Vorgeblättert

Leseprobe zu Lisa Kränzler: Export A. Teil 2

02.02.2012.
Im Übrigen fühle ich mich in der Fir Street zwar einsam, bin jedoch nicht allein. Meine Vermieterin, eine 60-jährige, leicht reizbare, optisch reizlose Frau mit Lippenstift auf den Zähnen und geschmackloser Perücke, betreibt tagsüber in den angrenzenden Zimmern ein Daycare und durchschnüffelt, während ich in der Schule bin, leidenschaftlich gern meine Sachen. Sie kann mich oder die Tatsache, dass ich ein junges Mädchen bin, nicht ausstehen und wirft mir giftige Böse-Stiefmutter-Blicke zu. Im Nachhinein frage ich mich, warum sie mir das Zimmer überhaupt vermietet hat.
     Deshalb plagt mich kein schlechtes Gewissen, als ich an Halloween einige Handvoll Süßigkeiten aus ihrer Küche stehle und ihre Brownies vorsichtig mit dem Brotmesser beschneide - jeden einzelnen um wenige Millimeter, für den Fall, dass sie sie insgesamt abgezählt haben sollte.
     Ich verbringe die Nacht zwischen den Spielsachen fremder Kinder. Puppen sind Zeugen mit weit aufgerissenen Glasaugen, wie ich meine schmelzende Beute vernichte; sie reißen ihre obszönen Plastikmünder auf und bleiben doch stumm. Meine Finger sind braun und klebrig.
     Im Zimmer, an den Händen, im Magen: braune Völle all überall. Ich wünschte, ich hätte mich mit Milch und Lochbrötchen begnügt; beides ist rein und kalt und weiß - wie der Schnee vor meinem Fenster. Jetzt sitze ich da, besudelt mit der Schokolade einer neidischen, geldgierigen Alten.
     "Hast du dich dennoch von Leckerbissen verführen lassen, steh auf, erbrich sie, und du hast Ruhe ⁠?", so heißt es doch!
     Ich stehe also auf und befolge, gute Christin, die ich bin, erst den Bibelratschlag, bevor ich mich erschöpft ins Bett fallen lasse.


3.

Die Fir Street ist nicht besonders lang, vielleicht 1000 Meter, und wird nur von einer einzigen Querstraße, der 14th Avenue, durchschnitten. Das Holzhaus mit dem braunen Zimmer sitzt an der Ecke und markiert den Schnittpunkt gelb. Wenn ich die 14th Avenue überquere und der Fir Street in südlicher Richtung folge, befinde ich mich nach weniger als hundert Schritten vor einem weißen, länglichen Gebäude mit Flachdach, von dem man annehmen könnte, es sei fensterlos, bis man bei genauerem Hinsehen am äußersten Rand des gestreckten Rechtecks schließlich ein einzelnes, kleines Fenster entdeckt. Vor Jahren wurde das Gebäude an den Straßenrand geschwemmt, jetzt liegt es da wie ein gestrandeter Wal, einäugig, angegraut, schäbig. Nichts lässt auf sein Innenleben schließen und darauf, was die Geschehnisse innerhalb der hellhörigen Holzwände noch in meinem Innersten anrichten werden.
     Die korrekte Bezeichnung für ein Gebäude dieser Bauart erfahre ich erst später. Sie lautet "Trailer", was so viel bedeutet wie "billiges, minderwertiges, in Leichtbauweise zusammengezimmertes Möchtegern-Haus, welches auf Lastwagen verladen und in andere Städte, Bundesstaaten oder Länder verfrachtet werden kann", im übertragenen Sinn: "Unterschicht".
     Im Oktober 2000 blieb der Trailer an Ort und Stelle. Kein Lastwagen-Schlachtschiff mit einem bärtigen Fernfahrer namens Ahab verhinderte rechtzeitig, dass ich meiner Schwester in den Bauch dieses weißen Ungetüms, halb Haus, halb Wohnwagen, folgte, wo ich Pastor Leroy kennenlernte. Keine Warnung vor dem Erlöser, keine Rettung vor dem Retter. Und so lernte ich das Haus, das kein Haus, sondern ein Trailer ist, sich aber nicht Trailer, sondern "Trinity Baptist Church" nennt, auch von innen kennen.
     Ich bin in Süddeutschland umgeben von Barockkirchen mit Zwiebeltürmen aufgewachsen, wurde vor einem marmornen, endlos verschnörkelten, mit Blattgold verzierten Hochaltar katholisch getauft, umsorgt von fetten Pfarrern, Putten und Verwandten. Folglich hätte ich in diesem fensterlosen Bau alles erwartet, nur keine Kirche.
     Was ich mir vom Kirchgang erhoffte, waren ein paar Stunden Gesellschaft und die Nähe meiner Schwester, die die Fahrt in die Stadt bald nur noch mittwochs und sonntags auf sich nahm, den beiden Tagen, an denen Gottesdienste abgehalten wurden.

