Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
03.06.2003. Erotik der Künstlichkeit, ein Problem aus der Hölle und die Provenzialisierung Europas: Arno Widmann hat Bücher von Sibylle Lewitscharoff, Gogol, Dipesh Chakrabarty, Jorge Luis Borges, Jonathan Spence, Sarah Schumann und Samantha Power vom Nachttisch geräumt.
Wahrheitsliebe

"Montgomery" ist der Titel eines Romans, dessen Titelheld gleich auf der fünften Seite stirbt. Erzählt wird in der Rückblende. Der Held stammt aus Stuttgart und arbeitet in Rom als Fernsehproduzent. Während der Dreharbeiten an einem Film über Jud Süß Oppenheimer stirbt er. Als er am Morgen nach einer Liebesnacht - im Buch ist es seine einzige - durch Rom geistert, versagt sein Herz und er stirbt. Auch wen die Geschichte nicht interessiert, selbst wem der längst vergangene Zauber von Cinecitta und Via Veneto fremd bleibt, der wird immer wieder begeistert auf einzelne Sätze, Beschreibungen und Charakterisierungen stoßen.

Zum Beispiel wenn es von Fotos des kriegszerstörten Süddeutschland heißt: "Lebendige und tote Materie hatte sich zu einer Art Welthaut vereinigt, von der etwas betörend Friedfertiges ausging." Oder: "Ihre Lippen zuckten wie an Land geworfene Fischlein." So etwas sieht Sibylle Lewitscharoff, und so etwas macht sie uns sehen, und daran freuen wir uns und wir sind ihr dankbar dafür, und wir lachen auch, wenn wir am Ende lesen "Die Verfasserin dankt der Firma DaimlerChrysler für die Gewährung eines dreimonatigen Stipendiums an der Casa di Goethe in Rom", weil wir uns an diese Stelle zu Beginn des Buches erinnern: "Der Citroen war der Traumwagen seiner Kindheit gewesen. Wie alle Schwaben aus besserem Haus war er mit einem Mercedes groß geworden, der dem Großvater gehört hatte. Speiübel war ihm jedes Mal geworden auf der Neuen Weinsteige hinab in die Stadt. Er hasste diesen gepanzerten Käfig mit den starren Polstern, hasste ihn bis heute in sämtlichen Modellen."

Und ist - wenn wir diese beiden Stellen im Kopf haben - es nicht wunderbar, wenn der Erzähler, ein Schulfreund des Helden, der Mutter des toten Montgomery das Manuskript überreicht und ihr erklärt: "Wahrscheinlich sind sie verärgert, weil ich ziemlich unverschämt über Sie geschrieben habe. Ich könnte verstehen, wenn Sie mir einige Passagen verbieten würden, und wäre bereit, das eine oder andere zu korrigieren." Die Mutter lehnt generös ab. Und wir freuen uns daran und an der augenzwinkernden Doppelbödigkeit der Sibylle Lewitscharoff.

Sibylle Lewitscharoff, Montgomery, Roman, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, München 2003, 351 Seiten, 19,50 Euro. ISBN 3-421-05680-3.


Nation

Gogol
und Puschkin waren befreundet. Peter Urban hat die Dokumente dieser Freundschaft zusammengetragen, herausgegeben und übersetzt. Man erfährt darin Einiges über die Zensur im zaristischen Russland, ein wenig auch über die Liebe im damaligen Petersburg. Gogols Text über Puschkin aus dem Jahre 1832, in dem der Jüngere nicht müde wird zu betonen, wie russisch, immer wieder wie russisch der von ihm verehrte Puschkin ist, macht klar, wie jung die russische Literatur war und vor allem wie jung sie sich fühlte. Alles wurde noch einmal entdeckt: Natur, Mensch, Seele, Geist. Es ist jetzt der russische Mensch, die russische Seele, der russische Geist, die russische Natur. Eine Sehnsucht danach, auszudrücken was man ist, sich bei allem Spott gegen die Umgebung mit ihr eins zu fühlen.

