Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2002. Napster war nur ein müdes Vorspiel, meint die SZ: Jetzt kommt die große Zeit der Filmpiraterie. Die FR wundert sich, dass Gerhard Haderers harmloser Jesus die Kirche provoziert. Die taz erinnert ans Erinnern. Die NZZ zitiert aus Akten der Nobelpreisakademie. Die FAZ beklagt die "aberwitzigen Schachzüge" der Berliner Kulturpolitik.

SZ, 08.04.2002

Andreas Bernard liefert ein Stimmungsbild aus Sarajewo, das sieben Jahre nach der Belagerung zwischen Hedonimus und Apathie schwankt: "Sehen und gesehen werden: Diese abgegriffene Formel bekommt in Sarajewo plötzlich eine politische Dimension, bezieht sich weniger auf einen Reflex der Eitelkeit als auf eine Freiheit der Selbstdarstellung, die früher über vier sonnige Jahreshälften hinweg unmöglich war. Man gibt wieder ein gutes Bild ab und keine gute Zielscheibe ... Sarajewos offensive Lebenslust ist von einer spürbaren Trägheit überlagert, so wie sich auch die Unbeschwertheit in den Straßen eines Ferienortes immer mit einem Überdruss an der bloßen Zerstreuung mischt."

Bernd Graff erklärt, wie man Pay-TV problemlos aushebeln kann. "Musikpiraterie war gestern. Heute muss die Filmindustrie zittern. Seit den herben Erfahrungen der Musikbranche mit Napster und den Napster-Surrogaten weiß man um die hohe Attraktivität einer illegalen Weitergabe von raubkopierten Digital-Produkten - bei Filmen spricht man von Ripps. Sie sind inzwischen einfach herzustellen, können verlustfrei vervielfältigt und unabsehbar verschoben werden. Das gilt gerade für die hippsten Produktionen der weltweiten Traumfabriken. Was angesagt ist, lässt sich über P2P-Netze mit Namen KazaA oder edonkey2000 auch beziehen - US-Originale in Deutschland meist sogar noch vor dem lokalen Kinostart."

Weiteres: Wolfgang Schreiber nennt Daniel Barenboim (mehr hier) der gerade seinen Wagner-Marathon an der Berliner Staatsoper glücklich hinter sich gebracht hat, einen "Künstler auf der Höhe seiner musikalischen Freiheit, Vitalität und Gestaltungskraft". Holger Liebs spricht mit Christoph Vitali über seinen Abschied vom Münchner Haus der Kunst und seine neue Arbeit bei der Fondation Beyeler bei Basel. C. Bernd Sucher liefert einen Nachruf auf den Dramatiker und Schauspieler Martin Sperr, Anton Thuswaldner berichtet von den Rauriser Literaturtagen, bei denen in diesem Jahr die Krimiautoren ihren großen Auftritt hatten. Fritz Göttler bereitet auf das nächste Spektakel mit Russell Crowe vor, ein Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung und Erpressung in Australien.

Besprochen
werden: "Dantons Tod" in der Inszenierung von Nicolas Stemann in Basel, Botho Strauß' Stück "Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia" in Wien, Iris Berbens Lesereise mit Texten von Anne Frank und Joseph Goebbels, ein Bruckner-Konzert von Christian Thielemann in München, die Tournee der Soulsängerin Mary J. Blige ("Amerikas bester"), eine Ausstellung der Ottheinrich-Bibel, der älteste Bilderhandschrift eines Neuen Testaments in deutscher Sprache in München und Neuburg an der Donau. Und Bücher: Eine Biografie des Kunsthistorikers Anthony Blunt, Werner Bergmanns Geschichte des Antisemitismus sowie Anthony Giddens Wahlkampf-Handreichung "Where now for New Labour?"

Und auf der Medienseite geht's natürlich um die Kirch-Krise.

