Heute in den Feuilletons

Pneumatische Prozesse

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2010. Die Welt staunt über Pat Metheny, der sich mit großem Tüftleraufwand ein Orchestrion zusammenbauen ließ. In der NZZ denkt Thomas Hettche über das Soldatische, aber auch über den Pergamon-Altar nach. Die FR fordert ein Wahlrecht für Migranten. Die FAZ begleitet Österreich in seinem verzweifelten Ringen um Restsouveränität. Die SZ erklärt, wie man Regeln der Scharia übernimmt, ohne den Rechtsstaat zu verraten. 

FR, 05.02.2010

"Integrationsunwillig sind wir. Nicht die Ausländer", meint Arno Widmann und möchte gar nicht groß über das Ärgnernis Burka debattieren: "Wer hier lebt, sollte mitbestimmen können darüber, wie hier gelebt wird. Das scheint mir der innerste Kern unserer westlichen Werte. Gegen ihn stimmten zuletzt am 29. Mai 2009 im Bundestag die Abgeordneten von CDU/CSU, SPD und FDP, als sie das Wahlrecht für Migranten ablehnten. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert verweigern wir den hier lebenden Ausländern das demokratische Grundrecht. Wir sollten uns schämen. Wir sollten tätig werden. Wir sollten anfangen, unsere viel beschworenen Werte zu leben. Das ist das beste Mittel, sie attraktiver zu machen."

Die Demokratie als Dienstleistungssystem droht zu scheitern, fürchtet Christian Thomas in einem Report über die katastrophale Finanznot der Kommunen: "In Oberhausen, einer Stadt, die bankrott ist, wird der Busfahrplan zusammengestrichen, Busse fahren nicht mehr bis 23, sondern nur noch bis 21 Uhr - mit Auswirkungen auf die Bilanzen des Theaters, der Kinos, der Kneipen."

Weiteres: In Times mager erzählt Bernhard Bartsch vom unhysterischen Umgang mit Falschgeld in China, das genauso benutzt werde wie echtes: "Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen, solange auch die chinesischen Staatsbanken regelmäßig Blüten in Umlauf bringen." Auf der Medienseite berichtet Daniel Bouhs vom Sparkurs bei der Agentur DAPD, dem unter den neuen Eigentümern Martin Vorderwühlbecke und Peter Löw zusammengelegten Dienst aus ddp und dem deutschen AP-Ableger.

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung des "Fliegenden Holländers" in Amsterdam, das Album "Heligoland" von Massive Attack und der letzte Band von Herbert Marcuses Nachgelassenen Schriften.

Welt, 05.02.2010

Der Jazzgitarrist Pat Metheny hat sich ein Orchestrion zusammenbauen lassen, in dem reale Instrumente mittels Staubsaugergebläsen betätigt und von seiner Gitarre manipuliert werden. Damit geht er jetzt auf Tour, berichtet Michael Pilz: "Was aus der Gitarre kommt, wird in Signale umgewandelt, die magnetische oder pneumatische Prozesse auslösen, um herkömmlichen Instrumenten Klänge zu entlocken. Dafür wurde ein Robotertüftler der New Yorker Universität beschäftigt und Animationsexperten aus der Wüste Kaliforniens." Und wie klingt das Ergebnis? "Wie die Pat Metheny Group".

Weitere Artikel: Keiner bleibt ungepiekt, wenn Manuel Brug mit nadelspitzer Zunge die Holprigkeiten beim Übergang von Fabio Luisi zu Christian Thielemann an der Staatskapelle Dresden kommentiert. Thomas Schmid schreibt zum Tod des Fernsehspielpioniers Dieter Meichsner. Hanns-Georg Rodek kommentiert wohlwollend ein Urteil, das einen australischen Internetprovider von dem Zwang entbindet, Inhalte auf Legalität zu prüfen. Marko Martin wandelt über arabische Straßen und fand in Tunesien Tristesse und im Sultanat Oman Lebensmut und Fortschritt. Wieland Freund stellt zwei mit neuen Formen experimentierende amerikanische Romane vor, Leanne Shaptons "Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris", einen fiktiven Auktionskatalog, der eine gescheiterte Ehe dokumentiert, und Reif Larsens "Die Karte meiner Träume". Und Peter Dittmar schildert nicht immer überzeugende chinesische Versuche angebliche Raubkunst aus westlichen Sammlungen zurückzuholen - die Kunstwerke waren aber meist in den Westen verkauft worden.

Besprochen wird Ligetis Oper "Le grand macabre" in Freiburg und Ausstellung mit Randzeichnungen von Autoren in Marbach.

