Vom Nachttisch geräumt

Von wegen Schönheit!

Von Arno Widmann
22.05.2015. Der Intellekt in der Poesie, die Lage von Erde und Wasser auf unserem Planeten, ein Meer an Sinn: Vor 750 Jahren wurde Dante geboren. Ein kurzer Blick in die aktuelle Literatur von und über den großen Dichterphilosophen.
Irgendwann zwischen dem 21. Mai und dem 21. Juni vor 750 Jahren, also 1265,wurde in Florenz Dante Alighieri geboren. Er war Dichterphilosoph. Er schrieb hinreißende Gedichte, gelehrte Abhandlungen und ein Werk, das zu den berühmtesten der europäischen Literaturgeschichte gehört: "Die Göttliche Komödie". Der Icherzähler berichtet, wie er in einer großen, sein Leben bedrohenden Krise zu einer Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies geführt wurde. Dante schreibt das in mehr als 14 000 Versen, in einer Verkettung von Terzinen (aba bcb cdc ded efe usw.), deren Reime mal eine rauschhafte Wirkung erzielen, mal die Story weitertransportieren wie ein schnurrender Motor. Aber man kann Dante nicht aufschlagen und zu lesen beginnen. Nein, natürlich kann man nur das tun, wenn man ihn kennenlernen möchte. Aber man versteht nichts. Der Verserausch stellt sich nicht ein, weil man keine der mehr als 600 erwähnten Personen kennt, weil einem bald klar ist, dass es in dem Text von Anspielungen wimmeln muss. Aber auf wen? Worauf? Ist das parodistisch, ist das ernst gemeint? Nach noch einmal zehn, fünfzehn Zeilen gibt man auf. Von wegen Schönheit! Nichts hat man mitbekommen. Das geht auch jedem Italiener so. Das ging manchem Zeitgenossen Dantes schon so. Er selbst hat darum seine Gedichte in langen, ausschweifenden Kommentaren erklärt. Er wollte verstanden werden. Aber er wollte auch festlegen, wie man ihn zu verstehen hatte. Darum schrieb er Italienisch. Er schrieb nicht für die Gelehrten. Er schrieb für Leute, die kein Latein konnten. Er schrieb, das sagt er ausdrücklich, auch für Frauen.


William Blake: Tafel 9 (Detail), Inferno V, 1-51, Minos. © National Gallery of Victoria, Melbourne, Australia / Bridgeman Images. Abbildung aus dem besprochenen Band. Oben: Sandro Botticelli: Dante. Porträt.

Dante hatte sich als Politiker auf die falsche Seite geschlagen. Er musste fliehen aus seiner Heimatstadt. Er kam nie wieder zurück. Dante war kein Kleriker, der in einem Kloster Unterschlupf finden konnte, um dort zu leben und zu dichten. Dante brauchte einen Padron. Sein Publikum waren die wechselnden ihn beherbergenden Höfe. Dort trug er seine Gedichte, seine Abhandlungen vor. Man weiß sehr wenig darüber. Fast alles, das wir wissen über sein Leben, wissen wir aus den zahlreichen Andeutungen in seinen Texten. Dante sprach gerne von sich. Er und seine Geschichte waren die großen Themen seiner Werke. Die Liebe zur früh verstorbenen Beatrice, die Liebe zum Florentinischen, der Hass auf den Papst, die Verehrung für den deutschen Kaiser Heinrich VII, von dem er sich die Rettung deiner Heimatstadt erwartete.

