Efeu - Die Kulturrundschau

Tanzsieg über alle ideologische Schwerkraft

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2016. Die NZZ folgt dem Fotografen Thomas Kern durch Haitis Geisterlandschaft. Lola Arias' Berliner Theaterabend "Atlas des Kommunismus stößt bei taz und FAZ auf ein geteiltes Echo, die Nachtkritik ist allerdings begeistert von Marta Malikowskas Ritt gegen Polens neue Heimatwehr. Der Tagesspiegel erlebt aufgebrachte Ballett-Mamas vor dem Berliner Staastballett. In der SZ spricht die malische Muskerin Fatoumata Diawara über ihr von Islamisten drangsaliertes Land. Und in ersten Meldungen trauern die Zeitungen um Andrzej Wajda.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.10.2016 finden Sie hier

Bühne


Die Dummheit der DDR: Lola Arias' Atlas des Kommunismus am Berliner Gorki-Theater. Foto: Ute Langkafel

Mit Lola Arias' Dokumentartheater-Abend "Atlas des Kommunismus" hat am Berliner Maxim Gorki Theater das Festival "Uniting Backgrounds" begonnen. Für Barbara Behrendts Geschmack war der Abend angesichts seines raumgreifenden Titels deutlich zu DDR-fixiert, wie sie in der taz schreibt. Zwar sei der Abend "informativ, oft eindrücklich, tut aber keinem weh". Und am Ende stand dann noch ein linksbewegtes Klischee: "'Die Dummheit der DDR ist kein Beweis gegen den Kommunismus.' Zu banal ist das als Bilanz." Ganz anders sieht es Irene Bazinger in der FAZ: "Dieses empathisch-subtile dokumentarische Theater funktioniert bestens und spannend, ist interessant und kunstfertig gestaltet, fast nie pädagogisch, sondern oft ziemlich komisch. ... Lola Arias animiert demokratisch zur Freiheit des Denkens, huldigt herzlich ihrem souveränen Ensemble und legt mit ihm eine hinreißende Inszenierung auf den hellen, frischen Holzboden: als Tanzsieg über alle ideologische Schwerkraft."

Instruktiv und packend fand Christian Rakow in der Nachtkritik auch das Vorspiel im Gorki Studio, bei dem Krzysztof Minkowski in der Reihe "Mythen der Wirklichkeit" das neue Polen sezierte: "Mit wohlgetimter Wandlungsfreude bewegt sich die furiose Marta Malikowska in dieser One-Woman-Show durch EU-Skepsis und Heimatwehrideologie der Politeliten.

Bei der Premiere von Nacho Duatos zuvor bereits 2013 in Moskau gezeigter "Nussknacker"-Choreografie am Staatsballett Berlin haben jetzt auch die Mütter des Ballettnachwuchses gegen die geplante Intendanz von Sasha Waltz protestiert, wie Sandra Luzina im Tagesspiegel erstaunt berichtet: Auf Turbulenzen war sie zwar gefasst, doch "dass hier eine neue Unterkategorie des Wutbürgers, die aufgebrachte Ballett-Mama, auf den Plan treten würde, ist doch frappierend." Die Proteste setzten sich bis in den Saal und die Aufführung fort, erfahren wir weiter. Die Choreografie selbst wollte Luzina unterdessen wenig gefallen, das Publikum feierte das Ensemble dennoch wie Weltstars: "Man hätte sich gewünscht, dass das Staatsballett nach den Protestaktionen der letzten Wochen mal wieder mit künstlerischer Qualität auf sich aufmerksam macht. Doch der Abend enttäuscht. Dass es der Compagnie mittlerweile an Glanz fehlt, ist nicht zu übersehen." In der Berliner Zeitung berichtet Michael Schlagenwerth, sie fand den Protest "schlicht unwürdig" und verdächtigt als Strippenzieher die Stellvertretende Intendantin Christiane Theobald.

Besprochen werden die Uraufführung von Konstantin Küsperts Stück "Europa verteidigen" in Bamberg (nachtkritik), der Anti-AfD-Abend "Safe Places" von Falk Richter und Anouk van Dijk am Schauspiel Frankfurt (Nachtkritik), der Strawinsky-Doppelabend "Petruschka/Sacre" am Ballett Zürich (NZZ), der Saisonauftakt am Burgtheater mit "Torquato Tasso" und "Coriolan" (SZ) sowie Alice Buddebergs Inszenierung von Fritz Katers, also Armin Petras' "Love you, Dragonfly" am Theater Bonn (nachtkritik, SZ).
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Literatur

In der FAZ berichtet Kerstin Holm vom Literaturfestival in Odessa, bei dem sich auch zeigte, wie Europas Flüchtlingskrise  die Ukraine verunsichert: "Das Land sei zerrissen, die meisten Westukrainer kennen Polen besser als den ukrainischen Osten, erklärt der Kiewer Journalist Artjom Tschapeie, und Ostukrainer hätten mehr mit Russland zu tun als mit ihren Landsleuten im Westen. Vielleicht werden deswegen Russen, die vor Putin in die Ukraine fliehen, nicht häufiger als Flüchtlinge anerkannt als Syrer, nämlich in etwa drei Prozent der Fälle."