Auf der Magazinseite unterhält sich Elisalex Henckel mit dem (übrigens deutschen) Zeichner Alexander Segert, der die Plakate für die populistische Schweizer Partei SVP entworfen hat, unter anderem das Plakat für die Minarettverbotskampagne.

NZZ, 05.02.2010

Der Schriftsteller Thomas Hettche denkt über das Soldatische nach, das hierzulande keinen rechten Platz mehr finden will. Eindringlicher als jedes Bundeswehr-Mahnmal findet er den Pergamon-Altar: "Dadurch, dass jeder der Sterblichen, der dort stirbt - zertreten, durchbohrt, gewürgt oder zerrissen -, im Moment seines Sterbens aus der Dichotomie von Freund und Feind herausgelöst wird, wird er wieder zu einem Einzelnen, der keiner Armee mehr angehört, ist in seinem individuellen Tod allein und ergreift uns gerade in dieser Einsamkeit."

Hubertus Adam hat jetzt doch ein bemerkenswerteste Bauwerk entdeckt, das die "Mediaspree"-Pläne Berlin beschert haben: das vom Basler Büro HHF Architekten entworfene Modezentrum "Labels 2" an der Stralauer Allee: "Für die Architekturszene Berlins, die gerade dabei ist, sich nach den lähmenden Jahren einer ästhetischen Stagnation neu zu finden, ist 'Labels 2' Meilenstein und Signal des Aufbruchs zugleich."

Besprochen werden eine siebzig CDs umfassende Edition mit Aufnahmen des Jahrhundertpianisten Vladimir Horowitz, eine Ausstellung zum deutschen Impressionismus in der Kunsthalle Bielefeld.

TAZ, 05.02.2010

Auf den Tagesthemenseiten berichtet Klaus-Peter Klingelschmitt über eine heftige Diskussion, die in Völklingen über den geplanten Bau eines Minaretts für die seit 20 Jahren im Stadtteil Wehrden ansässige Moschee entbrannt ist. Bei einer Bürgerversammlung konnten jetzt rund 200 Teilnehmer auf Kärtchen ihre Argumente darlegen. Moschee und Minarettbau werden von der Ditib finanziert, die der türkischen Regierung untersteht. "'Wir werden von den Türken schleichend unterwandert!', hatte einer notiert. Ein anderer meinte, glaubte, dass ein Minarett die Wohnqualität im Stadtteil beeinträchtigen würde, und gleich mehrere meinten, ein Minarett habe in 'Deutschland nichts zu suchen', weil in der Türkei auch keine Kirchen gebaut werden dürften. Die wenigen Befürworter verwiesen auf die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit und klagten bei ihren Mitbürgern 'mehr Toleranz' ein."

Im Kulturteil informiert Andreas Hartmann über das diesjährige Club-Transmediale-Festival in Berlin, wo neben dem Musikprogramm diesmal auch über Musik in Koppelung an ihre technischen, sozialen und kulturellen Bedingungen geredet wird. Uh-Young Kim unterhält sich mit dem afrobritischen Musiker Daddy G, der nach einer kreativen Auszeit wieder zu seiner Band Massive Attack zurückgekehrt ist. Und in tazzwei sammelt fra. philosophische Einschätzungen zum Kauf gestohlener Steuerdaten. Rene Descartes etwa wäre wohl dafür, denn: "Alles Wissen besteht in einer sicheren und klaren Erkenntnis. Peter Sloterdijk verweigerte gestern leider jede Auskunft: 'Keine Zeit, ich habe gleich einen wahnsinnig wichtigen Termin mit meinem Steuerberater'."

Besprochen wird das Album "No Rest" des New Yorker Duos Christy&Emily.

Und Tom.

FAZ, 05.02.2010

"So viel Dummheit in einem Land von solcher Schönheit" - das schrieb Heribert Prantl in einem Gastkommentar für den Wiener Standard. Dirk Schümer zitiert das und will in seiner Tour d'Horizon durch den aktuellen Zustand des österreichischen Fremden- und Selbsthasses gar nicht widersprichen: "Das so lange reduzierte und beschnittene, das in seiner Ehre gekränkte, nicht genug gewürdigte Österreich kämpft verbissen um seine Restsouveränität - und sei es bei einem 'Stockerlplatz' im Kitzbüheler Abfahrtslauf. Oder, wie vorige Woche, mit einem peinlichen, sofort wieder zurückgezogenen Werbespot fürs Bundesheer, in dem ein paar Mädel wollüstig einem rotweißroten Panzer hinterherhecheln."

