Vorgeblättert

Leseprobe zu F.C. Delius: Als die Bücher noch geholfen haben. Teil 1

20.02.2012.
Warum ich kein Kritiker wurde

Zu dem zweifelhaften Glück, kein Kritiker werden zu müssen, hat mir ein Buch verholfen, das ich als Kritiker verrissen habe. Ein Buch oder vielmehr sein Autor, Erich Fried. Zwischen 1964 und 1967 verfasste ich an die zwanzig Rezensionen für die "Welt der Literatur", das "Spandauer Volksblatt", die "Weltwoche", meistens kritisches, deutliches Lob, dazu ein paar saftige Verrisse. Zuerst hatten die Zeilenhonorare gelockt, doch mehr und mehr spürte ich, dass das schönste Honorar die Befriedigung der Eitelkeit war. Mit Kritiken war es am leichtesten, sich gedruckt und beachtet zu sehen, viel leichter jedenfalls als mit Gedichten oder der mühsamen Verfertigung anderer literarischer Texte. Der Kritiker mit seiner kleinen Macht, den Daumen nach oben oder nach unten zu drehen, wurde gehört, verflucht oder geschätzt, Aufmerksamkeit war ihm sicher. Am leichtesten war es, sich hin und wieder das diebische Vergnügen eines Verrisses zu gönnen.
     Einer davon traf den Prosaband "Kinder und Narren" des damals noch nicht sehr bekannten Lyrikers Erich Fried - berühmt wurde er erst mit den Gedichten "und vietnam und". Die Kritik erschien im März 1966 in der Schweizer "Weltwoche" ("Frieds Fiasko") und wies Fried mit durchaus soliden Argumenten und entlarvenden Zitaten, aber in rüdem Ton zurecht, er solle bei seinem Leisten, bei der Lyrik bleiben, Prosa könne er nicht.
     Nun stelle man sich einen Bus voll mit Autoren und Kritikern vor, im April 1966 auf dem New Jersey Turnpike, die Teilnehmer der Tagung der Gruppe 47 werden von New York nach Princeton gefahren. Es gab nicht genug Sitzplätze, sechs oder acht der Jüngsten standen im hinteren Teil des Busses und hielten sich an der Gepäckablage fest, einer davon ich. In der Mitte sitzend Erich Fried. Beim Einsteigen hatte ich darauf geachtet, möglichst nicht in sein Blickfeld zu geraten. Schon im Hotel, beim Empfang im Algonquin, hatte ich seine Nähe gemieden, ihm nur kurz die Hand gegeben. Aus seinem Verhalten konnte ich nicht schließen, ob er die Kritik, die drei Wochen zuvor erschienen war, kannte. Ich wusste nicht, ob die Rezension von der Zeitung schon an den Verlag geschickt und von da zügig an den Autor nach England weitergeleitet oder, um ihn zu schonen oder um weitere Besprechungen zu sammeln, erst einmal zurückgehalten worden war. Seine Miene hatte mir nicht verraten, ob er von dem Verriss bereits gehört hatte oder völlig ahnungslos war.
     Ich sah seinen mächtigen Hinterkopf in den mittleren Reihen, und es beschlich mich auf dem New Jersey Turnpike, zwischen all diesen wortmächtigen und erfahrenen Leuten, die Furcht, einer persönlichen Begegnung, einer direkten Konfrontation nicht gewachsen zu sein. In der Gruppe war es nicht ungewöhnlich, dass einer den andern in den Zeitungen angriff oder verriss, genau das machte diesen lockeren Haufen so produktiv und unberechenbar. Polemiken mit kräftigen Argumenten waren gefragt und erwünscht, Corpsgeist dagegen nicht.
     Ein Verrat war es also nicht, was ich da verfasst hatte, eher ein Ausweis meiner Unabhängigkeit. Ich fürchtete mich vor etwas anderem, vor einem Disput mit Fried, obwohl der zu den freundlichen und unarroganten Autoren gehörte. Ich sah keinen Grund, etwas zurückzunehmen, meine Argumente schienen mir stichhaltig, aber ich scheute einen heftigen Wortwechsel, einen Streit über das Buch, ich war sicher, nicht schlagfertig genug zu sein, rasch in die Defensive zu geraten, mich in mündlicher Rede vor dem Autor zu blamieren und der Unfähigkeit zum literarischen Urteilen überführt zu werden. Am Schreibtisch war ich stärker.
     Als hätte Fried meine Angst vor Blamage, Strafe oder Rache gespürt, drehte er sich plötzlich um. Er hatte einen Fensterplatz auf der linken Seite, er drehte seinen großen Kopf noch weiter um, bis er mir geradewegs ins Gesicht sehen konnte. Keinen anderen als mich hatte der Blick gesucht. Zwei oder drei Sekunden wurde ich fixiert, ich wich nicht aus, obwohl ich spürte, dass er der Stärkere war. Ein Augenduell, das ich nicht verlieren wollte. Ich drehte mich nicht weg, feige wollte ich nicht sein. Ich nickte dem Älteren zu, deutete einen Gruß an. Nun war klar, dass er die Kritik gelesen und dass sie ihn getroffen hatte. Immerhin, er sagte nichts, im fahrenden Bus, bei der Entfernung hätte er schon schreien müssen, fürs Erste bestand keine Gefahr, der Streit konnte vertagt werden. Ich hatte viel Respekt vor dem Mann mit den großen Augen. Ich wusste, er war als Jugendlicher emigiriert, hatte sich in England durchgeschlagen, im Krieg und im Nachkrieg, und hatte bedeutende Gedichte geschrieben, dafür achtete ich ihn. Aber gerade wegen dieses Respekts, sagte ich mir, wird man schreiben dürfen und wird auch ein sehr junger Rezensent schreiben dürfen, wo er die Schwächen sieht, und darum wich ich dem Blick nicht aus.
