Vorgeblättert

Leseprobe zu Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Teil 2

01.02.2007.
(S. 161 - 174)
8. Kapitel

Großbritanniens Erfolge

Großbritannien, das ich 1953 zum ersten Mal als Student aufsuchte, hat in sehr beeindruckender Weise Raum für verschiedene Kulturen geschaffen. Der Weg, den es dabei zurückgelegt hat, ist in mancherlei Hinsicht recht außergewöhnlich. Ich erinnere mich (ziemlich gern, wie ich zugeben muß) an meine erste Vermieterin in Cambridge, die sich Sorgen darüber machte, meine Hautfarbe könnte im Bad abgehen (ich mußte ihr versichern, daß mein Farbton robust und strapazierfähig sei), und mir angelegentlich erklärte, daß die Schrift eine spezielle Erfindung der westlichen Kultur sei ("das haben wir der Bibel zu verdanken"). Für jemanden, der die Entwicklung der kulturellen Vielfalt Großbritanniens - mit Unterbrechungen, aber über lange Zeiträume - miterlebt hat, ist der Kontrast zwischen dem Land heute und dem vor fünfzig Jahren einfach verblüffend.

     Die Förderung der kulturellen Vielfalt hat das Leben der Menschen jedenfalls sehr bereichert und dazu beigetragen, daß Großbritannien zu einem in vieler Hinsicht ungewöhnlich anregenden Land geworden ist. Von den Freuden der multikulturellen Küche, Literatur, Musik, Tanzkunst und der Künste bis zur berauschenden Verführung des Karnevals von Notting Hill gibt Großbritannien seinen Menschen mit all den verschiedenen Hintergründen vieles, was sie genießen und schätzen können. Zudem hat die Akzeptanz der kulturellen Vielfalt (zusammen mit dem Wahlrecht und der weitgehenden Abwesenheit von Diskriminierung in Behörden und Sozialämtern) es den Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft leichter gemacht, sich hier zu Hause zu fühlen.

     Man muß jedoch daran erinnern, daß es selbst in Großbritannien nicht immer einfach war, unterschiedliche Lebensweisen und abweichende kulturelle Prioritäten zu akzeptieren. Immer wieder wurde hartnäckig gefordert, die Einwanderer sollten ihre herkömmliche Lebensart aufgeben und die dominierenden Lebensweisen der Gesellschaft, in die sie eingewandert waren, übernehmen. Diese Forderung hat bisweilen eine sehr ins Detail gehende Sicht der Kultur mit minutiösen Verhaltensnormen vertreten, wofür der berühmte "Cricket-Test", ein Vorschlag des gefürchteten Lord Tebbit, des zu Recht berühmten Vorsitzenden der Konservativen, ein treffendes Beispiel ist. Der Test verlangt, daß ein gut integrierter Einwanderer bei Testspielen, in denen England gegen das Herkunftsland (zum Beispiel Pakistan) antritt, den Engländern zujubelt.

     Um zunächst etwas Positives zu sagen, hat Tebbits "Cricket-Test" den beneidenswerten Vorzug der Eindeutigkeit und verhilft dem Einwanderer zu einem ungemein klaren Verfahren, seine Integration in die britische Gesellschaft unter Beweis zu stellen: "Juble dem englischen Cricket-Team zu, und alles ist in Ordnung!" Denn sonst könnte die Aufgabe des Einwanderers, zu zeigen, daß er wirklich in die britische Gesellschaft integriert ist, recht anstrengend sein, und sei es nur, weil nicht mehr so einfach festzustellen ist, welches die in Großbritannien dominierende Lebensweise ist, der sich der Einwanderer anpassen soll. Curry zum Beispiel ist heute auf dem britischen Speiseplan so allgegenwärtig, daß es vom britischen Fremdenverkehrsamt als "typisch britische Kost" vorgestellt wird. Bei der GCSE-Prüfung (General Certificate of Secondary Education) die Schüler mit etwa siebzehn Jahren ablegen, wurden im Jahre 2005 unter der Rubrik "Freizeit und Tourismus" die beiden folgenden Aufgaben gestellt: "Nenne abgesehen von indischen Gerichten eine andere Art von Gericht, die von vielen Restaurants mit Straßenverkauf angeboten wird" und "Beschreibe, was Käufer tun müssen, um von einem indischen Restaurant mit Straßenverkauf zu Hause beliefert zu werden". Der konservative Daily Telegraph beklagte in einem Bericht über diese landesweit einheitliche Prüfung nicht etwa eine kulturelle Einseitigkeit, sondern die "Leichtigkeit" der Aufgaben, die jeder in Großbritannien ohne besondere Schulung lösen können sollte.

