Essay

Für die gleiche Augenhöhe

Von Stefan Münker
02.11.2009. Aktualisiert: Jetzt mit Link zur Rede von Precht. Richard David Precht befürchtet eine Fragmentierung der Öffentlichkeit durch das Internet - und fällt mit seiner Kritik am Internet sogar hinter Jürgen Habermas zurück. Allzu simpel ist sein Begriff von Öffentlichkeit. Eine Replik
Aktualisiert: Die Rede von Richard David Precht, auf die Stefan Münker hier repliziert, können Sie unter diesem Link anhören: ab Minute 38:45.

Medien können Öffentlichkeiten erzeugen, das ist ein Teil ihres sozialen Charakters: Je größer der Verbreitungskreis, desto wirksamer. Medien setzen Themen, über die man diskutieren kann; in kleineren wie in größeren Kreisen. Beides ist gut und wichtig für demokratische Gesellschaften. Medien können Öffentlichkeiten auch spalten - wenn sie thematisch polemisieren zum Beispiel. Aber manchmal auch schlicht dadurch, dass sie da sind; vor allem, wenn sie neu sind. Als der Roman auftauchte, beschworen Kritiker die Gefahr, dass seinen Lesern jeder Realitätssinn abhanden komme; als das Fernsehen zu senden begann, sah manch' kluger Kopf die Gefahr, dass seine Zuschauer gänzlich verblöden könnten. Die Kritik am Roman wie auch am Fernsehen hatte zweierlei gemeinsam - sie wurde nahezu argumentfrei vorgetragen, und sie ließ sich durch nahezu keinerlei empirische Befunde belegen.

Das Internet bildet hier keine Ausnahme - im Gegenteil: Seit eine breitere Öffentlichkeit erst von seiner Existenz Notiz und dann von seinen Möglichkeiten Besitz genommen hat, reißt die Debatte um Nutzen und Nachteil des digitalen Netzes nicht ab. Dabei tauchen viele altbekannte Thesen wieder auf, und das Spektrum der Beschwörungen sowohl utopischer Phantasien wie dystopischer Visionen ist weit aufgefächert.

Immer wieder melden sich kritische Beobachter zu Wort, die im zunehmenden Erfolg des Internets eine latente Gefahr für unsere demokratischen Öffentlichkeiten ausmachen wollen. So hat Jürgen Habermas bereits vor einiger Zeit festgestellt, dass den vernetzten Kommunikationswegen des Internet zwar im Kontext totalitärer Gesellschaft "unzweideutige demokratische Verdienste" zukämen; in demokratischen Gesellschaften hingegen fördere das Internet "die Fragmentarisierung (des) großen ... Massenpublikums". Weswegen, so Habermas' Befürchtung, die "bestehenden, nationalen Öffentlichkeiten unterminiert zu werden" drohten.

Der Publizist Richard David Precht teilt diese Befürchtung, und er hat seine Gedanken in einer Keynote zur Eröffnung der Münchner Medientage öffentlich gemacht. Die "Anthropologiefolgenabschätzung", als die er seine Rede plakatiert, führt Precht zu der Feststellung, dass wir "natürlich" durch das Internet "genau diese Gefahr haben, nämlich eine absolute Fragmentierung von Öffentlichkeit in lauter unterschiedliche Segmente". Wenn aber die Öffentlichkeit restlos fragmentiert wäre, hätte unsere demokratische Gesellschaft, da hat er Recht, tatsächlich ein Problem.

Precht aber erläutert diesen Fragmentierungsprozess nicht näher; und er zeigt deswegen leider auch nicht, inwiefern die gemeinsame Vernetzung von Nutzern in Sozialen Netzwerken, Blogs oder anderen Plattformen des sog. Web 2.0 nur als Individualisierung und nicht auch als Sozialisierung verstanden werden kann. Er kontrastiert seinen Risikobefund allerdings mit einer Analyse der Struktur unserer Öffentlichkeit, die zunächst in ihrer Klarheit besticht. Precht skizziert in der Kürze durchaus zutreffend die Krise der Massenmedien Fernsehen und Zeitung, die in den vergangenen Jahrzehnten als Leitmedien der Gesellschaft wesentlich an der Konstruktion gemeinschaftsbildender Öffentlichkeit beteiligt waren. Diese Analyse der Krise nun kulminiert in einer These, die ich wörtlich zitieren muss, weil sie sonst niemand glaubt. Precht sagt: "Nun ist aber das Interessante an der Situation, dass eben außer den Öffentlich-Rechtlichen niemand die gewährte Chance hat, Öffentlichkeit herzustellen."

