Virtualienmarkt

Das gläserne Buch

Von Rüdiger Wischenbart
11.10.2004. Der sensationellste Stand auf der Buchmesse war der von Google: Mit Google Print wird man künftig bei einer normalen Suchabfrage auch Bücher durchsuchen können. Die Grenzen zwischen den Medien werden immer unschärfer - zu wessen Vorteil?
Zurück aus Frankfurt von der Buchmesse und erst einmal den seltsamen, unverwechselbaren Schweiß von der Haut geduscht, fragt man sich, was dieses Jahr nun bemerkenswert war. Ich denke, es waren die ganz einfachen Fragen, die wie nebenher vermeintliche Gewissheiten hinweg zu fegen vermögen.

Zum Beispiel die Frage, ob Bücher etwas Besonderes sind.

Pünktlich zum zweiten Geburtstag des Buchpreisbindungsgesetzes (für Eingeweihte heißt das einfach "PBG") wurde mit einem Mal allen klar, dass das, was nun mit Gesetzeskraft zementiert schien, gerade dadurch ins Wanken kam. Selbst der Geschäftsführer des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Harald Heker, merkt an, dass es früher besser gewesen sei. Früher gab es den "Sammelrevers", also eine einfache Übereinkunft zwischen den Marktteilnehmern, zwischen Verlagen und Buchhändlern, die darin für Bücher feste Preise verabredeten - und sich an diese Übereinkunft auch weithin gebunden fühlten. "Wir hätten dieses System sehr sehr gerne fortgesetzt", sagt Heker heute.

Jetzt verstößt alle Finger lang ein Branchenmitglied gegen das Kleingedruckte im Gesetz. Das Resultat sind zermürbende Streitigkeiten. Und oft nimmt man davon auch nicht einmal mehr Notiz, weil schon wieder die neueste Billigbibliothek, noch dazu ganz legal, in die Schaufenster und Aufmerksamkeit der geneigten Leserinnen und Buchkäufer drängt.


Bücher lesen - oder Inhalte sammeln?

Wenn ich aber um zwei, drei oder fünf Euro einen Schmöker in die Manteltasche stecken kann, dann nähert sich das Buch all dem anderen täglichen Papierausstoß und Lesefutter, der Zeitung, der Revue und dem Magazin.

Vielleicht ist es nur ein Nebenaspekt, aber bei den Zeitungen und Magazinen ist es normal, dass ich lesend nur Teile herauspicke, und den Rest wegwerfe. Warum soll ich das nicht auch bei Büchern so halten. (Wobei ich natürlich nicht von Krimis spreche, denn wer wollte da nur den Mord plus seine Auflösung, ohne das spannende Drumherum!)

Auch vom Internet wird ein Umgang des Zusammensuchens, Überfliegens und Collagierens nach jeweils aktuellem Bedarf genährt. Jeder bessere Schulaufsatz und jede Firmenpräsentation bauen schon darauf auf.

Krimis - oder Bücher insgesamt - stehen allein noch abgesetzt vom Universum der gestückelten Inhaltsbrocken scheinbar solide da, weil sie sich einem solchem saloppen Umgang rein praktisch entziehen. Bücher sind vom Prinzip her geschlossene Container, geschützt von zwei Buchdeckeln. Man kann sie höchstens, will man ein Stück daraus, fotokopieren. Wer müht sich schon ab, ein paar Seiten auf dem Scanner zu digitalisieren?


Vor allem aber: Man kann das Innere der Bücher nicht "googeln".

Nun, genau das ist wohl bald vorbei. Auf der Frankfurter Buchmesse hat Google erstmals seine neue Suchroutine "Google Print" vorgestellt, die erlauben wird, in Zukunft mit dem gleichen Click in Webseiten und im gesamten Inhalt von Büchern nach einem Stichwort oder einem Thema zu suchen. Ein weiterer Click führt gleich weiter zu einer Auswahl von Online-Buchhändlern, um das Buch auch zu kaufen. (Die Google FAQ sind hier, eine detaillierte Vorschau und Beschreibung liefert Heise Telepolis hier.


Googles Mission: Alle Information wird "zugänglich und nutzbar"

Rechtzeitig zur Vorstellung von "Google print" hat der Such-Gigant auch seine Mission neu und passend allumfassend definiert:

"Google's mission is to organize the world's information and make it universally accessible and useful.?

Das ist nicht nur ein geradezu unverschämter Anspruch. Google hat überdies gute Karten, die vollmundige Ankündigung auch noch zu erfüllen. Bereits zum Start der in Frankfurt vorgestellten Beta Version hat Google eine ungenannte Anzahl von Büchern der Mehrheit der großen amerikanischen Verlage eingescannt: Vertreten sind Penguin, Wiley, Hyperion, Pearson, Taylor & Francis, Cambridge, Chicago, Oxford, Princeton, Scholastic, Springer, Houghton Mifflin, Thomson Delmar, Blackwell und Perseus (nach der ausführlichen Recherche des New Yorker Branchen-Newsletters Publishers Lunch). Bemerkenswert ist an der Namensliste der Verlage auch, dass es primär nicht ums literarische Revier, sondern um Sachinhalte geht.

Publishers Lunch erzählt überdies, wie kürzlich Lyn Blake vom Online Buchhändler Amazon bei einem Treffen vor führenden Mitgliedern der US amerikanischen Verlagsszene warnte, dass dieser Vorstoß nichts weniger als die Domäne kostenpflichtiger Inhalte - etwa in Gestalt von Büchern - durch noch mehr kostenlose Information am Internet konfrontiere: "The free web is in direct competition with your books. Free content is not going to help us all in the future." So fischt der aggressive expandierende Online-Buchhändler Amazon nach Sympathie und gemeinsamen Werten ausgerechnet bei jenen Verlagen, mit denen er sonst um Abschläge bei den Konditionen ringt.