Gogol lobt Puschkin, wenn er schreibt: "Er war national von Anfang an." Es sind zehn Seiten, in denen die Betonung der nationalen Differenz ein Fortschritt ist, keine chauvinistische Regression. Puschkins Nationalismus ist der eines Entdeckers, der bisher Unbeschriebenes, für nicht-buchenswert Erachtetes artikuliert. Er verhilft Gedanken und Gefühlen zum Ausdruck, die vorher so noch nicht ausgedrückt wurden. Er tut das als Teil eines sich rührenden Ganzen, einer langsam ihrer selbst bewusst werdenden Nation. Gogol wird ihr den Spiegel vorhalten, auf dass sie sich in ihm erkenne und mit seiner Hilfe über sich zu lachen lerne.

Gogols Petersburger Jahre - Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puskin, zusammengestellt von Peter Urban, Friedenauer Presse, Berlin 2003, Umschlagentwurf Horst Hussel, 96 Seiten, 14,50 Euro ISBN 3-932109-30-9.


Globalisierung

Wenn ein Buch "Provincializing Europe" heißt, dann weiß man, hier spricht einer, dem klar ist, was Globalisierung bedeutet. Das Imperium ändert sich mit jedem neuen Untertanen. Es mag jedem Einzelnen von ihnen und allen zusammen noch so sehr zusetzen, am Ende wird der Eroberer erobert. Das über die ganze Welt sich ausbreitende Europa wird zu einer Provinz dieser von ihr zwar bewirkten, aber doch nicht geschaffenen, jedenfalls nicht mehr bestimmten Welt.

Langsam beginnen die Entwicklungstheoretiker, das zu begreifen. Die europäische Geschichte, in der sich technologische Innovation, gesellschaftliche Emanzipation und ökonomische Organisation verbanden - mit blutigen Fort- und Rückschritten, mit Millionen Toten bei den avantgardistischen Nationen ebenso wie bei den verspäteten - ist einmalig. Sie ist nicht wiederholbar, und es gibt auch keinen Grund, ihre Wiederholung sich zu wünschen. Wie schon in Europa jede Nation ihren eigenen Weg in die Moderne fand - in so fern waren alle Wege Sonderwege -, so wird auch der Rest der Welt eigene Wege finden müssen. Ob er - wie man bisher glaubte - die Industrialisierung nachholen muss, ist im Informationszeitalter fraglich geworden. "Überholen ohne einzuholen" - die viel geschmähte Parole - trifft deutlich genauer als das eifrige Europa hinterherhecheln die eigentliche Aufgabe.

Die Vorstellung, die Moderne, in der wir in fünfzig Jahren leben werden - die Mehrheit der derzeitigen Weltbevölkerung wird das wahrscheinlich tun -, werde eine Fortschreibung, eine Weiterentwicklung, eine Expansion der europäischen Geschichte sein, ist grundfalsch. Die Moderne, in die wir gerade hineinzuwachsen beginnen, wird nicht von London, Paris, Rom, Berlin geprägt werden. Neben den auf absehbare Zeit alles bestimmenden USA werden Singapur und Peking, Tokio und Teheran, Kairo und Kuala Lumpur, Bombay und Seoul wichtigere Rollen als das alte oder das neue Europa spielen. Je mehr europäisches Denken und Handeln sich globalisiert, zu desto hybrideren Verbindungen wird es kommen, desto weniger werden die Europäer auf der exklusiven Reinheit gerade ihrer Hervorbringungen bestehen können. Japanische Comics amalgamieren älteste japanische Traditionen mit amerikanischen und europäischen Techniken zu einem neuen Produkt, das nicht nur die Kinderzimmer des alten Europas erobert.

Dipesh Chakrabarty ist Professor für Südasiatische Geschichte in Chicago und einer derer, die die postkoloniale indische Geschichtsschreibung, die eines ihrer wichtigsten Foren in den "Subaltern Studies" hatte, mitgeprägt hat. Der Historikerstreit, der in Indien um diesen Blick auf die Geschichte entbrannt ist, gibt eine Idee davon, was an Auseinandersetzungen in einer sich immer stärker globalisierenden Welt auf uns zukommt. Es ist, wenn Chakrabarty zum Beispiel die Bedeutung von Tagores (mehr hier und hier) Adaption des europäischen Romans für die Entwicklung eines indischen Selbstbewusstseins erörtert, nur scheinbar ein Streit um die Vergangenheit, in Wahrheit geht es um die Zukunft. Es geht darum, wie man Fremdes sich aneignen kann, das man sich aneignen muss, ohne dass der zerstörerische Selbsthass dessen entsteht, der das Gefühl hat, er werde gezwungen, seine Geschichte, sein Volk, seine Eltern und sich zu verraten. Wem das fremd erscheint, der hat vergessen, wie sehr auch die deutsche nachholende Modernisierung fixiert war auf ihren mörderischen Hass gegen die Vorbilder, denen sie nacheifern musste: Frankreich und England. Chakrabartys globale Perspektive in "Provincializing Europe" hilft uns auch, die europäische Geschichte zu begreifen.

Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe - Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton University Press, Princeton, Oxford 2000, paperback, 301 Seiten, 17.95 US-Dollars. ISBN 0-691-04909-2.


Leseglück

"Ich betrachte mich vor allem als Leser. Wie Sie wissen, habe ich mich ans Schreiben gewagt; aber ich glaube, das, was ich gelesen habe, ist viel wichtiger als das, was ich geschrieben habe. Denn man liest das, was man mag - aber man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist." Das ist der Grund, warum die meisten es doch beim Lesen belassen. Sie ertragen nicht die Differenz zwischen dem, was sie schreiben wollten, und dem, was sie geschrieben haben. Ein sehr guter Freund von mir hatte als junger Mann mit dem Gedanken gespielt, Filme zu machen. Als er seinen ersten sah, weigerte er sich, ihn mir zu zeigen. "Bauerntheater" winkte er ab, und bis heute hat er nie wieder bei einem Film mit gemacht.

Das war nicht klug von ihm. Hätte er das Filmemachen als Handwerk begriffen, hätte er einfach von neuem angefangen, sich das nächste Werkstück in die Hobelbank gezwängt und nach fünf, sechs oder zehn, zwölf Versuchen wäre der Unterschied zwischen dem, was er sich denkt und dem, was er kann, zwar möglicherweise nicht einen Millimeter geringer geworden, aber er hätte sich daran gewöhnt. Er hätte gelernt, dass der intelligente Autor immer besser ist als sein Produkt. Nur der ganz außergewöhnlichen Begabung passieren Dinge, die es sich so klug nie hätte ausdenken können. Jorge Luis Borges (mehr hier), aus dessen "Das Handwerk des Dichters" die eingangs zitierte Stelle stammt, war ein genialer Dichter und Erzähler, aber kaum jemand wusste so genau zu lesen wie er. Sein Buch ist mehr ein Vademecum für Leser als eine Unterweisung in der Kunst des Schreibens.

Er zeigt mit dem Finger auf die entscheidenden Stellen, und der ihm folgende Blick des Lesers versteht sofort, was Borges meint, und so lernt er von ihm, auf das zu achten, was gesagt, und das zu hören, was verschwiegen ist. Zum Beispiel wenn er uns daran aufmerksam macht, dass in dem englischen "consider" - "bedenken" - die Sterne stecken und dass es ursprünglich so viel hieß wie ein Horoskop zu erstellen. Er weiß so genau um die Bedeutung des Ungenauen in der Poesie, dass er sie uns sehr genau zeigen kann. Der Text basiert auf Vorlesungen (Hörproben), die Borges 1967/68 in Harvard hielt. Es gehört zu den Glücksmomenten der Schrift, dass wir ein Vierteljahrhundert danach bei der Lektüre uns zwei, drei Stunden lang einbilden können, er spräche zu uns.

Jorge Luis Borges, Das Handwerk des Dichters, aus dem Englischen von Gisbert Haefs, Carl Hanser Verlag, München 2002, 104 Seiten, 12,90 Euro ISBN 3-446-20208-0.


