Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2004. In der FR beschuldigt Wolfgang Templin in einer scharfen Polemik die Regierung der Inkompetenz für die Neuen Länder. Die taz feiert das Schiesser-Revival, dessen Glamour sogar bis zu Frances McDormand durchgedrungen ist: Wo gibt es nur diese coolen Unterhemden zu kaufen? Die NZZ fürchtet die Überfülle des Wissens im Internet: Sie verführt die heutige Jugend zu Copy & Paste. In der FAZ macht sich Hans-Christoph Buch wenig Hoffnungen für Haiti.

SZ, 14.02.2004

Das SZ-Feuilleton wirft sich in die allerjüngste Klon-Debatte. Der Mediziner und SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg gibt zu bedenken: "Zerstörte Inselzellen können vielleicht durch Zellen aus geklonten Embryonen ersetzt werden, mit den Ersatzzellen wird aber dasselbe wie mit den körpereigenen geschehen. Wo die 'Verständigung' schon zwischen den Zellen des eigenen Körpers nicht funktioniert, da wird sie erst recht nicht mit fehlerhaften Klonzellen funktionieren. Ähnliches gilt für die Alzheimererkrankung, bei der das Gehirn durch Eiweißablagerungen geschädigt wird. So lange man nicht versteht, warum das passiert, hilft es wenig, immer wieder Ersatzgewebe zuzuführen." Der Hirnforscher Otmar Wiestler sieht im Interview noch weniger Erfolgschancen für das therapeutische Klonen: "Das 'therapeutische Klonen' wird in meinen Augen nie zur Therapie eingesetzt werden. Es ist ein Irrweg."

Weitere Artikel: Zum Valentinstag berichtet Bernd Herbon, dass sich in den USA nun auch die Einsamen als "Quirkyalones" (etwa: schrullige Alleinstehende) zur Identitäts- und Interessengruppe zusammentun. In Serbien hat man sich, berichtet Bernhard Küppers, eine 200-Jahr-Feier ausgedacht - nur feiern will niemand so recht. Sonja Zekri hat in der Bonner Kunsthalle die Schätze des Kreml gesehen. Reinhard Schulz berichtet von einem musikalischen All-Star-Auftrieb in München, mit - unter anderen - Kurt Masur, dem London Philharmonic Orchestra und Anne-Sophie Mutter. Den Nachruf auf den früheren dtv-Verleger Heinz Friedrich schreibt Joachim Kaiser. In London gibt es mit "The Permanent Way" ein dokumentarisches Eisenbahndrama von David Hare zu sehen. Und Raphael Honigstein meldet eine Krise der britischen Modehäuser berichtet .

Im Berlinale-Teil wird Romuald Karmakars Dokumentarfilm "Land der Vernichtung" als Zumutung und starkes Stück gelobt. Drei gelungene Dokumentarfilm werden gemeinsam besprochen: Andres Veiels "Die Spielwütigen", Allan Kings "Dying at Grace" und Volker Koepps "Dieses Jahr in Czernowitz". In Eric Rohmers Wettbewerbsbeitrag "Triple Agent" vermisst Anke Sterneborg Spannung und Romantik, während sie sich von Theo Angelopoulos' "Die Erde weint" beeindruckt zeigt.

Besprochen werden Bücher, darunter ein Bildband über den Ringkampf und, sehr ausführlich, ein Band mit der Korrespondenz des Kunsthistorikers Erwin Panofsky (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

In der SZ am Wochenende porträtiert Evelyn Roll den McKinsey-Deutschland-Chef Jürgen Kluge, der nicht die beste Meinung von der Politik hat: "Politik ist ein schwieriger Bereich für Berater. Beamte und Politiker bilden ein Fehlervermeidungssystem. Es fliegt ja keiner raus, weil er zehn Jahre lang erkannt hat, dass das Rentensystem platzt und trotzdem nichts unternimmt, sondern höchstens, weil er miles and more nicht korrekt abgerechnet. Das wird sich ändern und professionalisieren. Was wir zurzeit erleben, sind die Geburtsschmerzen dieser Professionalisierung." Juan Moreno stellt den Exil-Iraner Farhad Fardjad vor. Dass wir alle Halb-Kantianer sind, ob wir wollen oder nicht, versucht uns Klaus Podak klarzumachen. Über Beipackzettel der Kosmetikindustrie wundert sich Natalie Späth. In seiner Erzählung "Fremdkörper" schildert Feridun Zaimoglu eine Taxifahrt. Und Christian Wernicke unterhält sich mit dem deutschen EU-Botschafter Wilhelm Schönfelder über das Boxen.

