Efeu - Die Kulturrundschau

Angeblich auch eine Komödie

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18.11.2014. Die FR hört radikale Musik vor radikaler Kunst. Warum so deprimiert, fragt die Welt nach zwei Britten-Opern in Berlin. Die SZ bewundert Gottfried Lindauers Maori-Gemälde. Die Berliner Zeitung versucht den Haken von Azealia Banks zu folgen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.11.2014 finden Sie hier

Bühne


Die Schändung der Lucretia © 2014, Marcus Lieberenz

Der britische Komponist Benjamin Britten war homosexuell. 1936, als er sich erstmals verliebte, war das keine Kleinigkeit. Auch wenn er später offen und unbehelligt mit seinem Partner Peter Pears zusammenlebte, war "das Verschwiegene, Verborgene, Verdrängte" zentral für Brittens Werk, erklärt in der Welt Lucas Wiegelmann. In Berlin kann man das derzeit gleich an zwei Britten-Opern überprüfen: Bei "Turn of the Screw" an der Berliner Staatsoper und der "Schändung der Lucretia" an der Deutschen Oper Berlin. Die düstere Musik und Inszenierung insbesondere der "Lucretia" lässt kaum Hoffnung: "Während der kurzen Zeit ihres irdischen Wirkens sind die Menschen einzig getrieben von einer monströsen Begierde, die selbst den Berufspessimisten Schopenhauer betroffen gemacht hätte. Woher kam diese Dunkelheit? Wie anders anders sah doch Brittens wahres Leben aus. Haus am Meer, Orden von der Queen, treuer Partner, viele Freunde, soziales Engagement. Hatte er seine Vorliebe für schöne Jünglinge aus früheren Tagen vergessen, oder belastete sie ihn noch? Wenn falsche Begierde und der Umgang mit ihr Britten Angst machte, so war er offenbar in der Lage, seine Nöte in seiner Musik auszutragen." In der FAZ meint Jan Brachmann: "Da hilft nur noch beten."

Stephanie Mohrs Bühnenadaption von Imre Kertészs Roman "Liquidation" am Frankfurter Schauspiel konnte Sylvia Staude von der FR nicht überzeugen: "Die Inszenierung kommt übers Lauwarme, seltsam Unbeteiligte nicht hinaus. Sie müsste einem doch geradezu das Herz zerreißen. ... Das Frankfurter Schauspiel hat es als erste Bühne gewagt, den Spiegel-im-Spiegel-Roman, in dem ja angeblich auch eine Komödie steckt, inszenieren zu lassen. Das ist mit Sorgfalt geschehen und doch nicht gelungen." Auch Cornelia Fiedler resigniert in der SZ: "Mohr und ihr Dramaturg Michael Billenkamp versuchen eine ruhige, respektvolle Annäherung an den Roman. ... [Doch die] Inszenierung (...) bleibt hinter der Verunsicherungskraft des Roman zurück." (Bild: Sabine Waibel in "Liquidation". Regie: Stephanie Mohr. Foto: Birgit Hupfeld)

Auch Katrin Bettina von der taz findet es insbesondere nach Blick auf Meeses Website schade, dass Jonathan Meese 2016 keinen "Parsifal" in Bayreuth inszenieren wird: "Die Marke Bayreuth hat niemanden, der mit solchem Charme und Witz für sie eintritt. Das ist eines der Dinge, die die Festspiele von Meese hätten lernen können. Ganz abgesehen davon, wie man den Umgang mit den Dämonen, Diktatoren und Monstern aus der Geschichte und der Kunst entspannt." Eher gelassen winkt Judith von Sternburg in der FR ab: "Ja, stimmt, in Bayreuth wird nicht alles gewagt und geschafft. Das war schon immer so."

Weiteres: Toshiyuki Kamioka hat als Intendant der Wuppertaler Oper ordentlich gespart, nur noch mit bekannte Stücke mit Gastarbeitern gezeigt und will nun doch nach wenigen Monaten gehen, meldet Stefan Keim in der Welt: "Grund dafür sei die heftige Kritik durch Journalisten und Teile des Publikums. Außerdem wolle das Orchester eine geplante Japantournee nicht mitmachen. Die Musiker hätten Angst vor der Restradioaktivität nach Fukushima."

Besprochen werden Nino Haratischwilis am Deutschen Theater in Berlin aufgeführtes "Land der ersten Dinge" (Tagesspiegel), Hans Neuenfels" Inszenierung der "Manon Lescaut" an der Bayerischen Staatsoper München (NZZ) und Peter Turrinis "Bei Einbruch der Dunkelheit" am Wiener Burgtheater ("ein greller, lustiger Abend, den man genießen kann", meint Martin Lhotzky in der FAZ).
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Kunst


Bild links: Gottfried Lindauer, Mrs Paramena, ca. 1885 | Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa, Ankauf mithilfe neuseeländischer Lotteriemittel 1995. Bild rechts: Gottfried Lindauer, Tamati Waka Nene, 1890 | Auckland Art Gallery Toi o Tāmaki, Geschenk von H. E. Partridge, 1915

Erstmals sind in Deutschland Gottfried Lindauers Maori-Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Im SZ-Gespräch mit Catrin Lorch erklärt Direktor Udo Kittelmann die Besonderheiten der Bilder aus dem Verständnis der Maori, die die Bilder ihrer Ahnen nur nach vielen vertrauensbildenden Maßnahmen ziehen ließen: "Für uns sind Porträts unserer Vorfahren so etwas wie tote Seelen. Die Maoris dagegen versichern sich anhand dieser Bilder von Lindauer ihrer familiären Zusammenhänge in einer bis heute gelebten Erinnerungskultur. ... Alles was in den Bereich einer kommerziellen Nutzung geriet, bedurfte weiterer Gespräche mit den einzelnen Nachfahren. Dem Bedürfnis unserer Zeit unsere Abbilder für alle möglichen Zwecke verfügbar zu machen und zu vervielfältigen begegnen die Maori mit größter Skepsis."