Mao

Jonathan Spence, der Autor so großartiger Bücher zur chinesischen Geschichte wie "Chinas Weg in die Moderne", "Das Tor des Himmlischen Friedens" und "God's Chinese Son" hat eine Mao-Biografie vorgelegt. Vor ihr sei gewarnt. Eine spätere Spence-Philologie wird dieses Buch als eine Fälschung entlarven. Es hat nichts von dem Blick für die großen Bögen, für das Pathos, aber auch nichts von der Fähigkeit, entlegenste Details sprechen zu lassen für ein großes Ganzes wie in "Der kleine Herr Hu". "Mao" ist eine ganz und gar konventionelle Biografie, die nichts ahnen lässt von der abgründigen Banalität seines Helden. Wer nichts über Mao weiß, weiß nach der Lektüre, wann er geboren und gestorben ist, kennt die wichtigsten Daten dazwischen und wird doch keine Ahnung davon haben, wie ein solchen Leben möglich war. "Mao" ist kein Buch von Jonathan Spence. Er hat es nicht geschrieben. Vielleicht hat er es unterschrieben.

Jonathan Spence, Mao, übersetzt von Susanne Hornfeck, Claassen Verlag, München 2003, 255 Seiten, 12 Euro ISBN 3-546-00261-X.


Erotik

Eine der frühesten Arbeiten von Sarah Schumann ist eine Fotocollage in schwarz-weiß aus dem Jahre 1960. Eine Straße, ein Platz, das Pflaster aufgerissen. Darunter liegt in Cinemascope, das Bild beherrschend, das Gesicht der Künstlerin. Dicke Wimperntusche, schön geschwungene Brauen und ein voller, leicht lächelnder Mund. Jahre später müssen die an etwas Ähnliches gedacht haben, die als Prinzip Hoffnung ausgaben: "Unter dem Pflaster liegt der Strand."

Ihre jüngsten Arbeiten sind plakative starkfarbige Madonnen (117x96 cm). Es ist interessant diesen Band "Sarah Schumann Werke 1958-2002" sich anzusehen. Es steckt in diesen scheinbar so privaten Bildern so viel Gegenwart, so viel der jeweiligen Gegenwart, dass es - für die über fünfzigjährigen Schauer und Leser - auch ein Gang durch die eigene Geschichte ist. Und immer wieder der überraschende Vorgriff auf später erst bewusst Gewordenes. Da ist der Kopf der Künstlerin hineingeschnitten in eine Gruppe von Affen, die sie aufzunehmen, zu behüten scheinen - bei gleichzeitiger traumhaft sicherer Distanz. 1959 hatte Jane Goodall sich noch nicht aufgemacht zu unseren nächsten Verwandten, aber hier scheint sie mitten unter ihnen zu sitzen.

Mehr als interessant aber ist es, den Weg der Künstlerin zu verfolgen. Wie sie die Formate, die Techniken wechselt. 140 x 190 groß ist "der Blick schlägt ein Loch in den Dampf des Geysirs". Ein mächtiges Bild ihrer Freundin Silvia Bovenschen, niedergestreckt auf Gras, hinein in eine Landschaft aus Öl, Gips, Spiegelscherben, Perlmutt, Stoff und Spitze. Daneben die Bilder der Anna Mandel, monumentale Collagen, deren erster Blickfang stets die Farbfotografie des Modells ist. Die aber ist eingebettet in Malerei und Materialien, zu denen fast immer Stoffe, Spitze und Steine gehören. Bilder, die den Konservatoren späterer Generationen noch viel Kopfzerbrechen bereiten werden. Die Bilder werden bleiben.

Sarah Schumann versteht sich auf eine der seltensten Liebeskünste: auf die Erotik der Künstlichkeit. Sie weiß, dass wahrhaft nur rührt, was einen zerstört. In diesem Sinne ist sie ein destruktiver Charakter. Ihr großes Werk ist entstanden aus den von ihr zusammengetragenen, von ihr zerschnittenen und zerschlagenen Partikeln, aus denen sie ein neues Ganzes schafft. Die Intensität dieser Zerstörungen erscheint auf den Bildern als Schöpfung. Das macht sie schön. Darauf wird gerne mit Abwehr reagiert. Schumanns Glätte aber ist nicht entstanden als Abbildung von etwas Glattem, sondern sie wird durch die rauesten Verfahren erzeugt. Darin ist sie einzigartig. Es gibt keinen Künstler - jedenfalls nicht in Deutschland -, der Vergleichbares geschaffen hat.

