialen Klüfte verstärken, die in den letzten Jahrzehnten dramatisch gewachsen sind. Sie muss inklusiver werden und kann dazu die raffinierteren Mittel anwenden, die der Kunst bekanntlich zu Gebote stehen. Neue Theater und Museen kommen in der Regel nicht mehr als Paläste einer elitären Kultur daher: festungsartig, pompös, abweisend, intransparent, sie treten so niederschwellig, offen und einladend wie möglich auf. Aber die Theater- und Museumsarchitektur müsste sich ihrer Funktion als Forum kultureller Öffentlichkeit wieder stärker bewusst werden."
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Europa

Im Interview auf Spiegel Online erklärt der Historiker Jochen Hellbeck, dass nicht so sehr die Sprache die Ukraine teilt, sondern die unterschiedliche geschichtliche Erfahrung im Zweiten Weltkrieg: "Der Osten der Ukraine gehörte zum russischen Imperium und zur Sowjetunion. Die Region um Lemberg hingegen, die Hochburg des ukrainischen Nationalgefühls, wurde erst mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 der damals sowjetischen Ukraine zugeschlagen. Im Zweiten Weltkrieg hat hier die ukrainische Aufstandsarmee UPA gegen die Sowjets gekämpft, zeitweise an der Seite der Nazis. Dementsprechend feindselig stehen viele Menschen dort noch heute Russland gegenüber. "
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