Efeu - Die Kulturrundschau

Man ahnte viel, wusste manches

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06.10.2020. Van erinnert an die Komponistinnen, die die Geschichte der Darmstädter Ferienkurse hätten prägen können, wenn sie nicht vergessen worden wären. Im Tagesspiegel wirft der Historiker Andreas Wirsching dem Kulturbetrieb im Fall Alfred Bauer wissendes Schweigen vor. Die FAZ genießt mit Christoph Honoré eine Dosis allerfeinsten Sadismus in Paris. Die SZ erlebt mit Aaron Sorkins "The Trial of the Chicago 7" den Showdown von Hippies und Nixon-Establishment. Die taz stattet sich für die neue Lockdown-Streamingsaison mit Balenciagas Hotelpantoffel-Schuhen aus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.10.2020 finden Sie hier

Bühne

Christophe Honorés "Die Welt der Guermantes" im Théâtre Marigny mit der Comédie française. Foto: Comédie Française

Als einen Höhepunkt der Pariser Theatersaison genießt FAZ-Kritiker Niklas Bender Christophe Honorés Adaption von Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" mit der Comédie-Française. Dass sich Honoré dabei für "Die Welt der Guermantes" entschieden hat, hält Bender für eine gute Wahl, ebenso die dezente Aktualisierung: "Im Gesellschaftsstück geht es um Marcels Eintritt in die Welt des Hochadels. Der junge, schweigsame Zeuge sieht, was le monde und seine Rituale ausmacht: An jenen, die ausgeschlossen werden, wie Rachel, und jenen, die gern dazugehören würden, wie Bloch (sensibel und schlagfertig: Yoann Gasiorowski) oder der kitschig-speichelleckende Naturdichter Legrandin, wird das mit einer Dosis Sadismus demonstriert. Den Spaß lässt sich der Adel - die Princesse de Parme, der Marquis de Norpois, Saint-Loup und seine Mutter, die Gräfin de Marsantes, das Ehepaar Guermantes und Charlus - nicht nehmen. Immer im Mittelpunkt: Oriane de Guermantes, wunderbar zynisch und feinfühlig gespielt von Elsa Lepoivre."

Seit September ist die ungarische Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE) in Budapest besetzt, nun hat Viktor Orban einen neuen Rektor gekrönt, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ: Gabór Szarka war bisher Rektor der Nationalen Universität des öffentlichen Dienstes, aber auch Stabschef im Verteidigungsministerium und Militärattaché in Paris: "Die Berufung von Szarka ist eine weitere Eskalation in einem seit Wochen andauernden Streit. Seit die alte Universitätsleitung entmachtet wurde und aus Protest zurücktrat, sind Studierende und ein Teil der Dozenten im Streik. Vergangene Woche haben sie ein zweites Hochschulgebäude besetzt; der Unterricht findet selbstorganisiert statt, Demonstrationen und Freiluftaufführungen begleiten die Proteste, die von Künstlern aus aller Welt unterstützt werden."

Besprochen werden Yael Ronens Nummernrevue "Death Positive. States of Emergency" am Gorki-Theater ("Seuchenzeiten sind Zeiten der Monologe", erkennt Katharina Granzin in der taz), Rosa von Praunheims Nazi-Farce "Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs" am Deutschen Theater Berlin (die SZ-Kritiker Peter Laudenbach zufolge noch die AfD an Plumpheit unterbietet), das Wohnungsnot-Stück "3 Zimmer, Küche, Hinterbühne" an der Frankfurter Volksbühne (FR), Julia Schochs erster Theatertext "Die Jury tagt" am Hans Otto Theater (Tsp), Joël Lászlós kapitalismuskritische Überschreibung "Geld, Parzival" am Vorarlberger Landestheater Bregenz (Nachtkritik) sowie  Else Lasker-Schülers "Ichundich" und Klaus Manns "Mephisto" am Frankfurter Schauspiel (FR).
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Musik

