9punkt - Die Debattenrundschau

Realitätstest

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2020. Die taz lässt Trauernde von Hanau zu Wort kommen, die kritisieren, dass sie nicht als Deutsche wahrgenommen werden. Welt-Autor Thomas Schmid graut's vor dem "ranzigen Avantgarde-Anspruch" einiger Linkspartei-Politiker, will aber ihre demokratische Gesinnung nicht in Frage stellen. Die Gewaltexzesse des "Hindu-Mobs" in Delhi gegen Muslime sind eine direkte Frucht des Hindu-Nationalismus, konstatiert die SZ. Die neue amerikanische Linke ist paradox: Religiöse Zugehörigkeit sehe sie als unveränderliches Merkmal einer Person, während sie Gender als fluid sehe, beobachtet die Ex-Muslimin Sarah Haider in hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.03.2020 finden Sie hier

Europa

Die taz lässt Trauernde von Hanau zu Wort kommen. Auch wohlmeinende Stimmen haben nach der Tat noch zur Verletzung der Angehörigen beigetragen. Etwa dadurch, dass sie ihren Bruder nicht als Deutschen, sondern als Afghanen bezeichneten, sagt Saida Hashemi, Schwester des Opfers Said Nesar Hashemi: "Er war schon immer ein deutscher Bürger, um genauer zu sein, ein Hanauer. Auch sein Autokennzeichen widmete er seiner Heimatstadt mit den Ziffern 454, die letzten drei Ziffern der Postleitzahl von Hanau-Kesselstadt. Damit wollte er seiner Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Ausdruck verleihen. Das war nur eine seiner Liebeserklärungen an unsere, an seine Stadt Hanau. Denn das ist es, was er getan hat, er hat die Stadt, in der er geboren wurde, und die Menschen, mit denen er aufgewachsen ist, sehr geliebt."

Eine Linksparteipolitikerin hat - flapsig gemeint, aber immerhin - aufgefordert, das eine Prozent der Reichen zu erschießen, und der Parteivorsitzende Bernd Riexinger hat darauf - sicher ironisch gemeint - eingewandt, dass man es bei "nützlicher Arbeit" belassen könne (er hat sich entschuldigt, mehr hier). "Es ist, als käme ein ranziger, verspießerter Avantgarde-Anspruch aus dem Gully hervor," schreibt  Welt-Autor Thomas Schmid, der dennoch an die demokratische Gesinnung des wiedergewählten thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelows  glaubt. Und deshalb : "Statt die Linkspartei kategorisch auszugrenzen wäre es besser, sie zu fordern. Sie immer wieder auf den verquasten und gefährlichen Programm-Unsinn zu stoßen, den sie mit sich schleppt. Man darf es ihr nicht mehr durchgehen lassen, dass sie in ihren strategischen Wärmekammern von einer Revolution fantasiert und der versprengten Schar ost-, besonders aber westdeutscher linker Spinner und Nostalgiker eine Heimstatt bietet. Man muss sie nötigen, sich und ihr Programm einem Realitätstest auszusetzen."
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Politik

Die Gewaltexzesse eines "Hindu-Mobs" in Delhi gegen Muslime, bei denen auch indische Polizisten mitmischten (Unser Resümee), kann man durchaus als Pogrom bezeichnen, schreibt Arne Perras in der SZ unter Berufung auf den indischen Gewaltforscher Ashutosh Varshney. Die Exzesse seien "Folge einer langfristig angelegten ideologischen Großoffensive hindu-nationalistischer Kräfte. Der rhetorische Dauerbeschuss spaltet die Bevölkerung, indem er die Minderheit der Muslime, 200 Millionen Menschen, pauschal als potenzielle Staatsfeinde stigmatisiert. (…) Das Prinzip der Polarisierung haben BJP-Politiker inzwischen so weit getrieben, dass die Hassbotschaften oft schon Aufrufe zum Angriff enthalten: 'Erschießt die Verräter der Nation', skandierte die BJP-Gefolgschaft kürzlich im Wahlkampf von Delhi, angefeuert von einem Staatsminister aus dem Kabinett Modi. Sanktioniert wurde der Politiker nur mit befristetem Auftrittsverbot, strafrechtliche Konsequenzen hatte die Hetze nicht. Und der Minister darf auch weiter Dienst in der Regierung tun."