Aber hier ist nicht der Ort, über Dante zu sprechen, hier sei nur hingewiesen auf ein paar Bücher, die dem, der Dante kennenlernen möchte, den Zugang erleichtern. Zeit muss er allerdings mitbringen. Er muss, wie Kurt Flasch in seinem wunderbaren Buch "Einladung, Dante zu lesen" sagt, lernen, langsam zu lesen. Kurt Flasch, einer der besten Kenner mittelalterlicher und spätantiker Philosophie in Deutschland, wurde im März 85 Jahre alt. 2011 erschien von ihm in einem stabilen Schuber eine Übersetzung von Dantes Göttlicher Komödie zusammen mit der besten Einführung in Leben und Werk Dantes. Diese prächtige Ausgabe ist nicht mehr lieferbar. Aber es gibt Flaschs Übersetzung und seine "Einladung, Dante zu lesen" im Taschenbuch. Das hat auch den Vorteil, dass man beides im Sessel oder gar im Bett lesen kann. Flaschs Buch verschweigt nicht die Schwierigkeiten einer Dante-Lektüre. Er erklärt in Begleitbuch und Übersetzung, was immer an Fragen aufkommt. Aber er erstickt Dantes Schönheit, zu der untrennbar verbunden seine Gelehrsamkeit gehört, nicht in der des Mainzer Philosophieprofessors Kurt Flasch. Die Einladung ist eine wirkliche Einladung, kein Hindernislauf. Flasch formuliert klar und einsichtig. Flasch spricht über Dantes Frauen, über seine Politik, seine Verse, seine Wissenschaft, über die Rolle des Intellekts in der Poesie und über die Rolle der Poesie in den Erkenntnisprozessen. Er macht das so, dass jeder, der mag, es verstehen kann. Es führen viele, viele Wege zu Dante, aber den von Flasch geebneten geht man mit Vergnügen.

Die andere Ausgabe der "Göttlichen Komödie", an der man nicht vorbeikommt, ist die von Hartmut Köhler. Sie bringt den italienischen und den deutschen Text in drei dicken, gebundenen Reclam-Bänden. Der Übersetzer, bis 2008 Professor für romanische Philologie in Trier, starb 2012. Er bezieht sich schon auf Flaschs Übersetzung. Die Ausgabe ist nicht nur wegen der Zweisprachigkeit unbedingt zu empfehlen. Ihr wahrer Schatz sind die Anmerkungen. Köhler erklärt nicht nur Wörter und Begriffe. Er sagt einem auch, warum er so statt so übersetzt. Und vor jedem der drei Mal dreiunddreißig Gesänge - und natürlich auch vor dem allerersten, der ein vierundreißigster ist, eine Einleitung gewissermaßen - erläutert Köhler, was es mit ihm auf sich hat, wie er weiterführt und wohin er führt. Er lenkt das Augenmerk des Lesers auf bestimmte Textstellen. Köhler erwähnt nicht nur die Anspielungen. Immer wieder zitiert er auch, was Dante variiert. Er zeigt dem Leser die Textur der Dichtung. Und noch etwas: Köhler erzählt in den Anmerkungen auch vom Nachleben der Stellen. Was wurde ein Film? Was eine Oper? Es gibt Konzerte. Man fängt an, noch langsamer zu lesen. Man unterbricht im neunten Gesang des Paradieses die Cunizza-Erzählung, weil man liest, dass Verdis erste Oper "Oberto, Conte di San Bonifacio" damit zu tun haben soll. Man verschwindet womöglich für zwei Stunden auf Youtube, wo es diese Oper, von der ich nie, die ich nie gehört hatte, in toto zu sehen und zu hören gibt. Ja, ja. Ich weiß: Das führt nur weg von Dante. Nicht nur. Es führt auch wieder zurück zu ihm, und schon lese ich die paar Verse der Cunizza noch einmal, und dann lerne ich, dass auch üble Sünder Gnade finden und ins Paradies aufgenommen werden können. Ein paar Verse weiter erklärt Köhler, was es mit dem Balasso auf sich hat. So hieß ein Rubin, der aus der afghanischen Provinz Badachschan kommt, die in Italien seit Marco Polo Balasso heißt. Dante nahm das Aktuellste mit hinein in seine Verse.

Natürlich fehlt bei Köhler der Hinweis nicht auf Ossip Mandelstams "Gespräch über Dante" mit dem verblüffenden Satz "Dante kann nur mit Hilfe der Quantentheorie verstanden werden", notiert 1933. Man findet auch Becketts "Dante und der Hummer" in "Mehr Prügel als Flügel" aus dem Jahre 1934. Köhler zeigt aber darüber hinaus, wie Dantes Porträt des faulsten aller Menschen im 4. Gesang des Purgatorio Beckett in fast all seinen Werken verfolgte. Brecht und Thomas Mann, Borges und Pasolini. Über letztere schreibt Köhler: "Dantes Werk ist literarisch deswegen so prägend geblieben, weil es nebeneinander engagierte und nicht-engagierte Haltungen zeigt, verkürzt gesagt, poesia pura und poesia impura bietet, weswegen sich ein Jorge Luis Borges und ein Pier Paolo Pasolini beide auf ihn berufen konnten". Solche vom Text erst einmal ablenkende Betrachtungen führen dann doch immer wieder zu ihm zurück. Dantes Text wird immer wieder aktuellen Beleuchtungen ausgesetzt, mit denen er mal heftig kontrastiert, ein andermal aber verblüffend übereinstimmt. Man liest ihn so wieder und wieder. Aber man kommt nicht voran. Man kann nach einem Wochenende nicht sagen, man habe die Göttliche Komödie gelesen. Mit viel Energie und Konzentration hat man zwei, drei Gesänge geschafft. Aber man hat mehr über das Schreiben, das Denken, über das Leben und die Kunst erfahren als in vielen, vielen schnell zu lesenden Abhandlungen.

