Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2004. In der FAZ entwirft der Dirigent und Komponist Hans Zender eine Geografie der Musik, in der Deutschland recht blass aussieht. Die Welt bringt einen Text von Vaclav Havel, der Europa vor politischer Apathie warnt. Die SZ besucht das neue Moma. Peter Konwitschnys Inszenierung von "Moses und Aaron" in Hamburg löst kontroverse Reaktionen aus.

TAZ, 17.11.2004

Frieder Reininghaus hat in Hamburg Schönbergs "Moses und Aron" gesehen und hat es gehasst: "Konwitschny führt das 'Auserwähltsein' als bloße Behauptung der Brüder M. & A. vor, zeigt sich an deren Kommunikationsformen, Sprechstörungen und Denkhemmungen interessiert. Seine Inszenierung verrät eine signifikante Geringschätzung der Religionsfragen. Ob die systematische Verspießbürgerlichung der großen Denker einem latent antisemitischen Potenzial entspringt oder gedankenloser Routine eines angegrauten Regietheaters, wird sich oberflächlich kaum klären lassen. Aber weder das eine noch das andere erweist sich als hinderlich für breiten Zuspruch."

Viktor Miziano, Herausgeber des Moskau Art Journal, beschreibt die russische Kunst nach dem "Realitätskult" der neunziger Jahre: "Den Künstlern erscheint die gegenwärtige Gesellschaft als fluktuierend und ungeformt. Weil sie im kompletten Widerspruch zu jenem stabilen und hierarchisch aufgebauten sowjetischen Sozialapparat steht, wie er in den Totalinstallationen von Ilya Kabakov klar erscheint. Nicht das Chaos, das im letzten Jahrzehnt bestand, sondern ebenjenen Sozialapparat thematisieren die Künstler, indem sie sich auf dessen innere Strukturierung als Ausgangspunkt berufen."

Auf der Tagesthemenseite erzählt Marco Eisenack die Geschichte der Sängerin Hülya, die ihre Karriere aufgeben und das Kopftuch tragen will. Auf der tazzwei findet sich ein Interview mit Christoph Schlingensief über den Mord an Theo van Gogh, sein neues Stück "Kunst und Gemüse", Gott und die Welt. Besprochen wird ein Konzert von Tom Waits in Berlin.

Schließlich Tom.

FAZ, 17.11.2004

Die FAZ eröffnet eine Debatte, die mal nicht von unseren Genen oder unserer unnatürlichen Tendenz zum Altern, sondern von unseren Rundfunkorchestern handelt. Der Dirigent und Komponist Hans Zender erinnert die durch unsere Gebühren finanzierten öffentlich-rechtlichen Sender an ihre verdammte Pflicht, diese Orchester zu pflegen und zu fördern. Und er entwirft eine verblüffende Geografie der musikalischen Welt. So sei in Italien, "das zu den musikalischsten Ländern der Erde gehört, fast die gesamte Infrastruktur des Musiklebens innerhalb der letzten dreißig Jahre durch eine korrupte Politik zerstört worden. In Spanien, in Griechenland, ganz zu schweigen von Japan, Korea, ja sogar in China nimmt das offizielle Musikleben immer professionellere Züge an, während man zum ersten Mal von jungen Musikern aus diesen Ländern deprimierte Bemerkungen über die Situation der Musik in Deutschland hören kann. Dabei war es doch das deutsche Musikleben, das gerade diesen Ländern bisher als Vorbild gedient hatte."

Weitere Artikel: Wohlwollend kommentiert Christian Geyer in der Leitglosse den Vorschlag des Vorsitzenden des Zentralrats deutscher Muslime, Nadeem Elias, in Deutschland predigende Imame künftig auch hier auszubilden. Der Strafrechtler Michael Pawlik kann den in den USA verhängten "Shame Sanctions" zwar einiges abgewinnen, meint letztlich aber doch, dass sie einer zivilisierten Gesellschaft nicht gut anstünden. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Rem Kohlhaas (hier die Website seines Büros) zum Sechzigsten. Kerstin Holm liest russische Zeitschriften, die sich unter anderem mit der brutalen Behandlung von Rekruten im Lande auseinandersetzen. Mata Kijowska schildert empörte polnische Reaktionen auf den Plan, den Nachlass des Dichters Zbigniew Herbert an die Beineke Library der Yale Universität zu verkaufen.