Der chinesische Journalist Li Zehua ging als unabhängiger Reporter nach Wuhan, heuerte dort als Leichenträger an und deckte unter anderem auf, dass die Corona-Toten wesentlich höher als offiziell angegeben sein mussten, meldet der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu in der FAZ: "Am 26.Februar 2020 fuhr Li Zehua auf Recherche in Wuhan zu einem scharf bewachten französisch-chinesischen Labor. Er blieb in seinem Wagen, wurde aber trotzdem von der Staatssicherheit bemerkt und verfolgt. Während der Verfolgungsjagd konnte er noch ungefähr dreißig Sekunden lang filmen, es ist eine hollywoodreife Szene geworden. Er schaffte es schließlich nach Hause, verbarrikadierte die Tür und installierte eine Live-Schaltung mit seinem Computer. Dann begannen vier Stunden, bevor er verhaftet wurde, in denen viele Menschen das Schicksal Li Zehuas live verfolgten, nicht nur die Staatssicherheit in China vor seiner Tür, sondern auch Zuschauer an ihren Handys und Computern."
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Gesellschaft

Mit ihrem Buch "Sprache und Sein" möchte die Kolumnistin Kübra Gümüsay auf den "Käfig" aufmerksam machen, den Sprache baut. Im Interview mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung) erklärt sie, weshalb man beispielsweise nicht mehr pauschal von "den Ostdeutschen" sprechen sollte und weshalb ihr Kopftuch in Großbritannien eine geringere Rolle spielte als in Deutschland: "Großbritannien hat eine ganz andere Einwanderungsgeschichte  als Deutschland. Dort ist es normaler, dass in Redaktionen, im Fernsehen, in Expertenrunden Menschen of Color zu sehen sind, während selbige in Deutschland nur zu ihrer Identität sprechen dürften. In einem global denkenden Zirkel, muss man Perspektivbewusstsein entwickeln und erleben, dass die eigene Perspektive begrenzt und eingeschränkt ist. Und dass man in jedem Kontext eine Übersetzungsleistung erbringen muss."

Island
hat gerade einmal 364.000 Einwohner, irgendwie ist jeder mit jedem verwandt - ein "Paradies" für Genealogen also, stellt Aldo Keel in der NZZ fest. Die Daten von 95 Prozent der nach 1703 Geborenen sind bereits vom Genforschungszentrum erfasst: "Auf der Datenbank beruht auch die Smartphone-App, die es Interessenten erlaubt, herauszufinden, ob und wie sie mit ihrem potenziellen One-Night-Stand verwandt sind. 'Bump in the app before you bump in the bed', lautet die Devise."

In der FAZ erzählt Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin und damit Nachfolgerin des umstrittenen Wolfgang Benz, dessen Schülerin Yasemin Shooman wiederum in der FAZ attackiert wurde (unsere Resümees), was es mit der Antisemitismusforschung auf sich habe. Die verschiedenen Formen von Vorurteilen gegen Juden, Muslime, Frauen, Homosexuelle seien ineinander verwoben, schreibt sie in einem sehr diplomatisch wirkenden Artikel. Indirekt nimmt sie auch auf die Kritik an Benz und Shooman Bezug, denen vorgeworfen wird, das, was man heute "antimuslimischen Rassismus" nennt, mit Antisemitismus gleichzusetzen: "So absurd dies auch klingen mag, muss man doch feststellen, dass manche Vorstellungen von angeblicher muslimischer Macht und Einfluss sich mittlerweile strukturell den klassischen Verschwörungstheorien durchaus annähern, wobei sie jedoch im Unterschied zu diesen auf den islamistischen Terrorismus verweisen können als Quasibeleg für eine Bedrohung, die plötzlich von allen ausgeht, die ähnliche Namen oder, siehe Hanau, auch nur schwarze Haare haben."
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Internet

Dier Bundesregierung hat Investitionen in Digitalisierung zur Priorität erklärt. Seitdem hat man nicht viel gehört. Dann stellten Abgeordnete eine Anfrage, berichtet Tomas Rudl in Netzpolitik: "Monate später liegt nun die Antwort der Regierung vor - und immer noch kann sie keine umfänglichen Zahlen nennen. Sie räumt ein, dass es 'durchaus Bedarf an einer Erhebung digitalpolitisch relevanter Haushaltsposten' gebe. Liefern könne sie diese jedoch nicht in vollständiger Form: Aufgrund der hohen Komplexität des Begriffs 'Digital' falle es schwer, eine trennscharfe Abgrenzung vorzunehmen. Über die Anfrage hatte zuerst das Handelsblatt berichtet."