Die Zeit hat Iris Radischs kontroverses Gespräch mit Navid Kermani online nachgereicht (hier unser Resümee). Die FAZ dokumentiert Jenny Erpenbecks Dankesrede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises.

Besprochen werden Reinhard Kaiser-Mühleckers für den Deutschen Buchpreis nominierter Heimatroman "Fremde See, dunkler Wald" (Tagesspiegel), Cyril Pedrosas Comic "Jäger und Sammler" (taz), Benjamin von Stuckrad-Barres neues Büchlein "Nüchtern" (Tagesspiegel) und Terézia Moras "Die Liebe unter Aliens" (Tagesspiegel). Mehr aus dem literarischen Leben auf unserem Metablog Lit21.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Olav H. Hauges Gedicht "Wie lang hast du geschlafen?":

"Das wagst du,
schlägst die Augen auf
und schaust dich um?
..."
Archiv: Literatur

Kunst


Pilgerfahrt nach Saut d'Eau, Ville de Bonheur, 2008. Foto: Thomas Kern

Sanft an die Hand genommen fühlt sich Daniele Muscionico in der NZZ vom Fotografen Thomas Kern, der in einer großen Ausstellung im Fotostiftung Winterthur durch Haiti führt: "Man sagt, Haiti sei zu dreißig Prozent protestantisch, zu siebzig Prozent katholisch und zu hundert Prozent Voodoo. Alles ist Voodoo, Wurzel und Humus. Die Schau liefert dazu die Bilder. Es sind vor allem die Voodoo-Aufnahmen, jene am bekannten Pilgerort, dem Wasserfall von Saut d'Eau, die Kerns Motivation und Arbeitsweise am schönsten zeigen: Fern von Klischees ist er ein Zeuge von Ereignissen, die größer sind als der Ausschnitt seiner Bilder. Er inszeniert nicht, arrangiert nicht, er wartet und ist anwesend. Kern stellt Ereignisse nicht in ein dramatisches Licht, er greift, selbstbewusst, auf sein Kompositionstalent zurück und auf seine Intuition. So verdichten sich die reduzierten, quadratischen Rolleiflex-Bilder zu einem Geschichtengewebe."

In einem online nachgereichten Zeit-Artikel schreibt Jörg Scheller über die Arbeiten des deutschen Künstlers Kai Althoff, dem das MoMA in New York derzeit eine große Ausstellung widmet. Sein Material bezieht Althoff aus den eigenen Kindheitserinnerungen und dem Nährboden der deutschen Geschichte. Bei ihm "schimmert das Historische, ob Deutscher Herbst, Kölner Lokalgeschichte oder Achtziger-Jahre-Clubkultur, stets wie durch mehrere Schichten opaken Gewebes hindurch." Ein Fall also für die auch schon ins Alter gekommene Postmoderne? Schon, "sollten sich aber die allerorten auftrumpfenden neokonservativen Bewegungen mit ihren Kulten um Essenz und Stabilität etablieren, könnten Waberwerke wie das von Althoff eine ungeahnte Brisanz entfalten."

Weiteres: Für den Tagesspiegel porträtiert Nicola Kuhn die derzeit mit einer Schau im Kolbe-Museum gewürdigte Künstlerin Alexandra Ranner. In der FAZ-Reihe über schlechte Bilder guter Künstler schreibt der Kunsthistoriker Peter Geimer über Félix Vallottons "Perseus, den Drachen tötend", das er auch deshalb als "unangenehm" empfindet, weil Vallotton Tabus breche, "die längst hundertfach gebrochen sind". Der ansonsten auf Starporträts spezialisierte Fotograf Martin Schoeller lichtet für Instagram Obdachlose aus Los Angeles ab, um Geld für eine Suppenküche zu sammeln, berichtet Jürgen Schmieder in der SZ.