Wer auf den Geschmack gekommen ist und wer auch den Dante kennenlernen möchte, den kaum einer kennt, dem helfen sieben schöne Bände des Meiner-Verlages. Es ist eine zweisprachige Ausgabe von Dantes "Philosophischen Schriften". Die Texte sind mit umfangreichen Einleitungen und ausführlichen Kommentaren versehen, ohne die auch sie dem heutigen Leser unverständlich blieben. So aber erkennt man, dass ein paar Verse im 34. Gesang des Inferno, in denen Dante sich auslässt über die Lage von Erde und Wasser auf unserem Planeten, einem Dante zugeschriebenen wissenschaftlichen Text widersprechen. Die "Abhandlung über das Wasser und die Erde" verhandelt die Frage, ob das Wasser über der Erde oder die Erde über dem Wasser stehe, in der Form einer scholastischen Questio. Der Dichter als Schulphilosoph. Die Schrift, deren Echtheit immer wieder angezweifelt wurde, wird von ihrem Herausgeber Dominik Perler als ein Werk Dantes betrachtet. Den Leser bestärkt die Differenz zwischen dem Erklärungsversuch des Wissenschaftlers Dante und dem des Dichters in der Vorstellung, dass der Dichter Dante nicht wörtlich genommen werden darf, dass seine Geschichten als Geschichten gelesen werden müssen. Sie sind eben keine argumentativen Erklärungsversuche. Im Inferno hat der Sturz Luzifers die aktuelle Verteilung von Wasser und Erde bewirkt: "Hier drüben stürzte er vom Himmel; das Land, das vordem sich hier ausdehnte, hat sich aus Angst vor ihm mit dem Meer verhüllt." In Dantes Questio kommen weder Luzifer noch die Angst der Erde vor ihm vor. Perler geht der Argumentation genau nach und es wird deutlich, dass der Gegensatz zwar besteht, dass aber die Geschichte, die Dante im Inferno erzählt, ein umfassenderes Bild malen möchte. Die Questio behandelt ausschließlich das bewohnbare Viertel der nördlichen Hemisphäre, die Inferno-Stelle dagegen das Verhältnis von südlicher und nördlicher Hemisphäre. Die Wissenschaft analysiert. Sie erklärt Stück für Stück. Der Dichter erzählt vom Ganzen. Dante kennt, das kann man hier lesen, sehr genau den Unterschied. Er weiß auch, wohin Argumente reichen und wohin sie es nicht mehr tun.

Karlheinz Stierles "Dante Alighieri - Dichter im Exil, Dichter der Welt" erschien vergangenes Jahr im C.H. Beck Verlag. Für sein Buch "Das große Meer des Sinns - Hermeneutische Erkundungen in Dantes "Commedia"" war Stierle mit dem Fiorino d"Oro der Stadt Florenz ausgezeichnet worden. Stierle, Professor Emeritus für romanische Literaturen an der Universität Konstanz, einer der großen Dantekenner, pflegt ein wenig den hohen Ton. Sätze wie diesen "Am Eingang des 14. Jahrhunderts steht in monumentaler und einsamer Größe das Werk des Florentiner Dichters Dante Alighieri" wird man bei Flasch nicht finden. Und schon gar nicht den folgenden: "Seine Commedia hat über Jahrhunderte hinweg die literarische Vorherrschaft Italiens über Europa begründet." Aber… ein dickes Aber… der Leser, der sich durch solche Vollmundigkeiten von der Lektüre abhalten ließe, stünde dumm dar, denn so wie Stierle einen kleinen, leicht zu überlesenden Vers des Paradieses, der vom großen Meer des Seins spricht, nahm und daraus seine Rede von der Commedia als großem Meer des Sinns entwickelt, so verfährt er immer wieder, schließt uns Stellen auf, stellt sie in ihren Zusammenhang und immer wieder auch in ganz andere.