Die Regierungsbildung in parlamentarischen Demokratien steckt in der Krise, konstatiert Miriam Meckel in der NZZ und fragt ernsthaft: Warum übernehmen eigentlich nicht Algorithmen die Wahlen? "Eine algorithmische Wahl, gestützt auf die Rechen- und Prognosekapazitäten künstlich intelligenter Systeme, könnte hinreichend genau beschreiben, was die Bürger wollen. Die Berechnungen ließen sich permanent auf Basis wachsender Datenmengen und immer zeit- und passgenau durchführen. Damit trügen sie auch den Veränderungen der Meinungsbildung Rechnung, die jederzeit bei einer Entscheidung auch kurzfristig möglich sind." Dem Staatswesen müsse man dann allerdings "eine Stunde null der Datensammlung gönnen", um Daten von Verzerrungen zu bereinigen.
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Ideen

Das Coronavirus ist ein Mahnruf, um die Globalisierung zurückzubauen, findet Claus Leggewie in der taz: "Die Regionalisierung der Märkte wäre ein wichtiger Baustein zu einer rationalen und schrittweisen Deglobalisierung. Wer arbeits- und sozialpolitische, gesundheitliche und ökologische Kosten zusammenzählt oder in die Bilanz einrechnet, erkennt die immensen Kosten und Kollateralschäden einer aus dem Ruder gelaufenen Globalisierung." Wie genau er den "ekligen Bündnispartner: die völkisch-autoritären Nationalisten, die in den USA und Großbritannien gerade demonstriert haben, welchen Schaden wirtschaftlicher Protektionismus anrichten kann", dabei im Zaum halten will, macht er nicht ganz klar.

Andreas Kyriacou unterhält sich bei hpd.de mit Sarah Haider, die die "Ex-Muslims of North America" gegründet hat und unter anderem über die Reaktionen des sehr religiösen und auf der Linken heute sehr proreligiösen amerikanischen Publikums spricht: "Religiosität wird von Vertretern der Identitätspolitik oftmals als etwas Unveränderliches angesehen. Dabei beweisen wir Ex-Muslime alleine durch unsere Existenz, dass die eigene Weltanschauung etwas Dynamisches ist und man einem ganzen Strauß von Ideen nachgehen kann. Es wird übrigens spannend sein zu sehen, welchen Einfluss die Genderdebatte auf die Identitätspolitik haben wird, die in vielerlei Hinsicht von der Unveränderbarkeit von Merkmalen ausgeht, beim sozialen Geschlecht aber Fluidität betont."
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Geschichte

Rainer Bieling erinnert in seinem Blog an die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz", die vor sechzig Jahren von dem Studenten Reinhard Strecker initiiert und in der Galerie Springer gezeigt wurde und die vom SPD-geführten Westberliner Senat unter Willy Brandt heftigst bekämpft wurde - natürlich mit dem Argument, die Ausstellung sei DDR-gesteuert: "Tatsächlich bestätigte Generalbundesanwalt Max Güde bereits 1960 die Echtheit aller einhundert Fälle von 'Ungesühnter Nazijustiz'. Die Umdeutung dieser 'antifaschistischen Aufklärungsarbeit' (SPD 2015) als 'Agitation zugunsten sowjetzonaler Stellen' (SPD 1960) erwies sich schon zu ihrer Zeit als haltlos. Sie stigmatisierte den Initiator jedoch nachhaltig, was auch deshalb leicht möglich war, weil die DDR-Propaganda die 'Ungesühnte Nazijustiz' politisch instrumentalisierte, erst recht in den Jahren nach dem Mauerbau, nicht zuletzt mit dem 'Braunbuch: Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik' von 1965. Heute, da Deutschland nicht mehr zwei verfeindete Establishments hat, sondern nur noch ein sich einiges, liegen Instrumentalisierung der einen und Stigmatisierung der anderen in einer Hand."

Wir erleben zwar kein zweites Weimar, schreibt der Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz im Tagesspiegel, dennoch erinnert er mit Blick auf die Beleidigungen gegen Renate Künast oder Sawsan Chebli (unsere Resümees), die per Gerichtsbeschluss als Meinungsäußerungen gelten, an den Fall des einstigen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger, der vor hundert Jahren gerichtlich gegen den Rechtspopulisten Karl Helfferich vorging, als dieser ihn in einer Artikelserie mit dem Titel "Fort mit Erzberger!" beleidigte: "Helfferich war wegen der monströsen Beleidigung zwar der Angeklagte, aber das Gericht drehte den Spieß um. Eine lächerliche Geldstrafe war formaljuristisch geboten, der Beleidigte verließ jedoch als Vernichteter den Gerichtssaal. Die Hassbotschaft wurde unmittelbar verstanden, und das macht die historische Reminiszenz aktuell. Noch während des Prozesses schoss ein Verhetzter nach der Lektüre der Beleidigungen auf Erzberger und verletzte ihn schwer. Dass der Politiker in Folgeprozessen rehabilitiert wurde, nützte ihm nichts. Im August 1921, kurz vor seiner Rückkehr in die Politik, wurde er zum zweiten Mal Opfer eines Mordanschlags von Rechtsterroristen."
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