Heute in den Feuilletons

Ich will Kunst als Poesie. Poesie!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2010. In der NZZ erklärt Jean-Christophe Ammann, warum das erste Opfer der Globalkunst der weibliche Körper ist. Die taz beschreibt die südafrikanische Designszene. In der FR staunt Karl Schlögel über den raschen Wandel der Städte nach 1989. In der Welt erklärt Leon de Winter die Unterstützer der Gaza-Flotille zu nützlichen Idioten in einem geostrategischen Spiel gegen Israel. Und alle würdigen den vorgestern gestorbenen Künstler Sigmar Polke.

NZZ, 12.06.2010

"Ich will Kunst als Poesie. Poesie! Kunst ist Poesie! Menschen brauchen Poesie", ruft der Schweizer Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann, der im Interview mit Literatur und Kunst erklärt, warum er die Nase voll hat von den globalen Kunstkonzepten etwa eines Okwui Enwezor. "Denn das Grundprinzip der globalisierten Ausstellung eliminiert etwas von unserer abendländischen Kultur. Und es gibt keine Kunst, die wie diejenige des christlichen Abendlandes in einem so kurzen Zeitraum von zirka 1600 Jahren eine derartige Vielfalt an Formen und Stilen entwickelt hat." Eliminiert werde "alles, was unsere christliche Anthropologie prägt: Lust, Schmerz, Ekstase und Askese. Und natürlich auch alles, was den Körper betrifft, den weiblichen Körper vor allem. Denn der weibliche Körper ist immer der Stein des Anstoßes - seine Zurschaustellung etwa im Rahmen des weiblichen Aktes aber ist Teil unserer westlichen Kunstgeschichte."

Außerdem: Die Wiener Kunsthistorikerin Sabine B. Vogel überlegt, was genau eigentlich Globalkunst im positiven Sinne ist. Und Gabriele Detterer stellt kollektive Kunstpraktiken - "Artist-run Spaces - aus den sechziger und siebziger Jahren vor.

Im Feuilleton betrachtet Sonja Margolina die Kehrseiten der EU - besonders der Osterweiterung der EU. Philipp Meier schreibt den Nachruf auf Sigmar Polke. Roman Hollenstein betrachtet Ausstellungen und Bücher über Südafrikas WM-Stadien. Uwe Justus Wenzel stellt anlässlich einer Neuerscheinung Raymond Geuss' politische Theorie vor. Jan-Werner Müller fürchtet, der euopäischeVerfassungspatriotismus könne sich "in eine Art demokratische Zivilreligion verwandel(n), welche im Namen des Liberalismus dezidiert illiberal auftritt", zum Beispiel, wenn er von Einwanderern Integrationskurse verlangt.

Besprochen werden die Ausstellung "Double Fantasy" der Künstler Jan Jedlicka, Michal Seba und Beate Gütschow in der Prager Galerie Rudolfinum, eine Aufführung von Giovanni Simone Mayrs Oper "Medea in Corinto" an der Bayerischen Staatsoper München und Bücher, darunter Erika Burkarts Gedichtband "Das späte Erkennen der Zeichen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 12.06.2010

Judith Reker sieht sich in der jungen südafrikanischen Designszene im Kapstädter Stadtteil Woodstock um. Sie ist gerade deshalb so heutig, stellt sie fest, weil sie sich mit so wenig Gestrigem auseinandersetzen muss: "Die Apartheid-Jahrzehnte führten nicht nur zu Sanktionen aus dem Ausland, sondern auch zu einer Abschottung von innen heraus. Südafrikas MTV-sozialisierte Jugend von heute kann sich kaum mehr vorstellen, dass Fernsehen bis ins Jahr 1976 verboten war. Mit der früheren Isolation einher gingen die Unmöglichkeit, sich an ausländischen Trends zu orientieren, und auch ein verzögertes Bewusstsein für Design. Jenkin sieht das im Rückblick für seine Entwicklung positiv: 'Es war nicht wie in Schweden, wo man sich mit hunderten von schwedischen Designern auseinandersetzen muss, die schon ein Bild davon geformt haben, was schwedisches Design ist.'"

