Vorgeblättert

Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land, Teil 2

13.02.2003.
Teil 2
Unverhofftes Wiedersehen

Es war ein merkwürdiges Einschreiben, das mein Vater an einem Frühlingstag des Jahres 1993 an der Tür seines Hauses am Bodensee zu quittieren hatte. Absender war ein Amt, dessen Gründung sich, wie ich später herausfand, den nüchternsten und vernünftigsten internationalen Abkommen verdankt. Zunächst jedoch und je länger ich über die merkwürdige Geschichte nachdachte, von der mein Vater mir noch am gleichen Tag am Telephon erzählt hatte, kam mir die Existenz dieser Behörde fiktional und fast märchenhaft vor. Als hätten Jorge Luis Borges oder Danilo Kis jene ”Dienststelle für Benachrichtigung der Angehörigen ehemaliger Soldaten der Wehrmacht” in Berlin-Tegel erfunden, die meinem Vater nun auf einem sachlichen Dienstbriefbogen mitteilte, sie sei bei der jahrzehntelangen Durcharbeitung der in Berlin gelagerten Nachlässe ehemaliger deutscher Kriegsgefangener auf einen Gegenstand gestoßen, der offensichtlich ihm gehöre und den man jetzt auftrags- und ordungsgemäß zuzustellen habe. Es handle sich um eine Kamera mit eingelegtem und belichtetem Film.

Im September 1939 - die deutsche Wehrmacht war gerade in Polen einmarschiert - wurde mein Vater, ein siebzehnjähriger Junge, als Passagier des Dampfers ”Adolph Woermann” mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern auf der Fahrt vom ehemaligen Deutsch-Südwestafrika nach Bremerhaven vom Zweiten Weltkrieg überrascht, durch einen britischen Kreuzer gefangengenommen und in der Folge für sechs Jahre in Kanada festgesetzt - ein Zufall, der ihm den Rußlandfeldzug erspart und wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Daß er damals eine Kamera bei sich hatte, die von der Royal Navy beschlagnahmt worden war, wußte er schon lange nicht mehr. Und während der vergessene Apparat all die Jahre in einer braunen Pappschachtel in einem Büro jener Dienststelle in Berlin-Tegel lag und wartete (in einem ehemaligen Fabrikgebäude aus Backstein und Muschelkalk, dessen Räume bis an die Decke hinauf mit solchen und ähnlichen Pappschachteln, mit Ringen, Briefen, Orden, Fotos, Tagebüchern, Kinderzeichnungen und Strumpfbändern aus dem Besitz der Toten angefüllt ist) hat mein Vater ein ganzes Leben hinter sich gebracht und das Pensionsalter erreicht, ohne noch einmal an die Kamera zu denken, die er zwischen den Kriegen in Windhuk in Deutsch-Südwestafrika zu seinem siebzehnten Geburtstag bekommen hat und an einem Novembertag des Jahres 1939 auf dem hohen Atlantik, etwa in der Höhe von St. Helena, gegen eine längst verlorene Quittung dem zuständigen Vertreter der Royal Navy aushändigen mußte.

Fünfzig Millionen Menschen sind aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr nach Hause gekommen. Aber ein Fotoapparat, den ein britischer Marineoffizier vor einem halben Jahrhundert dem Jungen abgenommen hat, der dreizehn Jahre später mein Vater werden sollte, hatte es 1993 doch noch geschafft, aus jenem Geisterdepot in Tegel zu seinem alt und grau gewordenen Besitzer zurückzukehren. ”Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört”, heißt es in Johann Peter Hebels berühmter Geschichte über den Bräutigam einer jungen Schwedin, der am Vorabend der Hochzeit verunglückt und fünfzig Jahre lang mumifiziert im Vitriol der Bergwerke von Falun jung bleibt, ”und der Siebenjährige Krieg ging vorüber und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preussen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte und die Schmiede hämmerten und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit.”

Mein Vater beschloß, die seltsame Sache zum Anlaß für einen kleinen Pensionärsausflug zu machen und fuhr nach Berlin. Nachdem er seinen Paß gezeigt und die nötigen Formulare ausgefüllt hatte, war ihm seine Kamera in Tegel ausgehändigt worden. Sie nehme sich eben systematisch jeden der ihr anvertrauten Gegenstände vor, sagte die zuständige Sachbearbeiterin, und verfolge die Spur ihres Besitzers so lange, wie irgendeine Hoffnung bestehe, die betreffende Habseligkeit - oft handle es sich auch um erb-, renten- oder versicherungsrechtlich wichtige Dinge, vergilbte Sold- oder Arbeitsbücher und dergleichen - der Familie des Toten oder manchmal, wie jetzt, auch einem noch lebenden Weltkriegsgefangenen zuzustellen. Die Kamera meines Vaters sei ein unproblematischer Fall gewesen. Sie habe ja nur dem auf der Rückseite des Gehäuses mit einem Messer in die geleimte Hartpappe eingeschnittenen Vermerk ”Wackwitz Windhuk” nachzugehen brauchen. Eigentlich habe ein Blick ins Berliner Telephonbuch und ein Anruf bei meinem dort verzeichneten Onkel genügt, um den Besitzer der Kamera ausfindig zu machen. So einfach sei das nicht immer.