FR, 08.04.2002

Stephan Hilpold staunt darüber, wie der Cartoonist Gerhard Haderer mit seinem Comic "Das Leben des Jesus" Österreich in Aufruhr versetzt hat: "In Summa kratzt das mit liebevoller Feder gestaltete vierzigseitige Büchlein an der katholischen Heilslehre wie ein läppischer Schulbubenstreich am gesamten Schulsystem. Doch seitdem der ansonsten als liberal geltende Wiener Kardinal Christoph Schönborn in der konservativen Tageszeitung Die Presse seinen Unmut über Haderer kundtat, ist in Österreichs katholischer Kirche Schluss mit lustig: "Im Namen der vielen Kinder und Alten, einfachen Menschen und Akademiker, die wehrlos darunter leiden, protestiere ich gegen Gerhard Haderer und gegen jene, die ihm applaudieren." Woraufhin im erzkatholischen Österreich kein Gelächter über diese Formulierung losbrach, sondern ein Sturm der Entrüstung über das 'gottlose Machwerk Haderers'." Besprochen werden Nicolas Stemanns Inszenierung von  "Dantons Tod" in Basel und Michael Rymers Film "Königin der Verdammten" ("ein B-Movie-Denkmal für Aaliyah").

Außerdem heute in der FR: Politische Bücher. Unter anderem bespricht Gert Lange einen neuen Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 08.04.2002

Peter Fuchs denkt in einem etwas komplizierten Text über die Arbeit des Erinnerns und Vergssens nach. "Nur was vergessen wird, kann erinnert werden; nur was erinnert wurde, kann als zuvor Vergessenes aufgefasst werden." Das Vergessen ist für Fuchs nicht nur die "mangelnde Notwendigkeit, sich an problemlos Beherrschtes zusätzlich erinnern zu müssen, sondern es wäre (positiv ausgedrückt) die Erwirtschaftung von Schemata, die das Sich-erinnern-Müssen laufend unterdrücken". Dasselbe gelte für Gedenkfeiern, schreibt Fuchs "für die Anwendung von Pathosformeln (unter die ja auch das Heraufbeschwören kollektiver Erinnerung an Scham und Schande fällt), für feierliche Inszenierungen der Gemeinsamkeit-in-der-Erinnerung, nämlich dass sie schematisch ablaufen. Gedenkminuten sind, genau besehen, Wegdenkminuten, wenn sie verordnet werden."

Jürgen Berger bespricht Nicolas Stemanns Inszenierung von "Dantons Tod" in Basel, Gerrit Bartels macht sich in seiner checkliste medizin heute an den Heuschnupfen.

Schließlich Tom.

NZZ, 08.04.2002

Die Akten der Nobelpreisakademie sind geöffnet worden, berichtet Aldo Keel in einem ausführlichen Artikel. Von 1901 bis 1950 kann man jetzt die Diskussionen der Akademie über die Schriftsteller nachlesen. Kell konstatiert gleich zu Anfang: "Joyce, Proust und Rilke haben den Nobelpreis bekanntlich nie erhalten. Die Quellenedition zeigt nun aber, dass die oft gescholtene Schwedische Akademie hierfür nur einen Teil der Verantwortung trägt. Von 1901 bis 1950 hatte das Nobelkomitee 1256 Autoren zu beurteilen. Aus vielen Ländern trafen Vorschläge in Stockholm ein. Keiner jedoch hielt Joyce, Proust und Rilke für nobelpreiswürdig, auch kein Kollege, wohlgemerkt. Keiner dachte an Tschechow, Musil, Lorca, W. H. Auden, Brecht, Anna Achmatowa oder Edith Södergran."

Weiteres: "Wer braucht ein Luxemburg-Denkmal?", fragt Claudia Schwartz (außer der PDS wohl niemand, antwortet sie). Andrea Köhler resümiert ein New Yorker Kolloquium über "The Fate of European Languages in the Age of Globalization". Besprochen werden Heinz Spoerlis neues Ballett im Opernhaus Zürich, die 32. Rauriser Literaturtage (mehr hier), "Dantons Tod" in Basel, Heiner Müllers "Auftrag" in St. Gallen, Verdis "Macbeth" in Bern, ein Abend des Collegium Novum Zürich mit der jungen finnischen Dirigentin Susanna Mälkki und ein Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich mit dem "stupenden Pianisten Emanuel Ax".