Weitere Artikel: Hermannus Pfeiffer unterhält sich mit dem Schifffahrtsjournalisten Eigel Wiese über das Thema "Piraterie", zu dem er gerade ein Buch veröffentlicht hat. Paul Wrunsch spricht mit Andreas Frölich, der bei den ???-Hörspielen die Stimme von Bob Andrews ist. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne lässt Tania Martini Michel Foucault postum seinem Kollegen Etienne Balibar erklären, warum er zur Krise Europas die Klappe halten soll. Dirk Knipphals rät so knapp wie dringend zur Lektüre der neu veröffentlichten Roman-Tetralogie des Autors Dieter Forte, der jetzt seinen 75. Geburtstag feiert. Rolf Lautenschläger gratuliert Werner Düttmanns Akademie-der-Künste-Bau am Berliner Hanseatenweg zum Fünfzigsten ("An manchen Abenden, bei tief stehender Sonne, erinnert das Hansaviertel an Brasilia.") Eine ganze Reihe taz-AutorInnen weinen der GEZ Krokodilstränen nach.

Besprochen werden das neue Album "Body Talk Pt.1" des schwedischen Popstars Robyn und Sarah Blaffer Hrdys Studie "Mütter und andere" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 12.06.2010

In einem Essay versucht der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, noch einmal den Schwindel des raschen Wandels der Städte nach 1989 zu erfassen: "Es ist ein Glück, das einem nicht alle Tage und vermutlich nicht jeder Generation widerfahren ist: mitanzusehen, wie sich eine Epoche erledigt, wie etwas zu Ende kommt und etwas anderes anfängt, wie sich binnen kürzester Zeit etwas verdichtet, was unter gewöhnlichen Umständen Jahre braucht, dass sich alles wie in einem Zeitraffer mit bloßen Augen beobachten lässt."

Zum Tod des Künstlers Sigmar Polke schreibt Sebastian Preuss: "Ironie aller Art, schneller Schmäh und schwerblütiger Ulk, lässiger Sarkasmus und ätzender Zynismus - das waren Polkes Mittel, wenn es darum ging, Erwartungen an die Kunst in den Wind zu schlagen."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte, der schon seit zwölf Jahren nicht mehr fernsieht, verabschiedet sich in einer Times Mager von der GEZ. In ihrer US-Kolumne schüttelt Marcia Pally den Kopf über die deutschen Touristen in New York, die sich in noch so verzweifelter Lage partout nicht helfen lassen wollen.

Besprochen werden Roger Vontobels "Penthesilea"-Inszenierung bei den Ruhrfestspielen und die von Claudia Honegger und anderen herausgegebenen soziologischen Berichte aus der Bankenwelt mit dem Titel "Strukturierte Verantwortungslosigkeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 12.06.2010

Nicht mehr als "nützliche Idioten" sind dem niederländischen Autor Leon de Winter die Unterstützer der Gaza-Flotille, und zwar in einem geostrategischen Spiel, das sie einfach nicht durchschaut haben: "Montag, der 31. Mai veränderte alles. Die Europäische Union sieht sich an ihren Grenzen einem grimmigen islamistischen Gegner gegenüber. Genau wie in den arabischen Hauptstädten haben in denen der EU die Energiesparlampen in den Außenministerien bis in den Morgen gebrannt - was tun mit den Türken? Der Zorn der EU auf Israel ist nichts als eine optische Täuschung. Die politischen Eliten wissen, was geschehen ist: Die Türkei hat sich mit dem Iran verbündet."

Außerdem in der Literarischen Welt: Der Psychiater und Autor Theodore Dalrymple erzählt die Apartheidgeschichte Südafrikas als das "weltgrößte und -längste Experiment in positiver Diskriminierung". Frank Griedheimer gratuliert der unermüdlichen Übersetzerin und Autorin Mirjam Pressler zum Siebzigsten. Besprochen werden unter anderem Christa Wolfs Selbstbefragung "Stadt der Engel" Gabriel Chevalliers Kriegsroman "Heldenangst".

Im Feuilleton erklärt Helge Malchow, Verleger von Kiepenheuer und Witsch, wie man Bestseller schafft: "Erfolgreich werden Bücher, wenn sie einen unterirdischen Mentalitätsstrom anstechen, der bisher noch versteckt war." Hanns-Georg Rodek kündigt Bollywoods neuesten Coup an: Geplant ist ein - womöglich sehr heiterer, ausgelassener - Film über Eva Braun und Adolf Hitler. In der Randspalte widmet sich Arne Willander dem deutschen Fußballspieler.