Auf der Medienseite berichtet Karl-Peter Schwarz in einer interessanten Reportage über den scharfen Streit zwischen den Redakteuren der Bukarester Zeitung Romania Libera und dem besitzenden WAZ-Konzern, dem vorgeworfen wird, auf die politische Linie des Blattes massiv Einfluss nehmen zu wollen. Jordan Mejias meldet, dass William Safire, der Kolumnist der New York Times, abtritt (hier der Artikel der Times zum Thema). Und Martin Seewald berichtet über die Eröffnung des Kabelsenders History Channel.

Auf der letzten Seite stellt Barbara Bönnemann die deutsche Harfenistin Helga Storck vor, die als erste Ausländerin eine ständige Professur an der Musikhochschule von Kattowitz bekam. Jürg Altwegg berichtet, dass die weitere Verbreitung des Bergier-Berichts über das Verhalten der Schweiz in der Nazizeit von konservativen Kräften im Land nach Kräften erschwert wird. Und Jürgen Dollase porträtiert den Journalisten Manfred Kohnke, der der deutschen Ausgabe des Restaurantführers Gault-Millau vorsteht.

Besprochen werden ein Konzert Tom Waits' in Berlin, der Film "Schau mich an" der Schauspieler und Regisseure Agnes Jaoui und Jean-Pierre Bacri (von Hans-Dieter Seidel wärmstens empfohlen), eine Ausstellung des Malers Richard Allen Morris im Krefelder Museum Haus Lange und Konzerte des Ensemble Modern mit Werken von Conlon Nancarrow in Köln und Frankfurt.

Welt, 17.11.2004

Können die Völker die politischen Entscheidungen ihrer gewählten Vertreter überhaupt beeinflussen? Vaclav Havel ist davon überzeugt und warnt vor falschen Propheten, die früher behauptet haben, man könne nichts gegen den Kommunismus machen, und die heute "andere Erscheinungsformen des Unvermeidlichen, wie etwa die verschiedenen angeblichen Gesetze des Marktes und andere unser Leben bestimmende 'unsichtbare Hände'" zum Beweis anführen, dass sich politischer Einsatz des Einzelnen nicht lohnt. "Wir müssen versuchen, eine globale Zivilgesellschaft zu errichten, und wir müssen darauf bestehen, daß die Politik nicht allein eine Technologie der Macht sein darf, sondern eine moralische Dimension haben muss (...) Die Vereinigung Europas sollte deshalb ein Beispiel für die übrige Welt setzen, wie den verschiedenen Gefahren und Schrecken, die uns heute zu verschlingen drohen, zu begegnen ist. Tatsächlich wäre eine solche, mit dem Erfolg der Europäischen Integration eng verbundene Aufgabe eine authentische Erfüllung des europäischen Empfindens weltweiter Verantwortung - und eine erheblich bessere Strategie, als die verschiedenen Probleme unserer modernen Welt einfach auf Amerika zu schieben."

Der niederländische Publizist Paul Scheffer fordert im Forum stärkere Anpassungleistungen von Einwanderern an ihre europäischen Gastländer und kritisiert ganz am Schluss auch die angeblich so große Toleranz der Niederländer (die immerhin zu 20 Prozent eine populistische Partei wählten): "Unsere Toleranz war viel zu oft Gleichgültigkeit."

NZZ, 17.11.2004

Rundum überzeugt und amüsiert berichtet Marcus Stäbler von Peter Konwitschnys höchst origineller Inszenierung der Schönberg-Oper "Moses und Aron". Da führt die politische Elite Deutschlands - Fischer, Westerwelle und Merkel (mit Bayern-Fahne) - den Tanz um das Goldene Kalb auf, nachdem Schröder einen Selbstmordattentäter abgeknallt hat. Darauf "folgt eine wilde erotische Orgie. Männer- und Frauenleiber wälzen sich lüstern durch-, um- und aneinander, während im Orchestergraben brünstig das potente Blech glissandiert; nach und nach schlägt man sich dann durchs Parkett ins Foyer, wo die Party weitergeht. Natürlich ist Moses entsetzt, als er sieht, was sein Bruder da entfacht hat, und stellt ihn zur Rede. Aber der Streit ist sinnlos, denn beide werden am Ende doch von der Bühne verschluckt."

Weiteres: Joachim Güntner zeigt sich gerührt angesichts der neuen publizistischen Mission der Bild-Zeitung, die eine Geiz-ist-geil-Bibel für 9,95 ("geprägt mit falschem Gold auf echtem Kunstleder") auf den lechzenden Markt geworfen hat. Klaus Bartels meditiert über die Etymologie des Wörtchens "modern", und Cornelia Isler-Kerenyi stellt den britischen Archäologen Colin Renfrew vor, dem am 18. November der Balzan-Preis für prähistorische Archäologie übergeben wird.