Aha. Ist das so? Meint Precht womöglich, dass die öffentlich-rechtlichen Medienhäuser, weil die Gebührenfinanzierung sie ein Stück weit dem Marktgeschehen enthebt, durch die Gesellschaft zu Alleinvertretern ihrer öffentlichen Interessen nobilitiert wären? Gewähren, nein: verpflichten nicht die Regularien des dualen Rundfunksystems gerade auch die Privatsender dazu, ihre Rolle im Spiel der medialen Öffentlichkeitskonstruktionen wahrzunehmen? Was ist mit Literaturstipendien oder der Filmförderung - und was mit den Debatten, die Bücher und Filme auslösen? Ganz abgesehen von Zeitungen und Zeitschriften (für deren gesellschaftliche Absicherung Precht am Schluss allerdings ein großes Plädoyer hält)?

Ich bin, das muss ich betonen, aus verschiedenen Gründen ein großer Freund des öffentlich-rechtlichen Rundfunks; und der Glaube an seine gesellschaftliche Relevanz ist einer der wichtigsten. Gleichwohl halte ich den Glauben an eine Alleinvertreterschaft des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für die Konstruktion von Öffentlichkeit für einen problematischen Irrglauben.

Bei Precht freilich macht diese rhetorische Zuspitzung (die ja kaum so gemeint sein kann) Sinn, wenn auch einen zweifelhaften. Denn sie erst erlaubt ihm die klare Kontrastierung zweier medialer Phänomene - des Internets als Medium radikaler Individualisierung und der Massenmedien als Hort gesellschaftsweiter Sozialisierung. Beide Mediensphären allerdings sind Chimären, in denen Precht die tatsächlich beobachtbaren Tendenzen der Fragmentierung einerseits und der Kollektivierung anderseits allzu schlicht mit einem phantastischen Bild vom Internet dort und den Massenmedien hier kreuzt. Was er durchaus weiß, denn schließlich beginnt seine Rede mit einem Rekurs zu jener mittlerweile historischen Etappe der medialen Pluralisierung von Öffentlichkeit, welche auf die Einführung des Privatfernsehens in den achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts begonnnen hat.

Wenn Precht die separatistischen Gefahren durch das Internet ebenso heillos überschätzt wie die gemeinschaftsbildenden Funktionen von ARD und ZDF, so hat diese verzerrte Darstellung der beiden medialen Sphären einen Grund in der Tatsache, dass Precht sie überhaupt als vermeintlich radikale Gegensätze konstruiert. Das ist rhetorisch nicht neu, es war aber noch nie richtig. Das Internet ist, streng genommen, gar kein Medium. Das Internet ist eine technische Infrastruktur, innerhalb derer sich eine Vielzahl unterschiedlicher Medien gebildet haben. Die Massenmedien wiederum sind längst Teil dieser Struktur - mit eigenen Angeboten ebenso wie über die (legalen, semilegalen und illegalen) Aktivitäten ihrer Leser und Zuschauer: Ich habe Prechts Vortrag nicht vor Ort gehört; ich habe ihn beim Bayrischen Rundfunk gesehen - online, aber in voller Länge. Bin ich damit Teil einer sozialen Öffentlichkeit? Oder war ich einer jener "vereinzelten Masseneremiten", als die Precht die User des digitalen Netzes charakterisiert?

Will man überhaupt einen Kontrast zeichnen, dann müsste die Trennlinie zwischen dem Bereich des professionellen Journalismus etablierter Medienhäuser auf der einen Seite und dem Bereich der vielfältigen (und ebenso unterschiedlichen) Aktivitäten nicht institutionell gebundener Internetnutzer auf der anderen Seite ziehen. Doch auch hier muss man keine unüberwindbare Kluft behaupten, und man muss schon gar nicht unsere Demokratie in Gefahr sehen - man kann, wie es zum Beispiel Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung tut, auch die Blogs des Internet als demokratischen Mehrwert beschreiben, die gerade dem professionellen Journalismus einen Gewinn bescheren.