TAZ, 14.02.2004

Henning Kober rollt den kleinen Skandal um das Erfurt-Buch von Ines Geipel (mehr) noch einmal auf und stellt fest, dass die Autorin manch Unbekanntes herausgefunden hat: So war etwa "Robert Steinhäuser nicht der Einzelgänger, als der er bisher geschildert wurde. 'Sein Umfeld ist erstaunlich schlecht recherchiert', sagt Ines Geipel. Er hatte sogar eine Freundin, die sich bisher nicht öffentlich geäußert hat und kurz nach dem Amoklauf mit ihren Eltern nach Süddeutschland zog. Auch vom Drogenkonsum Steinhäusers war bisher nichts bekannt. Geipel zitiert einen Freund, der anonym bleiben will: 'Gras hat uns nicht so interessiert, das kannten wir ja. Aber der ganze Chemiekram, Ecstasy oder Tilidin - es hat richtig Spaß gemacht, das auszuprobieren.'"

In der tazzwei äußert sich die Schauspielerin und diesjährige Berlinale-Jury-Präsidentin Frances McDormand über die wichtigen Dinge des Lebens wie Frisuren und Brustattrappen. Und dies: "Oh, da fällt mir noch eine Frage ein: Wo gibt es denn hier in der Nähe diese coolen Schießer-Unterhemden zu kaufen? Ich liebe sie, aber bei uns gibt es sie fast nirgendwo." (Um Schiesser geht es übrigens, siehe unten, im heutigen taz mag.)

Berlinale: Wir werden informiert über neue Schwerpunkte des chinesischen Films und über dokumentarische Rekonstruktionen des Afro-Western. Großen Gefallen findet Detlef Kuhlbrodt an der Forums-Doku "Jarmark Europa". Diedrich Diederichsen hält Eric Rohmers "Triple Agent" nicht gerade für den untrockensten Film des Regisseurs, während Jan Distelmeyer in Ken Loach bei "Ae Fond Kiss" den Wiedergänger von Douglas Sirk ausgemacht hat. Es wird eine kurze Begegnung mit dem Kubrick-Nachlassverwalter Jan Harlan geschildert und Cristina Nord hat ein Interview mit dem Ehrenbärenpreisträger Fernando Solanas geführt.

Besprochen werden Bücher über nationale Identitäten, die Autobiografie von Sting und ein wiederentdecktes Buch von Oskar Pastior (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im taz mag berichtet Lilli Brand von ihrem Leben als Prostituierte und schildert Fälle wie diesen: "Als wir auf dem Zimmer waren, meinte er, ich sähe seiner Mutter ähnlich. Während des Geschlechtsverkehrs sollte ich ihn mit 'mein Sohn' anreden. Das tat ich, wobei ich ihn kräftig lobte: 'Das machst du gut, mein Sohn', 'Deine Mama möchte, dass du sie richtig fickst', und so weiter. Nachdem er gekommen war, lag er still da und weinte." Außerdem informiert Nike Breyer über neueste Unterwäsche-Moden, namentlich im Hause Schiesser: "Aus der alten Not mittelmäßiger Reputation machte der 1875 gegründete deutsche Marktführer für Unterwäsche die Tugend eines Bekenntnisses zu Qualität und Tradition und lancierte zum Oktober 2003 die neue Linie 'Schiesser Revival'"

Schließlich Tom.