Besprochen werden eine Aufführung von Philippe Boesmans' Vertonung des "Reigen" in Lausanne, eine Daniel Libeskind-Retrospektive im Barbican Arts Centre in London und Bücher, darunter die "längst fällige" Francesco Guicciardini-Monografie (mehr hier), Marie Darrieussecqs "blitzgescheites Wunderbuch" "Das Baby" und ein neuer Band der groß angelegten Geschichte des europäischen Theaters von Manfred Brauneck (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 17.11.2004

Franz Anton Cramer war beim Leipziger Theater-Festival "euro-scene", das sich den osteuropäischen Nachbarn widmet, und fand die Inszenierungen zum größten Teil mittelmäßig: "Das hat mit Avantgarde und Experiment nichts zu tun. Die euro-scene ist dabei, ihren eigenen Fehleinschätzungen auf den Leim zu gehen und ein internationales Stadttheaterfestival zu werden."

Weitere Artikel: In Times Mager mokiert sich Thomas Fechner-Smarsly über den Vorschlag des Chefvolkswirts der Deutschen Bank, Norbert Walter, Rauchern ihre Rauchpausen vom Lohn abzuziehen. (Und was ist mit Schokoladeessern. Hm? Hm??) Auf der Medienseite beschreibt Dorothee Fesel, wie das Konzept des Videojournalisten die deutsche Medienlandschaft verändert.

Besprochen werden eine Ausstellung mit dem Spätwerk Caravaggios im Museum von Capodimonte in Neapel ("Die finstere und erdrückende Decollazione di San Giovann Battista friert die Enthauptung des Täufers ein zwischen dem Moment des Tods durch das Schwert und dem Abtrennen des Kopfes mit einem Messer, das der entsetzte Henker soeben zücken will. Seinen Namen schrieb der Maler in rot unter die blutige Pfütze vor Johannes Hals", erzählt uns Gabriella Vitiello) und Bücher, darunter Heinrich Manns Kriegstagebücher 1939 - 1940 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 17.11.2004

Holger Liebs eröffnet das von Baumeister Yoshio Taniguchi rundum erneuerte MoMA, dessen "minimalistischen Einheitslook" er zwar nicht ganz überzeugend findet ("Der Torpedo ist zum Tarnkappenbomber geworden"), dem er aber zugesteht: "Das neue MoMA ist jetzt ein bisschen mehr Centre Pompidou als vorher, es ist demokratischer geworden, lichter." Und das bei einem Eintrittspreis von 20 Dollar!

Im Interview erklärt MoMA-Direktor Glenn Lowry seine Intentionen: "Alfred Barr, unser Gründungsdirektor stellte die Genealogie von Strömungen in der Kunst gerne in Diagrammen dar. Aber diese Diagramme lassen sich nicht in eine Abfolge von Galerien verwandeln. Die Architektur zwang den Besuchern bisher eine einzige Lesart der modernen Kunst auf, auch wenn wir selbst nicht daran glaubten. Meine Vorstellung des Museums ist die eines Labors, in dem bestimmte Argumente vertreten werden, doch das letzte Wort hat der Besucher. Die neuen Galerien haben verschiedene Eingänge und Ausgänge. Jeder kann seine eigenen Verbindungen herstellen."

Weiteres: Christoph Wagner erinnert an die Oktoberrevolution des Jazz , mit der sich im Jahre 1964 solche Größe wie Jon Winter, Burton Greene, Bill Dixon, Sun Ra, Paul Bley, Roswell Rudd und Carla Bley in den Olymp der Improvisation katalpultierten. Bei C. Bernd Sucher nährte die "Oskar-Nacht" der Juristen, bei der die angeblich beste Kanzlei Deutschlands gekürt werden sollte, den allfälligen Komplex: "Die Amerikaner beherrschen die Kunst der pompösen Präsentation, während Deutsche nur popelige Auftritte hinkriegen." Katajun Amirpur berichtet von einer islamwissenschaftlichen Tagung in Heidelberg. Auf der Medienseite kündigt Hans-Jürgen Jakobs den Start von Pro Sieben Sat 1 Welt, Haim Sabans deutschem Fernsehen für den amerikanischen Markt. Schließlich eröffnet die SZ noch eine neue Serie: Witze über andere. Das erste Opfer sind die Amerikaner.

Besprochen werden A.C. Newmans Solo-CD "The Slow Wonder", das Debütalbum "Memento" von Booka Shade, ein formidables Khaled-Konzert in München, Sebastian Hartmanns Versuch der "Publikumsbeschimpfung" und Bücher, darunter Pascal Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon" und ein Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).