     Zwei oder drei Sekunden, die Augen hinter der schwarzen Brille ließen nicht locker, sie wollten noch mehr sagen. Nichts Feindliches, nichts Strafendes, ich bemerkte etwas Schlimmeres, das mich viel tiefer traf. Ich sah diesen Augen an, dass sie mich durchschauten, sie durchschauten in diesen Sekunden den ängstlichen, ehrgeizigen Jüngling, der ich war. Sie durchschauten, so kommt es mir heute vor, wenn ich diesen vor bald fünfzig Jahren gespeicherten Blick abrufe, warum meine stille und keineswegs kämpferische Natur es nötig hatte, Verrisse zu schreiben, sich auf dem Papier auszutoben mit fixen Urteilen und aus der Literatur von anderen Sätze der Verachtung zu destillieren und so die eigene Seele mit Überlegenheitsgefühlen zu füttern.
     Dieser Blick hatte mehr mit dem Adressaten zu tun als mit seinem Absender. Der Ältere hätte gute Gründe gehabt, mich zu hassen, den Schnösel. Aber er schien fast Mitleid mit mir zu haben. Er kannte meine Gedichte, er hielt mich für begabt, aber das hieß gar nichts, begabt waren alle, jedenfalls alle in diesem Bus. In Frieds großen Augen meinte ich zu lesen, wie mir erst nach und nach klar wurde, dass er mich einfach für unreif und damit für inkompetent und literarisch nicht für satisfaktionsfähig hielt. Da kam ein blasser deutscher Student daher, der gerade ein paar Gedichte ausgestreut hatte, und meinte, ihm, dem doppelt so alten Emigranten, in einer Schweizer Zeitung die Leviten über das Prosaschreiben lesen zu müssen! Meine Anmaßung schien er mit amüsiertem Befremden zu betrachten und erstaunlicherweise sogar mit Milde.
     Als Fried sich wieder umgedreht hatte, wieder in Fahrtrichtung blickte und das Gespräch mit seinem Sitznachbarn fortsetzte, stellte sich bei mir ein schales Gefühl ein, das ich erst nach und nach zu fassen vermochte. Nicht wegen der möglichen Fragwürdigkeit meiner Argumente oder Kriterien, nicht wegen meines allzu forschen, draufgängerischen Rezensionsstils und auch nicht, weil ich einen einst verfolgten Juden angegriffen hatte, sah ich mich irritiert und beschämt, nein, weil Fried, statt mit einer Replik, mit einem Blick, statt mit seinem Finger, mit seinen Augen auf mich gezeigt hatte, so dass mir nichts anderes übrig geblieben war als mich zu fragen: Wer bin ich denn, ein Urteil zu fällen? Ein Urteil über Fried, ein Urteil über sein Prosabuch, Urteile über andere Autoren, andere Bücher, über wen oder was auch immer. Wer bist du denn?
     Die Frage traf, die Frage saß, und da war es völlig unerheblich, dass alle hier im Bus ständig Urteile abgaben, dass ohne Urteile und schroffe Abfertigungen, ohne das Pro und Contra der Wertungen keine künstlerischen Entwicklungen möglich waren und dass literarische Urteile im Gegensatz zu juristischen nur relative und keine definitiven sind. Die Frage Wer bist du denn, ein Urteil zu fällen? traf mich deshalb mit einer solchen Wucht, weil es plötzlich um mich ging, allein um mich. Fried hatte mir mitgeteilt, so verstehe ich heute diesen unvergesslichen Blick, dass ich, der Schnösel, es nötig hatte, Verrisse zu schreiben. Nicht das Buch, welches auch immer, war einer scharfen Kritik würdig, sondern das Ego des Kritikers.
     An den folgenden Lesetagen wunderte ich mich mehr denn je, wie die Kritiker der ersten Reihe scheinbar hemmungslos und ohne Skrupel ihrem skrupulösen Handwerk nachgingen. Ich staunte wieder über das Wissen und die analytischen Fähigkeiten jedes einzelnen und hätte gern ein Zehntel der Schlagfertigkeit und Eloquenz des einen oder anderen gehabt, ein Zehntel der Anspielungskunst und des Arsenals von Argumenten. In ihrer Nähe kam ich mir nur dumm und ungebildet vor, der Schüchterne wollte nicht noch mehr eingeschüchtert werden. Ich beneidete sie nicht, die mächtigen Männer mit der richterlichen Gewalt und der extrovertierten Klugheit. Keiner von ihnen, schätzte ich, hätte sich von der Frage irritieren lassen, die ich in Frieds Blick gelesen hatte, Wer bist denn du, ein Urteil zu fällen? Ich war unendlich weit von ihnen entfernt und wollte es bleiben. Die Versuchung, als Kritiker sich durchsetzen zu wollen, stellte sich nach dieser Szene im Bus nicht mehr ein.
Von allen literarischen Beschäftigungen, behaupte ich seitdem, wenn ich zu Pauschalsätzen gedrängt werde, ist die des Rezensierens die leichteste. Viel schwerer ist es schon, unter fünfhundert oder tausend Manuskripten das eine zu entdecken, das den Buchdruck wert ist und den vollen Einsatz eines Lektors, eines Verlages. Noch schwerer, ein solches Buch zustande zu kriegen. Bewerten, Sortieren, Kritisieren, das ist ein ehrbares und notwendiges Handwerk, es wird zuweilen ein wenig überschätzt.

zu Teil 2
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