FAZ, 08.04.2002

Ilona Lehnart beklagt die "aberwitzigen Schachzüge" des Berliner Senats in der so genannten kulturellen Entflechtungsdebatte - es geht um den annoncierten Rückzug Berlins aus der Finanzierung von Museumsinsel und Stiftung Preußischer Kulturbesitz: "Gewiss ist die Kameralistik des Landes Berlin in keiner beneidenswerten Lage. Und doch muss man die Unbeschwertheit, die Eilfertigkeit und Beflissenheit, mit der sich der Senat seiner genuinen Rechte und Pflichten entäußert, skandalös nennen: Ausgerechnet Berlin, das Sitzland der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der primäre Nutznießer der reichen Erbschaft, bricht den ersten Stein aus dem Stützpfeiler des komplizierten, von Bund und Ländern gemeinsam getragenen Betriebsetats."

Dietmar Polaczek schreibt über die Pensionierung des letzten Staatsanwalt aus den Heldentagen der "Mani pulite", Francesco Saverio Borrelli. Inziwschen ist diese Renaissance des italienischen Rechts wieder in Frage gestellt: "Besonders die auffälligen Verzögerungen und Verschleppungen der Prozesse, in die der gegenwärtige Ministerpräsident Silvio Berlusconi und der Abgeordnete Cesare Previti verwickelt sind, lösen Skepsis gegenüber der unabhängigen Aktionsfähigkeit der italienischen Justiz aus, ebenso Gesetze (wie die Abschaffung des Offizialdelikts der Bilanzfälschung), die maßgeschneidert helfen, die Schwierigkeiten illustrer Angeklagter zu beseitigen." Kann Berlusconi als Kirch-Besitzer auch in Deutschland Ministerpräsident werden?

Weiteres: Jochen Schmidt beschreibt die Arbeit des Deutschen Kulturzentrums in Taipeh, das sich wegen des politischen Status Taiwans nicht Goethe-Institut nennen darf. Kerstin Holm annonciert die Rückkehr mittelalterlichter Kirchenfenster aus Russland nach Frankfurt. Der Informatiker Rainer Kuhlen (mehr hier) beschreibt die missliche Situation der wissenschaftlichen Bibliotheken im Informationszeitalter.

Ferner gratuliert Hans-Dieter Seidel dem französischen Regisseur Jean-Paul Rappenau zum Siebzigsten. Marianne Kreikenbohm schreibt zum Tod des Kunstsammlers Herbert A. Cahn. Tilman Spreckelsen gedenkt des jüngst verstorbenen Krimiautors Henry Slesar.

Auf der Medienseite berichtet Elfie Siegl von einem Pressegespräch Vladimir Putins mit deutschen Journalisten im Vorfeld seines Staatsbesuchs. Heike Hupertz stellt die beliebte Serie "Six Feet Under" über ein Beerdigungsinstitut vor, die in Amerika Erfolge feiert. Und Jörg Thomann bespricht eine Dokumentation über die "deutschen Terroristen hinter Carlos", die heute in der ARD läuft. Auf der letzten Seite liefert Wiebcke Denecke Impressionen vom Wahlkampf in Ungarn und stellt einige neuere ungarische Autoren wie Janos Terey und Laszlo Darvasi vor. Christoph Albrecht schreibt ein kleines Profil des Physikers Theodore Postol, der sehr zum Ärger der amerikanischen Regierung die Machbarkeit von Bushs "Star Wars"-Programm in Frage stellt. Und Dietmar Dath plädiert für die Erhaltung der Artenvielfalt.

Besprechungen gelten der Retrospektive des Fotografen Martin Parr (Bild) im Londoner Barbican Centre, Picasso- und anderen Ausstellungen in Straßburg, Jacques Perrins Film "Nomaden der Lüfte", ein Konzert des Akkordeonisten und Filmkomponisten Yann Tiersen, Botho Strauß' Stück "Der Narr und seine Frau" am Burgtheater, Nicolas Stemanns Inszenierung von "Dantons Tod" in Basel und eine "Jenufa" in Hannover.