Weitere Artikel: Rose-Maria Gropp kommentiert bissig den neusten Rekordwert auf dem Kunstmarkt: Eine Giacometti-Skulptur (Schreitender I) geht für mehr als 60 Millionen Pfund aus den Händen der Commerzbank vermutlich gen Osten. Andreas Rossmann findet den Umbau der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein in Essen zum Ruhr Museum im Rahmen des Möglichen zwar recht gelungen - vermisst aber dennoch "Weite, Helle, Tageslicht, Großzügigkeit". Harlan Jacobson berichtet vom wichtigsten US-Filmfestival Sundance. In seiner Kunst-Kolumne erinnert sich Eduard Beaucamp an ein nächtliches Bargespräch mit dem Kunsthändler und Auschwitz-Überlebenden Jan Krugier. Hans-Christian Rössler teilt mit, dass der Eichmann-Prozess in Israel fortan fester Lehrplanstoff ist. Gemeldet wird, dass Orhan Pamuk sein "Museum der Unschuld"-Projekt aus dem Kontext des Kulturhauptstadtjahrs zurückgezogen hat und die Förderung zurückzahlt. Auf der Medienseite kennt und nennt Michael Hanfeld viele Zahlen aus dem Bericht der Kommission, die den Finanzbedarf der Öffentlich-Rechtlichen ermittelt (mehr auch hier). Er teilt auch mit, dass der Grünen-Vorstoß zu einer Normenkontrollklage gegen das ZDF bei den anderen Parteien (die Linken ausgenommen) auf außerordentlich wenig Gegenliebe stößt. (Es braucht für die Klage zwölf Überläufer im Bundestag.)

Besprochen werden ein Laura-Veirs-Konzert in Köln, die Ausstellung "Mecki - Sechzig Jahre Comic-Abenteuer" im Wilhelm-Busch-Museum Hannover und Bücher, darunter Arno Geigers neuer Roman "Alles über Sally" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.02.2010

Mit dem Blick auf auch hierzulande längst geübte Rechtspraxis erläutert Andreas Zielcke, "wie man Regeln der Scharia übernimmt, ohne den Rechtsstaat zu verraten". So nämlich, zum Beispiel: "Damit ausländisches Recht nicht das hiesige Rechtssystem beschädigt, ist der Filter des 'ordre public' davorgeschaltet, der Filter der zwingenden Rechtsprinzipien. Polygamie etwa ... kann den Filter nicht passieren - es sei denn, die Sperre würde die verheirateten Frauen benachteiligen. Stirbt der Ehemann und hinterlässt mehrere Witwen, dann verteilt das deutsche Sozialrecht die Rentenansprüche auf sie alle. Denn jede hat nach ihrem Herkunftsrecht wirksam geheiratet und auf den daraus folgenden Versorgungsanspruch vertraut."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck informiert über den Stand der Ermittlungen im Finanzskandal bei den Salzburger (Oster)-Festspielen. Karl Bruckmaier kommentiert die Grammy-Verleihung. Der erklärte Mitte-Rechts-Amerikaner John Hulsman behauptet, dass Barack Obama eine Mitte-Links-Politik mache- und dass er, Hulsman, sowie die Mitte-Rechts-Mehrheit des amerikanischen Volks so nicht gewettet hätten. Alexander Menden berichtet über den 60-Millionen-Pfund-Weltrekord-Verkauf einer Giacometti-Skulptur an, vorläufig jedenfalls, Unbekannt. Ultraorthodoxe Juden in Israel haben, wie Julia Amalia Heyer informiert, neuerdings striktestes Internet-Verbot. Gemeldet wird, dass es noch vor Erlöschen der Urheberrechte im Jahr 2015 eine kritische Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" geben soll. Johannes Boie stellt in der Rubrik "Kleine Helfer" die Website Imo.im, die dieselben Funktionen wie Chat- und Telefonprogramme beherrscht - nur dass man keine Software installieren muss. Doris Kuhn gratuliert dem Schweizer Künstler HR Giger, Holger Liebs dem Künstler Panamarenko zum Siebzigsten.

Besprochen werden ein Münchner Konzertabend mit dem Cembalisten Gustav Leonhardt, die Ausstellung "George Seurat - Figur im Raum" in der Frankfurter Schirn, Uli Edels Film über und mit Bushido "Die Zeiten ändern dich" (den Jens-Christian Rabe zwar künstlerisch misslungen, im Kontext der Islamkritik-Debatte aber interessant findet) und Bücher, darunter neue Taschenbücher und Thomas Strässles Studie "Salz" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).