Während der Dienst Google Print noch gar nicht frei zugänglich ist, kann man einen durchaus brauchbaren Eindruck von der Art der begonnenen Informationsreise ausgerechnet bei Amazon gewinnen.

Amazon hat bekanntlich schon vor fast einem Jahr seine eigene Volltext-Buchsuche "Search Inside" präsentiert. Was das Konzept kann, zeigt sich indessen in der zu Amazon gehörenden Suchplattform A9, die allerdings mit der Suchtechnologie von Google operiert.

Hier lassen sich von einer einzigen Seite aus das Web, eine rasch wachsende Anzahl von Büchern (einerseits bibliographisch, auf der Basis von Amazons Verkaufskatalog, andererseits aber auch teilweise im Volltext, durch "Search Inside"), sowie neuerdings auch Bilder und Filme durchkämmen. Hier als aktuelles Beispiel eine Suche nac h dem von Derrida geprägten Begriff der "Differance", die auch einige Fundstellen aus Büchern anzeigt..

Googles Plattform wird dies noch beträchtlich ausweiten, etwa durch "News" aus allen erdenklichen online zugänglichen Informationsdiensten sowie durch Shopping Angebote unter "Froogle". Und wer sich nun sorgt, wie diese Fülle noch überschaubar gemacht werden will, findet beim neuesten - von Google und von Amazon unabhängigen - Dienst "Clusty" (Suche nach "Differance" in Clusty) ein paar erste Eindrücke.

Es bleibt aber längst nicht bei all diesen unterschiedlichen Textsorten, machte mich Michael Cader, der Herausgeber von Publishers Lunch, in Frankfurt mitten zwischen den dort ausgestellten 360.000 Büchern aufmerksam. Das so erfolgreiche Online Music-Service iTunes von Apple hat in den USA auch Hörbüchern ein zusätzliches, rasch wachsendes Vertriebsfeld beschert. Der Download Dienst Audible wirbt entsprechend mit iPods und dem Slogan "Listen anywhere anytime" und macht so auf die neue digitale Nähe zwischen Büchern und Musik aufmerksam.

Wo also bleibt die Besonderheit von Büchern zwischen Webseiten, News, Bildern und nun auch noch Musik, Hörbüchern und demnächst Kombinationen daraus?

Mehr noch, wenn all diese Inhalte durch eine übergreifende Suche, einen Verkaufskanal und, was sich abzeichnet, ein vernetztes Kaufpublikum angesprochen werden kann: Dann will man dieses Publikum doch auch direkt erreichen, oder nicht?

Harper Collins, einer der großen US Verlage und zugleich Teil des Medienimperiums von Rupert Murdoch, tüftelt tatsächlich daran, eine Kundendatenbank mit den Daten von Millionen von Buchkäufern zu erstellen, um die eigenen Kunden möglichst ohne Umwege anzusprechen. Und dass sich dies, wenn es einmal funktioniert, nicht bloß auf Buchkunden erstreckt, ist evident. Gewiss, das ist ein Unterfangen mit noch vielen Fallstricken. Aber der Trend ist deutlich und sein Potenzial ist groß.


Open Access - Zum Vorteil der Mächtigen?

Die traditionellen Grenzen zwischen Büchern und anderen Gefäßen geistiger Inhalte werden unscharf, und damit auch die Aufgaben und Rollen der Akteure am unübersichtlichen Spielfeld des turbulenten Marktes.

Das wirft täglich neue Fragen auf, teils nahe liegende, und teils überraschende.

Naheliegend ist, dass auf solch einem Feld immer schwerer zu argumentieren sein wird, dass geistiges Eigentum in der einen Form -als festes Buch - nach Schutzmaßnahmen wie der Preisbindung verlangt, während die kreativen Inhalte überall sonst dem vollen Marktdruck ausgesetzt sind.

Überraschend ist, wenn ein scheinbar ausgleichendes Prinzip wie die Forderung nach offenem Zugang zu Informationen ("Open Access" - siehe den Virtualienmarkt vom Juli 2004) zur Benachteiligungsfalle für manche gerade schwache Glieder in der Verwertungskette werden kann.

So lassen sich etwa eine wachsende Anzahl von Kultur- und wissenschaftlichen Zeitschriften aus Ost und Südosteuropa über das gemeinsames Online Portal CEEOL gut auffinden und - gegen Geld - lesen und abonnieren. Für die Organisatoren dieses Portals, die alljährlich zur Buchmesse ihren kleinen Stand zwischen all den ungarischen, polnischen und tschechischen Verlagen in Halle 5.0 aufbauen, wäre die Forderung nach kostenfreiem Zugang das wirtschaftliche Aus.

Bloß, wenn die einzelnen Artikel ihrer Zeitschriften nur mehr über den einen, spezialisierten Zugang, und nicht mehr über Google oder Amazon auffindbar sind, wird ihre Perspektive wohl ebenfalls rasch sehr eng.

Die einfachen Fragen sind kompliziert und gefährlich. Sie werden trotzdem mit aller Unerbittlichkeit gestellt. Zu glauben, dass man ihnen ausweichen kann, ist nicht gefährlich. Sondern - mit Friedenspreisträger Peter Esterhazy zu sprechen - schlicht "hoffnungslos". (*)

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(*) "An Buchhändler kann ich nur romantisch denken. Mit Vorliebe nennen wir heute alles, was mit Büchern zusammenhängt, außergewöhnlich und heroisch. Und hoffnungslos." Peter Esterhazy in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am Sonntag in der Paulskirche, nachzulesen hier).