SZ, 12.06.2010

Kia Vahland und Catrin Lorch würdigen die wahrlich bemerkenswerte Karriere des im Alter von 69 Jahren verstorbenen deutschen Malers Sigmar Polke: "So kam ausgerechnet der Anarchist unter den deutschen Künstlern, der ehemalige Kommunarde, der Chemikalien-Alchemist und Spötter zu Erfolg, er, der bis an sein Lebensende nie staatstragend, nie konform sein wollte, sondern sich als Kommentator verstand. Man hat sich am attraktiven und ironischen Polke delektiert, seinen Witz und Stil geschätzt, und seine schlechten Manieren auch. Junge Künstler rezipieren und verehren ihn, seine Unverfrorenheit und seinen Mangel an Kontrollwut, aber auch seine Gnadenlosigkeit gegenüber der Kunst bei gleichzeitiger Kunstfertigkeit."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel stellt die neue rechte Sammlungsbewegung der USA vor, die sich "Tea Party" nennt. Auf einen Sommer, in dem in vielfacher Weise (zehn bisher unveröffentlichte Songs, Film, Fotoband) das Stone-Album "Exile on Main Street" wiederaufleben wird, bereitet Andrian Kreye uns vor. Von einem unsinnigen Museumsbau im armenischen Jerewan berichtet Sonja Zekri. Alex Rühle hat einen Auftritt des Autors und designierten Friedenspreisträgers David Grossman in Salzburg erlebt. Gemeldet wird, dass per Gesetz nun auch die bislang freiwillig (teils eben nicht mehr) ihren Beitrag leistenden Fernsehsender zur Einzahlung in die Töpfe der Filmförderungsanstalt (FFA) verpflichtet sind. Helmut Schödel gratuliert dem Wiener Theatermann Otto Schenk, Catrin Lorch dem Maler Gotthard Graubner zum Achtzigsten. Auf der Medienseite weist Katharina Riehl darauf hin, dass der Ex-Fernseh-Rowdy Niels Ruf jetzt im Internet auf Sendung ist und stellt sarkastisch fest: "Im Netz überlebt alles."

In der SZ am Wochenende schickt Stefan Klein einen Bericht von der Truppe: Er hat die deutschen Soldaten in Afghanistan bei ihrem Kriegsalltag beobachtet. Wolfgang Koydl besucht die liberale britische Reformschule Summerhill. Auf der Historienseite geht es um die Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland. Christine Brinck unterhält sich mit der Psychologin Alison Gopnik über Babys.

Besprochen werden Thomas Langhoffs Münchner Inszenierung von Harold Pinters "Geburtstagsfeier", und Bücher, darunter Rogers Smiths Kriminalroman "Blutiges Erwachen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.06.2010

Wolfgang Schneider war bei der Eröffnung der Berliner Buchtage und stellt fest: "Mit dem Jubel über die 'Riesenchancen' der Digitalisierung wird Todesangst überdeckt." Swantje Karich schreibt zum Tod des Künstlers Sigmar Polke. Jürgen Dollase bespricht ein Menü von Nils Henkel. Andre Thiele liest neue, bisher unveröffentlichte Gedichte von Peter Hacks: "Offenbar war der Weg des Peter Hacks weniger ein Fortschreiten denn eine gesteigerte Kreisbewegung." Dirk Schümer berichtet vom Prager Literaturfestival, wo junge Autoren sich mit den "Leichen im Keller der nationalen Vergangenheit" - den vertriebenen und ermordeten Deutschen nach 1945 - auseinandersetzten. Robert Neisen plädiert für den Erhalt des historischen Kraftwerks Rheinfelden. Michael Horeni und Marcus Jauer porträtieren die Brüder Jerome, Kevin und George Boateng. Auf der Medienseite fordert Markus Beckedahl von Netzpolitik mehr Datenschutz, vor allem beim Umgang amerikanischer Firmen wie Facebook mit den Daten deutscher Nutzer.

Besprochen werden einige CDs, u.a. von Tom Petty und Old Man Luedecke sowie Charles Koechlins Bach-Huldigung mit dem RSO Stuttgart unter Heinz Holliger. Und Bücher, darunter Gregoire Bouilliers Lebensbericht "Ich über mich" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten erzählt Michael Siebler, wie genau die originale Farbfassung der griechischen Grabstatue Phrasikleia rekonstruiert wurde. Thomas Speckmann erinnert an den Koreakrieg, der vor 60 Jahren begann und in dem BRD und DDR einen "Stellvertreterkrieg" ausgefochten hätten. Swantje Karich hat einen Ortstermin mit dem Direktor des Dresdner Albertinums. Die Fußballerin und Präsidentin des Organisationskomitees der Frauen-Fußballweltmeisterschaft Steffi Jones spricht im Interview über den Frauenfußball.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans Christoph Buch ein Gedicht von Nikolaus Lenau vor:

"Eitel nichts!

's ist eitel nichts, wohin mein Aug ich hefte!
Das Leben ist ein vielbesagtes Wandern,
Ein wüstes Jagen ists von dem zum andern,
Und unterwegs verlieren wir die Kräfte.
..."