Der tiefere Grund für Prechts am Ende doch ein wenig allzu naive Missdeutung sowohl der medialen Verhältnisse als auch des tatsächlichen Zustands unserer public sphere allerdings dürfte das etwas schlichte Verständnis von Öffentlichkeit sein, welche der Publizist präsentiert. In einer geraden Linie von der griechischen Agora zur modernen Mediengesellschaft behauptet Precht, dass Öffentlichkeit vor allem hieße, den Menschen die Chance zu geben, "über das Gleiche zu reden". Na, das wäre was! Die Idee der Öffentlichkeit auf die Etablierung thematischer Konformität zu reduzieren, aber heißt in Wahrheit, den demokratisch entscheidenden Impuls öffentlicher Debatten zu unterschlagen.

Natürlich dienen Medien, um es mit Luhmann zu formulieren, auch dazu, in komplexen Gesellschaften die Anschlussfähigkeit von Kommunikation zu sichern. Und natürlich spiegeln Medien in dem, was sie tun, auch ein Bild der Gesellschaft, in die sie vermitteln. Darüber hinaus aber vermitteln Medien in unseren Gesellschaften immer auch und wesentlich Interessen verschiedener Gruppen. Diese Interessensvermittlung steht am Anfang jenes Prozesses der Etablierung der Massenmedien im 18. Jahrhundert, den Jürgen Habermas in seinem Buch über den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" nachgezeichnet hat. Dabei gestaltet sich die Öffentlichkeit vor allem auch als eine Sphäre zur Artikulation abweichender Meinungen und partikularer Interessen. Eben damit wird sie zum Lebenselixier demokratischer Gesellschaften, die nicht zufällig der Freiheit, gegen politische oder ökonomische Widerstände Kritik öffentlich und medial äußern zu dürfen, eine so wichtige Stellung einräumt.

Habermas hatte ja übrigens die Funktion der elektronischen Massenmedien in diesem Prozess als äußerst kritisch eingestuft - weil er sie als Verlautbarungsorgane institutioneller Interessen von jeder direkten Rückkopplung an die Meinungen und Wünsche ihrer Konsumenten abgeschnitten sah. "Die durch Massenmedien erzeugte Öffentlichkeit", so schrieb er seinerzeit, "ist Öffentlichkeit nur dem Scheine nach." Derselbe Habermas wiederum, selber kein bekennender Fan des Internet, hat gleichwohl erst kürzlich der Kommunikation im World Wide Web das Potenzial attestiert, "die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einen unreglementierten Austausch zwischen Partner zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren".

Wer hingegen, wie Precht, glaubt, die mediale Öffentlichkeit sei wesentlich ein Ort der thematischen Gleichschaltung, der muss vielleicht auch nur jene Medien für öffentlichkeitsrelevant halten, die er als gleichgeschaltet halluziniert. Das allerdings waren die traditionellen Leitmedien der Moderne, das war auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen selbst in seiner Blütezeit in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nie. (Weswegen, nebenbei, auch Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger bereits Mitte der achtziger Jahre Unrecht hatten, als sie - was Precht zitiert - die drohende Zersplitterung der Öffentlichkeit durch das Aufkommen des Privatfernsehens beschworen haben.)

Wir leben in einer nicht nur komplexen, sondern intrinsisch pluralen Gesellschaft. Manche, wie Precht, sehen darin schon einen Werteverfall; andere einen Perspektivengewinn. Bei der Vermittlung der vielfältigen und zum Teil auch heterogenen Perspektiven spielen Medien eine große Rolle - die etablierten Massenmedien ebenso wie neue mediale Phänomene im Netz. Die Diversität, die im Internet zweifellos existiert, aber sollte einen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Internet eben auch, wie unter anderem der amerikanische Rechtswissenschaftler und Internettheoretiker Yochai Benkler gezeigt hat, "Mechanismen und Praktiken [gibt], die einen gemeinsamen Rahmen von Themen, Interessen und öffentlichem Wissen erzeugen, in dem Öffentlichkeit entstehen kann". Wenn, wie Precht zu Recht sagt, das Wohlbefinden demokratischer Gesellschaften und die Existenz einer funktionierenden Öffentlichkeit voneinander abhängen - dann ist gerade die Vielfalt medialer Öffentlichkeiten, mit denen unsere Gesellschaft es derzeit zu tun hat, nicht nur keine Gefahr für unsere Demokratie. sondern das beste Zeichen für ihre Stärke.

Stefan Münker

Stefan Münker ist im Nebenberuf Privatdozent für Medienphilosophie an der Universität Basel; im Hauptberuf aber Mitarbeiter eines großen deutschen Medienunternehmens. Sein Buch "Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien des Web 2.0" ist gerade im Suhrkamp Verlag erschienen.