Besprochen wird die Ausstellung "Degas - Klassik und Experiment" in der Kunsthalle Karlsruhe (FAZ).
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Literatur

René Hamann empfiehlt in der taz österreichische Literatur.

Besprochen werden neue Science-Fiction-Comics (taz), Dana Spiottas "Glorreiche Tage" (Tagesspiegel), Chloé Cruchaudets Comic "Das falsche Geschlecht" (Tagesspiegel), Cynthia Ozicks Henry-James-Adaption "Miss Nightingale in Paris" (NZZ), Pierre Lemaitres "Wir sehen uns dort oben" (Tagesspiegel), Alexandre Dumas" "Ein Liebesabenteuer" (FR) und Hans Keilsons "Tagebuch 1944" (SZ) (Leseprobe bei "Vorgeblättert")
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Musik

Beim Hören des Debütalbums von Azealia Banks, das nun nach zwei Jahren Verspätung und viel Gerangel mit den Majors doch noch veröffetlicht werden konnte, vergeht Markus Schneider (Berliner Zeitung) so ziemlich Hören und Sehen vor Glück: "Ziemlich super geworden", meint er und schreibt weiter: "Banks eilt derart hakenschlagend durch die 16 Songs, dass man sie fast aus den Augen verliert. Am Ende wundert man sich kaum mehr darüber, dass sie als absurden Höhepunkt ein Beach-Boys-Surf-Pastiche mit Gitarrentwang und Kinderorgel namens "Nude Beach A-GoGo" aus der Feder des kalifornischen Retrorockers Ariel Pink singt."


On Kawara, Date Paintings, 1966 - 2000. Foto: Axel Schneider © MMK Frankfurt

Ganz hervorragend gefallen hat Hans-Klaus Jungheinrich (FR) eine Frankfurter Konzertreihe der Geigerin Carolin Widmann. Inspirierend insbesondere das Konzert im Museum für Moderne Kunst, bei dem Musik vor verschiedenen Kunstwerken aufgeführt wurde, zum Beispiel vor "den nüchtern-perfektionistischen "Date paintings" von On Kawara. Dessen obsessives Lebenswerk der Datumstafeln ist eine ebenso pedantische wie bedeutungsleere Serie gleichartiger optischer Objekte, der man die "Bild"-Qualität ebenso absprechen könnte wie Cage den Klang-"Charakter". Es war indes reizvoll, dass Kawaras reduktionistische Zen-Haltung hier nicht mit Cage "verdoppelt", sondern durch extrem bedeutungsgeladene und zeitstrukturierende Musik konterkariert wurde: Jörg Widmanns verhext virtuose "Étude III" und die Chaconne aus Bachs Partita d-moll, zwei extreme Zeiterkundungen der Solovioline."

Weitere Artikel: Sandra Luzina trifft sich für den Tagesspiegel mit den Musikern von Gob Squad. Beim Rolling Stone schreibt Eric Pfeil Poptagebuch.

Besprochen werden das Berliner Motorhead-Konzert (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Team Amateurs Album "Feuer & Freizeit" (ZeitOnline), das eue Album "Sonic Highways" der Foo Fighters (SZ), ein Konzert von Jack White (FR), die Performance "Lament" der Einstürzenden Neubauten (FAZ, mehr) und Rüdiger Eschs Buch "Electri_City" über Düsseldorf als Keimzelle der elektronischen Musik (FAZ, mehr).

(via 3 quarks daily) Kleiner Trost für den verregneten Dienstag: Ein Konzert von 1965 mit dem Gitarristen Manitas de Plata, Flamencosänger Jose Reyes und Salvador Dali in Aktion.


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Design

Das Wendemuseum in Kalifornien, das weltweit über die wahrscheinlich größte Sammlung von Gegenständen aus dem DDR-Alltag verfügt, fasziniert die Feuilletons im Mauerfall-Jubiläumsjahr auch weiterhin. Jetzt hat sich Susanne Lenz für die Berliner Zeitung mit dem Museumsleiter Justinian Jampol unterhalten. Grundlage der beträchtlichen Sammlung stellt ein gutes persönliches Netzwerk nach Europa dar, erfahren wir: "Die beste Sammlungen kommen von Leuten, die ihr Leben einer Sache gewidmet haben, einer Alternativkultur, der Dissidentenbewegung, Musik, Theater. Wir versuchen, Menschen mit solchen Leidenschaften zu finden. Oft bekommt man dann eine komplette Sammlung, wie sie kein Museum hat, und wie man sie nur in 20 Jahren zusammentragen kann."
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Stichwörter: DDR-Alltag, Mauerfall, Kalifornien