FR, 14.02.2004

Der Ex-Bürgerrechtler Wolfang Templin stellt fest, dass die SPD im Osten alles falsch gemacht hat und gewiss weiter falsch machen wird: "Während sich an der prekären Normalsituation im Osten nichts verbesserte, die Verödung ganzer Regionen voranschritt und die Abwanderung anhielt, während von einem selbsttragenden Aufschwung nichts sichtbar war, schnürten die Agenda-Befürworter Reformpakete, die in all ihren Auswirkungen, ohnehin gebeutelte Menschen im Osten doppelt und dreifach treffen. Warnungen und Interventionen, die bis in die Riege der ostdeutschen Ministerpräsidenten reichten und eine völlige Untauglichkeit der Hartz-Arbeitsmarktrezepte für den Osten konstatierten, wurden weggebügelt. Die Aufgabe einer zentralen Interessenvertretung Ost im Kabinett, landete nach halbherziger Suche bei der ausgewiesenen Altlast Manfred Stolpe, dessen DDR-light-Politik, Brandenburg die rote Laterne unter allen neuen Bundesländern bescherte."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte zeigt sich mit der "New-Hollywood"-Retrospektive der Berlinale nur bedingt glücklich. Weil die "ganze Neunziger-Jahre-Verheißung" nun doch nicht "lauter dicke, glückliche Künstler in Jaguar Coupes hervorgebracht" hat, zieht sich die 3. Berlin-Biennale, wie Silke Hohmann berichtet, mit einer "historisierenden Schau" in den Schmollwinkel zurück. Stefan Keim hat beim Off-Theater-Treffen "Impulse" viel gut Gemeintes gesehen und kaum Aufregendes. Den Nachruf auf den früheren dtv-Verleger Heinz Friedrich schreibt Peter Michalzik. Renee Zucker hat auf ihrer Indien-Reise diesmal Differenzen ausgemacht, wohin sie blickt. Auf der Medienseite informiert Thomas Roser über das in Weißrussland ausgebrochene Grand-Prix-Fieber.

NZZ, 14.02.2004

Der Philosoph Michael Schefczyk fürchtet, dass gerade das Überangebot an Wissen im Internet zur Verdummung der jungen Generation beitragen könnte. Denn es ist so verdammt leicht geworden abzukupfern! "Mit der massenhaften Verbreitung von Computern und Internetanschlüssen hat ein veritabler Kostensturz eingesetzt. Wer heutzutage den betrügerischen Fremdbezug der mühsamen Eigenerstellung vorzieht, braucht anscheinend weder Beziehungen, Zeit noch Nerven. Eine Schlagwortsuche im Netz, der Zugriff auf einschlägige Angebotsseiten, ein paar gedrückte Tasten und das (trügerische) Bewusstsein, weder etwas Anstößiges zu tun noch überführbar zu sein, lassen die empfundenen Kosten des Prüfungsbetrugs auf nahe null fallen." Vielleicht sollte man Google erst ab 18 zulassen.

Paul Jandl schildert eine recht einschneidende Theaterreform in Wien. Danach sollen nicht mehr sehr viele Off-Gruppen mit wenig Geld, sondern sehr wenig mit viel Geld gefördert werden. Alice Biro schreibt zum 100. Geburtstag des Architekten Jean Tschumi

Besprochen werden eine Ausstellung über "Joseph Beuys in Basel" im Basler Museum für Gegenwartskunst und eine Ausstellung über den "Mythos Paris" im Linzer Lentos-Kunstmuseum.

In Literatur und Kunst schreibt Oskar Bätschmann zum 600. Geburtstag des Architektur- und Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti. Hanna Gagel widmet sich erotischen Motiven in den Werken Georgia O'Keeffes, Niki de Saint Phalles, Frida Kahlos oder Louise Bourgeois'. Felix Meyer freut sich, dass der musikalische Nachlass von Edgard Varese in die Basler Paul-Sacher-Stiftung überführt wird und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich ist. Anne L. Shreffler analysiert sehr lesenswert Igor Strawinskys "Movements" für Klavier und Orchester und stellt dies Werk der absoluten Musik aus dem Spätwerk des Komponisten in einen politischen Zusammenhang. Genoveva Dieterich porträtiert den spanischen Schriftsteller Juan Benet. Und Kersten Knipp bespricht einen Erzählungsband von Francisco Ayala.