     Auch erinnere ich mich, kürzlich in einer Londoner Zeitung eine definitive Beschreibung des unzweifelhaft Englischen an einer Engländerin gelesen zu haben: "Sie ist so englisch wie Osterblumen und Huhn Tikka Masala." Angesichts all dessen wird ein Einwanderer aus Südasien ohne Tebbits freundliche Hilfe wohl ein bißchen ratlos sein, was denn als bombensicherer Test des spezifisch Britischen gelten kann, dem der Zugereiste sich anpassen soll. Der vorstehenden Erörterung, die von manchen vielleicht als unernst empfunden wird, liegt das ernste Problem zugrunde, daß die Vielzahl der interkulturellen Kontakte gegenwärtig in aller Welt eine solche Hybridisierung der Verhaltensformen bewirkt, daß es schwerfällt, eine "lokale Kultur" als wirklich einheimische von zeitloser Geltung auszumachen. Aber dank Lord Tebbit kann die Aufgabe, seine "Britishness" zu beweisen, schön algorithmisch und wunderbar einfach werden (so einfach wie die Lösung der eben zitierten GCSE-Aufgaben).

     Lord Tebbit hat kürzlich des weiteren geäußert, daß die Anwendung des von ihm vorgeschlagenen "Cricket-Tests" dazu beigetragen hätte, die Terroranschläge von britischstämmigen Militanten pakistanischer Abstammung zu verhindern: "Wäre man meinen Empfehlungen gefolgt, wären diese Anschläge weniger wahrscheinlich gewesen." Diese selbstgewisse Vorhersage, denkt man unwillkürlich, unterschätzt vermutlich die Leichtigkeit, mit der ein angehender Terrorist - mit oder ohne Ausbildung von Al Qaida - den "Cricket-Test" bestehen und dem englischen Cricket-Team zujubeln könnte, ohne an seinem sonstigen Verhalten auch nur ein Jota zu ändern.

     Ich weiß nicht, wie sehr Lord Tebbit sich für Cricket interessiert. Wenn einem das Spiel Spaß macht, hängt es von verschiedenen Faktoren ab, ob man der einen oder der anderen Seite zujubelt, darunter natürlich auch von der eigenen nationalen Identität oder der Identität des eigenen Wohnorts, aber auch von der spielerischen Qualität und davon, ob das Spiel und die Serie insgesamt interessant sind. Der Wunsch nach einem bestimmten Ergebnis ist oft von Zufälligkeiten abhängig, weshalb nicht so einfach gefordert werden kann, man habe stets und unfehlbar nur ein Team (das englische oder ein anderes) anzufeuern. Ich muß gestehen, daß ich ungeachtet meiner indischen Herkunft und Nationalität manchmal dem pakistanischen Cricket-Team zugejubelt habe, nicht nur, wenn es gegen England, sondern auch, wenn es gegen Indien spielte. Während der Indien-Tour des pakistanischen Teams im Jahre 2005, bei der Pakistan die beiden ersten ganztägigen Spiele aus einer Serie von sechs verlor, habe ich beim dritten Spiel Pakistan angefeuert, damit die Serie lebendig und interessant blieb. Dabei hat Pakistan all meine Hoffnungen weit übertroffen und die restlichen vier Spiele alle gewonnen, so daß Indien mit zwei zu vier eine derbe Niederlage erlitt (wieder ein Beispiel für den "Extremismus" Pakistans, über den sich die Inder so beklagen!).