Sarah Schumann, Werke 1958-2002, herausgegeben von Kathrin Mosler, mit Beiträgen unter anderen von Silvia Bovenschen, Klaus Reichert, Gisela von Wysocki und Sarah Schumann, 64 s/w und 174 Farbabbildungen, Nicolai, Berlin 2003, 296 Seiten, 49,90 Euro ISBN 3-87584-969-8.


Aus der Hölle

Die ersten 100 Seiten machen Mut. Sie schildern im wesentlichen den Kampf Raphael Lemkins, eines polnischen Juden, dem es gegen den Widerstand der UdSSR und der USA gelang, die Ächtung des Völkermordes in die UN-Charta aufzunehmen zu lassen. Als junger Jurastudent hatte Lemkin noch von Lemberg aus den Berliner Prozess gegen den armenischen Attentäter, der einen der türkischen Hauptverantwortlichen für den Vernichtungsfeldzug gegen die Armenier ermordet hatte, verfolgt. Der Freispruch war eine Sensation. Und ein Wendepunkt in der Rechtsgeschichte. Nicht zuletzt dank der jahrzehntelangen Bemühungen Raphael Lemkins.

Der wusste, als er Anfang der zwanziger Jahre mit seiner Agitation für die Ächtung eines Verbrechens, das damals noch keinen Namen hatte, des Völkermordes, begann, nicht, dass es bald um sein Volk gehen sollte. Samantha Power schildert in den ersten Seiten ihres Buches "A Problem from Hell - America and the Age of Genocide" mit auch den Leser beflügelnder Sympathie die Kraft und die Energie Raphael Lemkins. Er wird in ihrer Erzählung zu einer der zentralen Gestalten des 20. Jahrhunderts, zu einer jener Figuren, die uns erlauben, an den Fortbestand der Menschheit zu glauben. Der Einzelne ist nicht wehrlos. Er muss nicht notwendig scheitern. Er kann am Ende triumphieren. Selbst über Stalin und Hitler. Nur einen Augenblick lang.

Dann geht der Kampf wieder weiter. Von den sich anschließenden Kämpfen berichtet Samantha Power in ihrem Buch. Es geht darum, wie kann Völkermord verhindert werden, was hat Amerika dafür getan in den letzten fünfzig Jahren? Es ist keine erfreuliche Bilanz. Zur amerikanischen Realpolitik hat nicht nur das Verschließen der Augen vor den Völkermorden der politischen Freunde, sondern auch die Beteiligung an ihnen gehört. Die Doktrin, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei, hat die widerwärtigsten Allianzen geschaffen. Das beginnt nicht erst mit Kambodscha und wird mit dem Irak nicht enden.

Am Deprimierendsten aber ist, was Samantha Power über die Wahrnehmung des Völkermordes in Ruanda durch den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton schildert. In den drei Monaten Anfang 1994, in denen es den Hutu gelang, vor den Augen der Weltöffentlichkeit Hunderttausende Tutsi umzubringen, war das Geschehen nicht ein einziges Mall Thema der täglichen Beratungen des US-Präsidenten. Obwohl er eine der Sprecherinnen des Widerstandes persönlich kannte, obwohl er sie "als ein Vorbild für uns alle" bezeichnet hatte. Die USA waren nicht nur dagegen, gegen den Völkermord einzuschreiten, sie versuchten auch zu verhindern, dass die UN mit Friedenstruppen intervenierte. Selbst Überlegungen, mit weicheren Mitteln vorzugehen, wurden abgelehnt. Die US-Regierung wurde nicht müde, gegen das "Gerede vom Völkermord" zu sprechen. Erst nachdem Frankreich interveniert hatte, nachdem die Tutsis begannen, sich mit Erfolg gegen ihre Mörder zu wehren, änderte sich die amerikanische Politik. Der Radius der Menschlichkeit einer Großmacht wird von ihren Interessen bestimmt. Das ist die bittere Lehre dieses Buches. Samantha Power ist Direktor des Carr Center for Human Rights Policy an der John F. Kennedy School of Government von Harvard University. Ihr Buch ist eines der eindrücklichsten der letzten Jahre und es sollte endlich übersetzt werden.

Samantha Power, "A Problem from Hell - America and the Age of Genocide", Basic Books, New York 2002, 611 Seiten mit s/w Fotos, 30 Dollars ISBN: 0-465-06150-8.