FAZ, 14.02.2004

Wenig Hoffnung macht sich Hans-Christoph Buch für Haiti, auch wenn das Regime Aristides nun dem Ende entgegenzudämmern scheint: "Die von der Weltbank verordnete Rosskur zur Behebung der Wirtschaftsmisere scheiterte ebenso wie die von den UN abgesegnete Militärintervention zur Schaffung einer rechtsstaatlichen Demokratie, ganz zu schweigen von Hilfe zur Selbsthilfe oder wie die Zauberformeln der Entwicklungsexperten sonst noch lauten, deren Bemühungen von Haiti abperlen wie von einem nassen Stein."

Weitere Artikel: Edo Reents beschuldigt in der Leitglosse Ulrich Wickert in seiner Anmoderation der Tagesthemen vom 12. Februar Kants kategorischen Imperativ verkürzt zu haben. Christian Geyer plädiert für ein Verbot des Klonens. Kerstin Holm resümiert eine Kaliningrader Konferenz über Kant. "Sel." meldet, dass Aachens Karlsbüste restauriert wird. Andreas Platthaus hörte an der American Academy Berlin einem Vortrag des in Chicago lehrenden Historikers Michael Geyer zu, der versuchte zu erklären, warum sich in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs noch so viele deutsche Soldaten opferten - und das Phänomen einem "katastrophischen Nationalismus" zuschreibt. Renate Schostak schreibt zum Tod des Verlegers und Schriftstellers Heinz Friedrich, der den Deutschen Taschenbuch Verlag mit begründete. Martin Lhotzky gratuliert dem Historiker Herwig Wolfram zum Siebzigsten. In seiner Zeitschriftenschau konstatiert Jürg Altwegg den betrüblichen Niedergang der französischen Literatur- und Verlagsszene.

Besprochen werden eine Ausstellung über Chagall und die Chagall-Rezeption in Deutschland im Jüdischen Museum Frankfurt, Aribert Reimanns neue Komposition "Tarde", uraufgeführt von Lothar Zagrosek und dem Stuttgarter Staatsorchester auf Teneriffa, Haflidi Hallgrimssons Oper "Die Welt der Zwischenfälle" in Lübeck

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Friedrich Kittler zum sechshundertsten Geburtstag Leon Battista Albertis. Vorabgedruckt wird ein Porträt Franz Joseph Ernestus Antonius Emerentius Maria Kapfs, eines Glücksritters und Maulhelden aus Felicitas Hoppes demnächst erscheinenden Buch "Verbrecher und Versager"

Auf der Berlinale-Seite zeigt sich Michael Althen (ganz anders als Ekkehard Knörer, mehr hier) nicht gerade begeistert von Eric Rohmers Film "Triple Agent": "Es wird geredet und geredet, wie das bei Rohmer ja häufig der Fall ist, aber diesmal redet sich nicht nur das Personal, sondern auch der Film um Kopf und Kragen. Andreas Kilb sah in Ken Loachs Film "Ae Fond Kiss" "genau das, was man von Loach erwartet hat". Und Mark Siemons empfiehlt dringend den chinesischen Forumsfilm "South of the Clouds" von Zhu Wen. Besprochen werden zudem "Konzert- und Konzeptfilme".

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über erste Aktivitäten des neuen Sat 1-Chefs Roger Schawinski. In der Reihe "Stimmen" schreiben Markus Metz und Georg Seeßlen über "die Synchronisation".

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um eine neue CD des auf alte spanische Musik spezialisierten Ensembles Hesperion XX mit Musik aus dem 16. Jahrhundert, die die wilde Mischung der Kulturen im Spanien jener Zeit widerspiegelt, um eine CD des Beethovenhauses in Bonn, die versucht, Beethovens Schwerhörigkeit akustisch zu demonstrieren, um Courtney Loves Solodebüt, um Jazz-Improvisationen Wolfgang Mitterers und um die Jazz-Sängerin Viktoria Tolstoy.

Auf der Literaturseite bespricht Andreas Platthaus Thorsten Beckers Roman "Sieger nach Punkten" und Felicitas von Lovenberg setzt sich mit Michael Frayns Roman "Das Spionagespiel".

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans-Christoph Buch ein Gedicht Durs Grünbeins vor - "

Schwarzer Mittwoch":

"Als du so traurig warst, sah ich zum erstenmal
Die leere Schulbank, das zerhackte Kinderbett im Rücken...."