Besprochen werden die Ausstellung "Yokohama 1868-1912 - Als die Bilder leuchten lernten" im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt (FR) und die Ausstellung "Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter" in der Fondation Beyeler in Basel (FAZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Besprochen wird die Ausstellung "Alle wollen wohnen" auf dem Clouth-Gelände in Köln über die Geschichte und Gegenwart des Wohnungsbaus (FAZ).
Archiv: Architektur
Stichwörter: Wohnungsbau

Musik

In der SZ spricht die malische Musikerin Fatoumata Diawara mit Jonathan Fischer über die Rolle der Musik in ihrem von Islamisten drangsalierten Heimatland: "Aus gutem Grund nehmen die Islamisten als Erstes uns Musiker ins Visier: Weil wir den Menschen ihre Identität und ihre Würde geben. Ihre Gehirnwäsche funktioniert erst, wenn sie uns mundtot gemacht haben. 2012 wurden nach der Besatzung von Malis Norden durch islamistische Rebellen alle Musiker mit dem Tod bedroht und vertrieben. ... Am Ende hat die Krise auch etwas Gutes gebracht. Wir haben unsere Musik vorher für selbstverständlich genommen. Jetzt wächst das Bewusstsein für die Einmaligkeit unserer Kultur." Derzeit läuft Lutz Gregors Dokumentarfilm "Mali Blues" in den Kinos. Auch in Abderrahmane Sissakos Film "Timbuktu" war Diawara zu sehen und zu hören:



Weiteres: In der SZ berichtet Wolfgang Schreiber von einem Hans Zender gewidmeten Konzert bei der Münchner Musica Viva. Torsten Wahl spricht für die Berliner Zeitung mit Reinhard Repke, der für seine "Club der toten Dichter"-Konzertreihe Charles Bukowski vertont hat. Für die Berliner Zeitung plaudert Cornelia Geißler mit Wolf Biermann. Kim Kelly spricht für Vice mit Dylan Carlson über dessen Soloalbum, auf dem der Gitarrist der Drone-Band Earth sich mit der Geschichte der Feen auseinandersetzt.

Besprochen werden ein Konzert von Isolation Berlin (FR), Scott Walkers "The Childhood of a Leader" (The Quietus, Pitchfork), Norah Jones' "Day Breaks" (online nachgereicht von der SZ), Suzanne Vegas neues Album "Lover, Beloved: Songs From An Evening With Carson McCullers" (Spex), "Welt in Klammern" von All diese Gewalt (The Quietus), das neue Album "Fires Within Fires" von Neurosis (The Quietus), das neue Album von Punkveteran Bob Mould (FR), Florian Heckers Auftritt in Frankfurt (FR), ein Konzert der Vibraphonistin Izabella Effenbert (FR) und das neue Album der Pixies ("knapp und süffig wie eh und je", urteilt Wolfang Schneider in der FAZ).
Archiv: Musik

Design


Konnte nicht nur Kultur, sondern auch Revolte: Willy Flecks "Twen"-Cover von 1963 und 1966.

Mladen Gladic besucht für die Welt im Kölner Museum für angewandte Kunst die Schau zum großen Grafiker und Buchgestalter Willy Fleckhaus: "Fleckhaus' Gestaltung der edition Suhrkamp in den Farben des Regenbogens, die aus der BRD noir ab 1964 eine paratextuelle BRD kunterbunt machte, sorgte auch dafür, dass man solche Bücher nicht einfach mehr herumliegen ließ, um sie nach der Lektüre - die für Adorno gar nicht erst so heißen konnte, sondern eher schnöden Konsum bedeutete - so einfach 'herunterzufegen'."

Für die SZ bespricht Thomas Steinfeld die Ausstellung "Culture Chanel - La donna che legge" im Ca' Pesaro in Venedig.
Archiv: Design

Film

Der große polnische Regisseur Andrzej Wajda ist tot. Das meldet neben vielen anderen auch die SZ: Ende September hatte der 90-Jährige noch beim polnischen Filmfest in Gdynia seinen neuesten Film "Powidoki" über den polnischen Maler Władysław Strzemiński vorgestellt.

Wajda war einer der renommiertesten Filmregisseure Polens: "Asche und Diamant" (1958), "Der Mann aus Marmor" (1977) oder "Der Mann aus Eisen" (1981) wurden weltweit gefeiert. Seinen Revolutionsfilm "Danton" haben ihm die Franzosen allerdings etwas übel genommen, wie Ulrich Schmid in seinem Nachruf in der NZZ erzählt: "Die berühmte Verfilmung von Stanislawa Przybyszewskas Revolutionsdrama 'Danton' (1983) mit Gérard Depardieu in der Titelrolle wurde sofort als historische Allegorie verstanden: Der eiskalte und fanatische Robespierre erscheint als Doppelgänger des linientreuen Generals Jaruzelski, während der lebensfrohe und volksnahe Danton deutlich Walesas Züge trägt. Nicht überall war man über diese Schwarz-Weiß-Malerei amüsiert: Der damalige Präsident Mitterrand verließ eine Spezialvorführung der französischen Cinémathèque mit versteinerter Miene, weil er in der Darstellung des skrupellosen Robespierre auch die Ideale der französischen Revolution diffamiert sah."

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