Juana Zimmermann befasst sich in VAN mit der Geschichte der Darmstädter Ferienkurse, die ihre Plätze seit 2018 paritätisch verteilt. Insbesondere der Diskurs um die frühe Geschichte der für die Neue Musik so wichtigen Institution sei von der Vorstellung geprägt, dass dort die männlichen Komponisten einander die Klinke in die Hand gegeben haben. Damit werden die Frauen unsichtbar gemacht: "Wenn man sich durch die alten Fotos, Briefe, Teilnehmenden-Listen, Zeitungen und Zeitschriften gräbt, entdeckt man Frauen wie Margot Hinnenberg-Lefèbre, Annelies Kupper, Carla Henius, Yvonne Loriod, Ilona Steingruber, Brigitte Schiffer, Gladys Nordenstrom, Elisabeth Delseit, Dika Newlin, Else Stock-Hug, Elisabeth Lutyens, Mary Bauermeister, um nur einige der über 400 Akteurinnen zu nennen, die zwischen 1946 und 1961 die Ferienkurse in Darmstadt mitprägten. Es handelt sich bei ihnen nicht um irgendwelche Musikstudentinnen, sondern um international gefragte Sängerinnen, Pianistinnen, Komponistinnen, Autorinnen, Künstlerinnen, Lehrerinnen und Professorinnen. Ihr Mitwirken ist heute so gut wie vergessen. So findet beispielsweise das Schaffen der Dozentinnen Margot Hinnenberg-Lefèbre und Yvonne Loriod im Darmstadt der 1940er und 50er Jahre in der großen Neue-Musik-Erzählung keinen Platz."

Besprochen werden neue Alben von Bantu (SZ), Wandl (Standard) und der Idles, zu dem ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt meint, dass "alles sehr gewollt, sehr verkrampft" ist, aber immerhin ist das "noch immer die Band, die man als Letztes gehört haben will, bevor man sich in eine Kneipenschlägerei stürzt."
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Design

Donna Schons resümiert in der taz die Fashion Weeks der sich neigenden Corona-Saison. Die Stars und Player igelten sich auch ästhetisch ein, meint sie - Überraschungen weitgehend Fehlanzeige. "Weiche, fließend fallende Stoffe und Entwürfe wie Balenciagas Hotelpantoffel-Schuhe bedienten sich der Bildsprache einer anheimelnden Behaglichkeit ." Hinzu kommt noch die neue Lockdown-Streamingkultur, die auch in der Modewelt noch beschleunigt wurde: "Wozu noch Fotos auf Vogue Runway anschauen, wenn der HD-Livestream die besten Bilder liefert? Wozu von Werbegeldern weichgespülte Kritiken lesen, wenn Prada und Simons ihre Kollektion direkt im Anschluss an die Show selbst erläutern? Der Modejournalismus wird sich neu kalibrieren müssen, um seine Position als Konsekrationsinstanz beizubehalten."

Weitere Artikel: In der SZ schreibt Tanja Rest einen Nachruf auf den Modedesigner Kenzo Takada (weitere Nachrufe bereits hier). Außerdem bespricht Brigitte Werneburg in der taz Reiner Holzemers (allerdings erst ab 15. Oktober startenden) Kino-Dokumentarfilm über den enigmatischen Modedesigner Martin Margiela.
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Kunst

Über die vielfach gefeierte Artemesia-Ausstellung in der National Gallery in London schreibt heute auch sehr schön Hans-Joachim Müller in der Welt, allerdings auch schaudernd über eine Barockmalerin, die ihre eigene Vergewaltigung in "grausam geniale Bilder" verwandelte: "Etwas streng im Geschmack und ziemlich wüst das alles. Soll man sagen, Mord als schöne Kunst betrachtet? Artemisia Gentileschi, die Amazone, die Erinnye, die Medea der Kunstgeschichte? Was die Malerin nicht war, lässt sich leichter sagen: Keine Blumenmalerin wie Sibylla Merian, unfähig zur Eleganz der Angelika Kauffmann, untauglich zur spröden Sanftheit von Paula Becker, unzuständig für die Spiritualität von Hilma
af Klint."