     Ein ernsteres Problem besteht in der offenkundigen Tatsache, daß Mahnungen, wie sie sich in Tebbits "Cricket-Test" niedergeschlagen haben, völlig irrelevant für die Pflichten sind, die sich aus der britischen Staatsangehörigkeit oder dem dortigen Wohnsitz ergeben, wie etwa die Beteiligung am britischen politischen Leben, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Großbritanniens oder der Verzicht aufs Bombenbauen. Auch haben sie nichts mit alldem zu tun, was vonnöten sein mag, um ganz in das Leben des Landes eingebunden zu sein. Diese Punkte wurden im post-imperialen Großbritannien rasch aufgegriffen, und ungeachtet solcher Ablenkungsmanöver wie Tebbits Einladungen zum "Cricket-Test" hat der auf Inklusion zielende Charakter der politischen und sozialen britischen Traditionen dafür gesorgt, daß abweichende kulturelle Muster innerhalb des Landes in einem multiethnischen Großbritannien als völlig akzeptabel empfunden werden konnten. Es gibt, was nicht erstaunlich ist, viele Einheimische, die diesen historischen Trend nach wie vor für einen großen Fehler halten, und diese Mißbilligung geht oft einher mit einem tiefen Groll darüber, daß Großbritannien überhaupt zu einem solch multiethnischen Land geworden ist (bei meiner letzten Begegnung mit einem Verärgerten an einer Bushaltestelle bekam ich plötzlich zu hören: "Ich habe euch alle durchschaut", aber ich war enttäuscht, daß mein Informant mir nicht mehr darüber sagen wollte, was er entdeckt hatte). Die öffentliche Meinung in Großbritannien ist jedoch oder war jedenfalls bis vor kurzem mehrheitlich entschieden dafür, kulturelle Vielfalt zu dulden und sogar zu schätzen.

     All das und die einschließende Wirkung des Wahlrechts sowie des diskriminierungsfreien öffentlichen Dienstes haben zu einem Frieden zwischen den Ethnien beigetragen, dessen sich namentlich Frankreich letzthin nicht erfreuen konnte. Gleichwohl bleiben einige der zentralen Probleme des Multikulturalismus gänzlich ungelöst, und diese möchte ich nun aufgreifen.


Probleme des pluralen Monokulturalismus

Ein wichtiges Problem ist die Unterscheidung zwischen Multikulturalismus und dem, was man "pluralen Monokulturalismus" nennen könnte. Gilt die Existenz einer Vielfalt von Kulturen, die möglicherweise wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeifahren, als gelungenes Beispiel für Multikulturalismus? Die Unterscheidung ist, da Großbritannien gegenwärtig hin- und hergerissen ist zwischen Interaktion und Isolation, von zentraler Bedeutung (und zudem relevant für die Frage von Terrorismus und Gewalt).

     Lassen Sie mich, um auf die besagte Unterscheidung zu sprechen zu kommen, mit einem Vergleich beginnen und feststellen, daß die indische und die britische Küche wahrhaft beanspruchen können, multikulturell zu sein. Indien kannte keine Chilischoten, bis die Portugiesen sie aus Amerika nach Indien brachten, aber heute werden sie in einer Vielzahl indischer Gerichte benutzt und scheinen ein dominierender Bestandteil der meisten Sorten von Currysoße zu sein. So ist Chili in mundverbrennender Fülle in Vindaloo enthalten, das, wie der Name anzeigt, die Erinnerung der Einwanderer an eine Mischung von Wein mit Kartoffeln bewahrt. Desgleichen mag die Tandoori-Zubereitung in Indien perfektioniert worden sein, aber ursprünglich kam sie aus Westasien nach Indien. Currypulver dagegen ist eine entschieden britische Erfindung, die man vor Lord Clive in Indien nicht kannte und die, wie ich vermute, im Kasino der britischen Armee entwickelt wurde. Und in erlesenen indischen Restaurants in London erleben wir gerade die Anfänge eines neuen Stils, indische Gerichte zuzubereiten.

     Wenn dagegen zwei Stile oder Traditionen nebeneinander existieren, ohne sich zu treffen, muß man eigentlich von einem "pluralen Monokulturalismus" sprechen. Die lautstarke Verteidigung des Multikulturalismus, die wir dieser Tage häufig vernehmen, ist oft nichts anderes als ein Plädoyer für pluralen Monokulturalismus. Wenn ein junges Mädchen aus einer konservativen Einwandererfamilie sich mit einem englischen jungen Mann verabreden möchte, ist das sicherlich ein multikultureller Schritt. Versuchen ihre Aufpasser sie jedoch daran zu hindern (was recht häufig geschieht), ist das kaum als multikulturelle Maßnahme zu betrachten, denn in diesem Fall geht es ja gerade darum, die Kulturen voneinander abzuschotten. Dennoch erhält das elterliche Verbot, das zum pluralen Monokulturalismus beiträgt, sehr lautstarke Unterstützung von seiten angeblicher Multikulturalisten, die als Begründung anführen, es gelte die traditionellen Kulturen zu achten, so als sei die Freiheit der jungen Frau überhaupt nicht von Bedeutung und als müßten die verschiedenen Kulturen gewissermaßen in abgeschotteten Schubladen verharren.