Wir stehen in diesem kleinen, fensterlosen Raum: meine Schwester, mein Schwager und ich. Neben, vor und hinter uns etwa zehn, an gutbesuchten Tagen fünfzehn, weitere Gemeindemitglieder. Die jungen Frauen tragen Haare und Röcke lang, die Anzüge der Männer sitzen schlecht. Die meisten tragen Turnschuhe. Die Kombination Schildmütze und Sportschuhe zu Krawatte und Anzughose scheint hier en vogue zu sein. Die wenigen Indianer - keiner spricht von ihnen als "Angehörige der First Nations", Diskriminierung hin oder her - bilden eine eigene Gruppe. Offensichtlich halten sie es für überflüssig, sich für den "service" herauszuputzen, tragen ausgebeulte Jeans und speckige Lederjacken. Vorne stehen ein kleines Klavier aus hellem Holz, ein Rednerpult und eine Art transportabler Swimmingpool, der mit einem Plastikdeckel verschlossen ist und an Tupperware erinnert; man erklärt mir, dies sei das Taufbecken. Der spärliche Blumenschmuck ist genauso unecht wie der Schmuck der Frauen. Die monströsen Haargummis, die die Pferdeschwänze zusammenhalten, sind ebenso wie die roten Bezüge der Stühle aus Kunstsamt.
     Die Anwesenden wissen nicht recht, wohin mit ihren Händen, blicken verschüchtert auf ihre Schuhspitzen. Werden sie angesprochen, so bemühen sie sich um ein offenes Lächeln und ein möglichst einladendes, freundliches und mitfühlendes Gesicht.
     Susanna, eine junge, dauergewellte Weiße, reicht mir zur Begrüßung eine Hand, die wie ein kalter Fisch in meine Handfläche gleitet und nicht auf meinen Druck reagiert. Worte wie "Schicht" und "Klasse" steigen in mir hoch, ich fühle mich nicht dazugehörig, kein neues Gefühl für mich, sondern ein allgegenwärtiger Zustand, mit dem ich mich, seit ich denken kann, herumschlagen muss. Einsamkeit war zu allen Zeiten mein Motor, und so betrete ich diese Kirche mit wirbelnden Kopfrädchen in der höchsten Umdrehungsfrequenz.

Wenn man erst ein-, zweimal menstruiert hat, kann man noch glauben wie ein Kind; man träumt noch von allem Möglichen und davon, dass alles möglich ist, unterhält sich nachts mit "Gott" und vertraut auf dessen spontane Eingebungen, wenn man wieder einmal unvorbereitet in eine Klassenarbeit geht.
     Man zählt Straßenlaternen, Knöpfe und Gänseblümchenblätter genauso ernsthaft und andächtig wie die Kugeln im Rosenkranz, und ob man nun den Fingerring dreimal dreht oder sich am Portal der St. Johann Kirche dreimal bekreuzigt, ist völlig einerlei, denn beides sind heilige Handlungen, beides könnte das Gewünschte herbeiführen, auf beides hofft man inständig.

Wenn ich damals ganz, ganz still lag und mit ihm sprach - ich werde nicht sagen, mit wem, sein Name war niemals wichtig, nicht für mich - wenn ich also dalag, die Sinne geschärft, Poren und Stirn geöffnet, dann konnte ich ein Netz aus Gedanken bis hinauf in die Unendlichkeit weben, mit Bett, Körper und Kopf an seinem Ort. Die Fäden meines Glaubens hefteten sich an den schwarzen Mantel und füllten sich wie Arterien, durch die etwas Lichtes, Leichtes, Goldenes in mich hineintanzte, mich auflud, volltankte, und zugleich schwerelos werden ließ. Wir kannten uns. Meine Fragen, seine Antworten und das Nichtige von beidem.
     Wann schließlich meine Unruhe begann, ist nicht mehr auszumachen. In der Fir Street konnte ich schon lange nicht mehr still, geschweige denn ganz, ganz still liegen.


Pastor Leroy.

Leroy Garrison ist Amerikaner. Ein Südstaatler, geboren und aufgewachsen in Louisiana. Sein überdehnter Kaugummidialekt, die Art, wie er die Vokale zwischen seinen Zahnlücken zu Schlagwörtern aufbläst und platzen lässt, prägt sich den Zuhörern ein, bleibt haften, und jede Geste, jeder Schritt verstärkt den Klebeeffekt.
     Die Predigt wird von seiner ausgeklügelten Choreografie begleitet. Den Bauch brav hinter dem Rednerpult versteckt steht er mit verschränkten Fingern und still gesenkten Lidern vor der Gemeinde, vom Scheitel bis zur Sohle gottesfürchtiger Diener des Herrn. Nach den ersten Sätzen schleicht er auf die Sitzreihen zu, dirigiert die eigene Stimme, peitscht sie vorwärts und lässt sie zu einem durchdringenden Fortissimo anschwellen. Die Absätze seiner Cowboystiefel drücken sich in den grauen Teppich wie in frischen Zement. Die Schäflein folgen seiner Spur quer durch die Bibelverse, lauschen seiner Rede und fürchten sein vorwurfsvolles Schweigen. Viele Hundert Widerhakenworte verfangen sich in ihrer Wolle und kletten sich fest.
     Plötzlich sieht er mich an. Die fleischige Trutzburg seines Gesichts zieren zwei blitzende Äuglein, aus denen er Blicke auf mich abfeuert, mich durchschaut, ertappt und enttarnt. Ich starre vergeblich zurück, pralle an seiner Oberfläche ab. Brillengläser, Cowboyhut, eine rosa Zunge, spitz wie seine Stiefel. Mehr lässt er mich nicht sehen.
     Nach dem Gottesdienst schüttelt er meine Hand, lässt sie mit einem "Hello there, little Miss!", in seiner Pranke verschwinden. Das Schwarz seines Anzugs weitet meine Pupillen.
     So stehen wir uns gegenüber, die "little Miss" in Jeans und der "man in black", ein Johnny Cash ohne Gitarre, der vom "Lake of Fire" singt.

zu Teil 3