Was Dantes Nachruhm angeht, belehrt einen ein Blick in Ernst Robert Curtius" Dante-Kapitel in "Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter". Curtius zitiert den italienischen Klassiker Vittorio Alfieri (1749 - 1803), der meinte, man fände in ganz Italien keine dreißig Menschen, die die Commedia gelesen hätten. "Nach Stendal war Dante in Italien um 1800 verachtet. Er wurde "erweckt" durch das Risorgimento, wie in Deutschland durch die Romantik, in England durch die Präraffaeliten… Die italienischen Dantefeiern von 1865 - wie die deutschen Schillerfeiern von 1859- präludierten der nationalen Einigung."

Natürlich gibt es keine Dante-Lektüre ohne Dante-Illustrationen. Botticellis Arbeiten zum Beispiel oder die von Gustave Doré. Jetzt gerade ist ein prachtvoller Band mit den zarten Zeichnungen erschienen, die William Blake zu Dantes Göttlicher Komödie machte. Ein überzeugender Beleg für Curtius" Hinweis auf die Romantik als Wiederbeleber von Dantes Ruhm. Sebastian Schütze erinnert in seiner Einleitung an die Bedeutung von Reynolds "Ugolino" und die Arbeiten von Flaxman und Füssli für die englische Dante-Rezeption.

Und zum Schluss noch aus Michael Buselmeiers Gedichtband "Dante Deutsch":

Die Hölle (3)

Ausruhen noch einmal durchatmen am Abend/
bevor wir aufbrechen in die Steppen der Kolyma/
zu den Eispickeln ihr Hunde in die Baracken/
Workutas wo Raubmörder würfeln um Feuchtes/
dein schimmerndes Blut deinen Kopf deinen Hut/

Seit Monden schon lausch ich auf das Rauschen/
der Erschlagenen unterm Laub auf das Rascheln/
deiner weißen Gebeine Bruder versiegelt im Stein/
einer hellen Polarnacht in der wir alle versinken/
 
Ein kreisendes Floß brandvoll mit schreienden/
Leibern… in Kisten gepfercht lichtlos im Rumpf/
von Kähnen liegen wir festgekettet im Kot/
wie Finger ragen Felsen aus flaumigem Sand/

und man erkennt uns nur noch an unserer Stimme/
mit zerfetzter Lunge schlafen wir nackt auf Beton/
zusammengekrümmt zu Eis unsere Glieder stapelweis/
Schlappen aus Leinwand überall schmutziger Schnee

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Dante Alighieri: Commedia. Zwei Bände. Band 1: Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch. Band 2: Einladung, Dante zu lesen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 672 Seiten, gebunden, 98 Euro

Dante Alighieri; La Commedia/ Die Göttliche Komödie. Drei Bände. In der Übersetzung von Hartmut Köhler. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2012, 2080 Seiten, 32 bis 36 Euro.

Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante. Gesammelte Esays, Band 2: 1925-1935. Aus dem Russsichen von Ralph Dutli. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2004, 320 Seiten, 9,90 Euro.

Dante Alighieri: Philosophische Schriften in sieben Bänden. Italienisch und lateinisch mit deutscher Übersetzung. Hrsg. von Ruedi Imbach. Meiner Verlag, Hamburg 2007, gebunden, 2440 Seiten, 199,90 Euro.

Karlheinz Stierle: Das große Meer des Sinns - Hermeneutische Erkundungen in Dantes "Commedia". Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2007, 442 Seiten, 25,90 Euro.

Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Erstmals erschienen 1948), Francke Verlag, Tübingen 1993, Taschenbuch, 608 Seiten, 19,90 Euro.

William Blake: Die Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie, Taschen-Verlag, Köln 2015, eine Einführung zu Dante von Maria Antonietta Terzoli und eine zu Blake von Sebastian Schütze, 324 Seiten, 14 Ausklapper, 28,5 x 39,5 cm, 99,99 Euro.

Michael Buselmeier: Dante Deutsch. Gedichte, Wunderhorn, Heidelberg 2012, 92 Seiten, 17,80 Euro.