Weiteres: In der NZZ erinnert Philipp Meier zum hundertsten Geburtstag an den Schweizer Künstler Hans Josephsohn. Im Guardian feiert Adrian Searle die Bruce-Nauman-Ausstellung in der Tate Modern in London. Monopol meldet, dass der Kritikerverband AICA das Folkwang Museum in Essen zum Museum des Jahres gekürt hat.
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Hervé Tanquerelles und Gwen de Bonnevals Comic "Grönland Odyssee" (taz), Rosie Price' Romandebüt "Der rote Faden" (Berliner Zeitung), Parker Bilals Krimi "London Burning" (Presse), Valentin Groebners Essaysammlung "Ferienmüde" (online nachgereicht von der FAZ), Amjad Nassers "Wohin kein Regen fällt" (Tagesspiegel), Ben Lerners "Die Topeka-Schule" (Intellectures), der von Thomas O. Höllmann übersetzte Band "Abscheu. Politische Gedichte aus dem alten China" (SZ) und Sergej Maximows Erzählungsband "Taiga" (FAZ).
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Film

Schaulaufen für den Schauprozess? "The Trial of the Chicago 7"

Aaron Sorkins Gerichtsdrama "The Trial of the Chicago 7" hat den Prozess nach den Ausschreitungen am Rande des Konvents der Demokratischen Partei im Jahr 1968 zum Thema. Bei diesem Prozess standen sich gewissermaßen die Kultur von Nixons Polit-Establishment und die Hippies direkt gegenüber. "Im alten Europa hätte man das einen 'Schauprozess' genannt", schreibt Tobias Kniebe in der SZ. Doch "im Gerichtssystem der USA sind alle Prozesse irgendwie Schauprozesse, es geht um eine Performance für die Öffentlichkeit, deshalb funktionieren sie auch im Kino so wunderbar." Sorkin, der in der Regel als Drehbuchschreiber in Erscheinung tritt, hat für diesen Film zum zweiten Mal auf dem Regiestuhl Platz genommen, was allerdings "noch ein wenig gehemmt wirkt". Auch kennt sich Sorkin gut aus mit "linksliberalem Politik-Entertainment", schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard. Dementsprechend "wird hier kein Hohelied auf die Justiz gesungen, sondern ihre Fragilität steht im Vordergrund".

Für den Tagesspiegel hat sich Andreas Busche noch einmal in die Münchner Studie versenkt, die das Engagement des Berlinale-Gründers Alfred Bauer in der nationalsozialistischen Filmpolitik belegt. Dass Bauer darin eine zentrale Rolle spielte, Kenntnis von der Zwangsarbeit in der Filmbranche hatte und sich im Nu nach der Kapitulation als Systemgegner inszenierte, daran besteht nach dem durch Forschung gestützten Kenntnisstand "kaum Zweifel". Außerdem hat Christiane Peitz mit dem Historiker Andreas Wirsching vom Münchner Institut für Zeitgeschichte gesprochen, der der Kulturbranche erhebliche Versäumnisse in der Aufarbeitung ihrer eigenen NS-Geschichte bescheinigt: "Über Bauer war mehr bekannt, als kommuniziert wurde. Es beginnt schon mit seinem Entnazifizierungsverfahren, bei dem er nicht hundertprozentig mit seiner Version der Geschichte überzeugen konnte. Aber es ist typisch für die Nachkriegszeit bis in die 60er Jahre hinein teils auch länger: Man ahnte viel, wusste manches, es wurde jedoch nicht öffentlich Thema." Dazu zählt auch ein über Bauer erstelltes  Persönlichkeitsgutachten aus der Nazizeit: Das ist bereits "1973 zitiert worden, in einer Fußnote in einer wissenschaftlichen Arbeit. Die Informationen lagen bereit." Doch "wer mit Bauer zusammengearbeitet hatte oder von ihm gefördert wurde, war generationell befangen".

Außerdem: Das Berlinale-Führungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian spricht in der Berliner Zeitung unter anderem über ihre Pläne, die Berlinale im kommenden Jahr trotz Corona in den Kinos stattfinden zu lassen und verteidigt noch einmal der nach Geschlecht vergebenen Darstellerpreise (könnte man die Preise nicht einfach lassen, wie sie sind, und statt dessen das Leitungsduo durch ein nicht binäres ersetzen?). Besprochen werden die auf Sky gezeigte Serie "For Life" (FAZ) und Philippa Lowthorpes "Die Misswahl - der Beginn einer Revolution" (FAZ).
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