”Unverwest und unverändert” hat der junge Bergmann in Johann Peter Hebels Geschichte in der dunklen Erde gelegen, während Kriege, Revolutionen, berühmte Todesfälle und Erdbeben, die Jahreszeiten und Tagewerke um seine Unveränderlichkeit kreisten. Und als ihn die alte Frau, die mit dem Toten einmal verlobt war, in seiner jugendlichen Gestalt wiedererkennt (”mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz”, schreibt Hebel), ”wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen”. Mit dem Apparat, den er nun wieder in der Hand hielt, hatte mein Vater die letzten Tage vor der Abreise aus dem britischen Mandatsgebiet Südwestafrika fotografiert, wo sein Vater, in den Jahren nach seiner Zeit in Polen, noch einmal Pastor in einem fremden Land gewesen ist.

Auf dem vielleicht noch entwicklungsfähigen Film aus dem Jahr 1939, malten mein Vater und ich uns am Telefon merkwürdig bewegt aus, könnte sich ein fünf Jahrzehnte alter Abschiedsblick auf das Denkmal des ”Reiters von Südwest” erhalten haben, das Bild der Christuskirche und das Pfarrhaus in Windhoek, die Gesichter der Pfadfinderkameraden meines Vaters, die ihrem für immer in die Heimat zurückkehrenden siebzehnjähigen Führer am Bahnhof einen rührenden Abschied bereitet hatten, die haushohen Stahlwände der ”Adolph Woermann”, die in Walfischbucht am Quai liegt, die Szenen der Verwirrung und Verzweiflung bald darauf, als Passiere und Besatzung vor der Versenkung des Dampfers in Rettungsbooten auf der hohen See trieben. Der fast achtzig Jahre alte Mann, dachten mein Vater und ich, könnte den siebzehnjährigen Jungen wiedererkennen, der er einmal war und vielleicht, hofften wir unbestimmt, einen Sinn finden, der sich in der Dunkelkammer vor den alten Augen abzeichnen könnte (die ersten Konturen jener Häuser, Denkmäler und Landschaften, die nach einem halben Jahrhundert im schwachen roten Licht wiederauftauchen würden). Ohne es uns recht einzugestehen, hofften wir einen Augenblick lang insgeheim auf eine Erleuchtung. Oder zumindest auf eine Geistererscheinung.

Der Apparat, dem wir das alles unrealistischerweise zutrauten, ist eine No. IA Pocket Kodak, eine seit 1926 bis in die Dreißiger Jahre stark handelsübliche, ausziehbare ”Rollfilm-Klappkamera” der Eastman Kodak Co. ”made in USA by Eastman Kodak Company Rochester N.Y.” wie ein kleines Blechschild unterhalb des Objektivs am Kopfende des ziehharmonikaartig gefalteten Balgs aus ledrig elastischer Pappe ausweist, der sich über eine Schiene auf der Innenseite der blechernen Verschlußklappe ausfahren läßt, wenn man, von oben in die Linse des Suchers hineinschauend, Belichtungszeit und Blendenöffnung eingestellt hat und mit einem kleinen Blechhebel das seltsam endgültige Klacken auslöst, das vor fünfzig Jahren Sekundenbruchteile aus dem Jahr des Kriegsausbruchs festhielt - Handgriffe, die man heute noch tun kann, denn der Fotoapparat meines Vaters ist ohne die geringste Beschädigung durch den Krieg und die Jahrzehnte danach gekommen.

Trotzdem kann die No. 1A Pocket Kodak natürlich nicht zaubern. Eigentlich ist der Apparat überhaupt nichts Besonderes. 200.000 Stück hat die Eastman Kodak Co. damals hergestellt und verkauft. Ein Erfolgsartikel aus der Frühzeit der Massenfotografie. Nichts, wofür man in einem Antiquitätengeschäft oder auf einem Flohmarkt mehr als hundert oder zweihundert Mark bezahlen müßte. Und als mein Vater seine wiedergefundene Kamera in der Dunkelkammer öffnete, stellte sich dann auch heraus, daß der Film sich in der Finsternis jenes halben Jahrhunderts in Tegel zersetzt hatte und nur das Schwarz zeigte, das auf dem Grund des Meeres herrscht. Anders als in den Tragödien und Romanen gab es keinen dramatischen Moment der Wiedererkennens, kein Foto, auf dem der Engel der Geschichte, den Zeitgenossen des Jahres 1939 unsichtbar, irgendwo im Hintergrund auf dem Deck der ”Adolph Woermann” steht. Das Silbernitrat auf der Gelatinefolie aus den Dreißiger Jahren hatte es nicht geschafft, die Zeit stillzustellen. Es hatte, anders als das Kupfervitriol von Falun, keine überraschende historische Wendung der Art hervorgebracht, von der Hebels Kalendergeschichte erzählt. Wenn sich in der Folge trotzdem ein Sinn zeigte, dann auf eine viel kompliziertere und fragwürdigere Weise, als Thema nicht einer klassischen Anekdote, sondern als unsichtbares Zentrum der verwirrenden, verborgenen und verschlungenen Windungen eines Familienromans.

Teil 3