     In eine bestimmte soziale Umgebung hineingeboren zu sein ist an sich, wie schon erwähnt, keine Ausübung kultureller Freiheit, denn es handelt sich nicht um einen Wahlakt. Die Entscheidung hingegen, an der traditionellen Lebensweise festzuhalten, wäre eine Ausübung von Freiheit, falls die Wahl nach der Erwägung anderer Alternativen getroffen würde. Als eine solche Ausübung von Freiheit müßte auch die Entscheidung gelten, vom überkommenen Verhaltensmuster mehr oder weniger abzurücken, wenn man nach reiflicher Überlegung zu ihr gelangt ist. Kulturelle Freiheit kann in der Tat häufig mit kulturellem Konservatismus kollidieren, und wenn man im Namen der kulturellen Freiheit für den Multikulturalismus eintritt, kann man sich nicht standhaft und uneingeschränkt dafür aussprechen, jemand habe unerschütterlich an seiner überkommenen kulturellen Tradition festzuhalten.

     Das zweite Problem hängt mit dem in diesem Buch häufig angesprochenen Umstand zusammen, daß Religion oder Ethnizität zwar eine wichtige Identität für Menschen sein kann (besonders wenn sie die Freiheit haben, zwischen der Wertschätzung oder der Ablehnung überkommener oder zugeschriebener Traditionen zu wählen), daß es für sie aber auch andere Zugehörigkeiten und Verbindungen gibt, die zu schätzen sie ebenfalls Anlaß haben. Der Multikulturalismus kann sich - es sei denn, er würde sehr merkwürdig definiert - nicht über das Recht eines Menschen hinwegsetzen, an der Zivilgesellschaft teilzunehmen, sich am politischen Leben des Landes zu beteiligen oder ein sozial unangepaßtes Leben zu führen. Und im übrigen darf der Multikulturalismus, so wichtig er auch ist, nicht dazu führen, daß den Geboten einer traditionellen Kultur automatisch Vorrang vor allem anderen gegeben wird.

Man darf, wie schon erwähnt, die Menschen dieser Welt nicht nur unter dem Aspekt ihrer religiösen Zugehörigkeiten betrachten, als eine Föderation von Religionen. Aus denselben Gründen darf ein multiethnisches Großbritannien nicht als eine Ansammlung von ethnischen Gemeinschaften betrachtet werden. Doch der "föderative" Standpunkt hat im heutigen Großbritannien großen Anklang gefunden. Obwohl sich tyrannische Weiterungen daraus ergeben, daß man Menschen in starre Schubladen vorgegebener "Gemeinschaften" sperrt, verstehen viele diesen Standpunkt eigenartigerweise als Verbündeten der individuellen Freiheit. Es gibt sogar eine vieldiskutierte "Vision" von "der Zukunft des multiethnischen Großbritannien", in der das Land "eine eher lockere Föderation von Kulturen (ist), die zusammengehalten wird von Banden des Interesses und der Zuneigung und einem kollektiven Daseinsgefühl ".

     Muß das Verhältnis eines Menschen zu Großbritannien vermittelt werden durch die "Kultur" der Familie, in die er hineingeboren wurde? Er könnte sich ja dafür entscheiden, sich um ein enges Verhältnis zu mehr als einer dieser vordefinierten Kulturen oder - mit gleichem Recht - zu keiner von ihnen zu bemühen. Auch könnte er sich dafür entscheiden, daß ihm seine ethnische oder kulturelle Identität weniger wichtig ist als seine politischen Überzeugungen, seine beruflichen Verpflichtungen oder seine literarischen Vorlieben. Er muß eine Wahl treffen, unabhängig von seiner Stellung in der "Föderation von Kulturen", einer wirklich merkwürdigen Vorstellung.

     Das sind keine abstrakten Überlegungen, und sie sind auch nicht spezifisch für die komplizierten Verhältnisse des modernen Lebens. Betrachten wir den Fall einer Südasiatin, die früh auf die Britischen Inseln kam. Cornelia Sorabji kam in den 1880er Jahren aus Indien nach Großbritannien, und in ihren Identitäten spiegelte sich die Vielfalt der Zugehörigkeiten, die sie wie andere auch hatte. Sie selbst bezeichnete sich und andere bezeichneten sie abwechselnd als "Inderin" (sie kehrte schließlich nach Indien zurück und schrieb ein ansprechendes Buch mit dem Titel India Calling), als eine, die auch in England daheim war ("beheimatet in zwei Ländern, England und Indien"), als Parsin ("ich bin von Nationalität Parsin"), als Christin (voller Bewunderung für "die frühen Märtyrer der christlichen Kirche"), als sarigewandete Frau ("stets perfekt gekleidet in einen vielfarbigen seidenen Sari", wie der Manchester Guardian sie beschrieb), als Anwältin und Barrister (am Lincoln?s Inn), als Vorkämpferin für die schulische Bildung von Frauen und für gesetzlich verankerte Rechte von abgesonderten Frauen (sie spezialisierte sich als Rechtsberaterin für verschleierte Frauen, die "purdahnaschins"), als engagierte Befürworterin der britischen Herrschaft in Indien (die sogar, nicht besonders fair, gegen Mahatma Gandhi den Vorwurf erhob, er werbe schon "Kinder von sechs oder sieben Jahren" an), als stets von Sehnsucht nach Indien erfüllt ("die grünen Sittiche in Budh Gaya: der blaue Rauch der Holzfeuer in einem indischen Dorf"), als entschiedene Anhängerin der Asymmetrie zwischen Frauen und Männern (sie war stolz darauf, als "eine moderne Frau" zu gelten), als Lehrerin in einem reinen Männerkolleg ("mit achtzehn in einem Male College") und als "die erste Frau" von welchem Hintergrund auch immer, die den Grad des Bachelor im Zivilrecht in Oxford erwarb (dazu bedurfte es "eines speziellen Erlasses der akademischen Versammlung, damit sie die Prüfung ablegen durfte"). Die Wahl, die Cornelia Sorabji jeweils traf, war unzweifelhaft von ihrer sozialen Herkunft und ihrem Werdegang beeinflußt, aber sie traf ihre Entscheidungen und wählte ihre Prioritäten selbst.

     Es gäbe ernste Probleme mit den moralischen und sozialen Ansprüchen des Multikulturalismus, würde man ihn so verstehen, daß er verlangt, die Identität eines Menschen müsse bestimmt sein von seiner Gemeinschaft oder Religion, unter Absehung von all seinen sonstigen Zugehörigkeiten (die von der Sprache, der Klasse und den sozialen Beziehungen bis zu seinen politischen Ansichten und zivilen Rollen reichen) und bei automatischem Vorrang der überkommenen Religion oder Tradition vor seiner eigenen Überlegung und Entscheidung. Dennoch kam diesem engen Verständnis von Multikulturalismus bei manchen offiziellen Maßnahmen der britischen Politik eine herausragende Bedeutung zu.

     Diese Haltung äußert sich darin, daß man zusätzlich zu den vorhandenen christlichen nun aktiv neue "Konfessionsschulen" für muslimische, hinduistische und Sikh-Kinder fördert, was nicht nur pädagogisch fragwürdig ist, sondern obendrein verhindert, daß die Kinder umfassend darüber unterrichtet werden, was das Leben in einem Land ohne Rassentrennung von ihnen verlangt. Viele dieser neuen Institutionen entstehen ausgerechnet in einer Zeit, in der religiöse Polarisierung eine wichtige Ursache von Gewalt in der Welt ist (und zur Geschichte solcher Gewalt in Großbritannien selbst beiträgt, zu der ja auch die Zusammenstöße zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland gehören, die ihrerseits nicht losgelöst von der konfessionell getrennten Beschulung gesehen werden können). Premierminister Blair weist sicherlich zu Recht darauf hin, daß es "in diesen Schulen ein sehr starkes Empfinden für Ethos und Werte gibt". Aber in der Erziehung geht es nicht nur darum, Kindern schon in ganz jungem Alter ein altes, überkommenes Ethos einzuflößen. Sie soll den Kindern viel mehr auch helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, über neue Entscheidungen, die sie als Erwachsene werden treffen müssen, vernünftig nachzudenken. Nicht ein schematischer "Gleichstand" mit den alteingesessenen Briten und ihren alten Konfessionsschulen sollte angestrebt werden, sondern das, was am besten die Fähigkeit der Kinder fördert, als Erwachsene in einem integrierten Land ein "examiniertes Leben" zu führen.

Leseprobe Teil 3
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