Vorgeblättert

Leseprobe zu John Gray: Politik der Apokalypse. Teil 3

13.08.2009.
Der politische Realismus ist die einzige Form, über Tyrannei und Freiheit oder über Krieg und Frieden nachzudenken, bei der man sicher sein kann, dass sie nicht in einem Glaubenssystem gründet, und die einzige ethisch ernstzunehmende Denkweise, auch wenn sie im Ruf steht, amoralisch zu sein. Diese Amoralität ist zweifellos der Grund, warum man ihr mit Argwohn begegnet. Der Realismus erfordert eine geistige Disziplin, die einer Kultur, der das psychische Wohlbefinden über alles geht, zu karg erscheint. Man kann sich mit gutem Recht fragen, ob westliche liberale Gesellschaften überhaupt zu der moralischen Anstrengung in der Lage sind, die man aufbringen muss, um sich von der Hoffnung auf Weltverbesserung freizumachen. In Kulturen, die nicht im Christentum und seinen säkularen Ablegern wurzeln, war die Tradition des realistischen Denkens stets lebendig und wird wohl auch in Zukunft ein bestimmender Faktor bleiben. In China gilt Die Kunst des Krieges von Sunzi als Urtext realitätsbezogenen Handelns. Auch die taoistische und legalistische chinesische Philosophie ist vom Bemühen um eine realistische Weltsicht gekennzeichnet. Ähnliche Ideen finden sich in den antiken indischen Schriften Kautalyas über Krieg und Diplomatie. Im Abendland erregte Machiavellis Buch Der Fürst Anstoß, weil es den christlichen Moralvorstellungen zuwiderlief. In nichtchristlichen Kulturen, denen das realistische Denken näher liegt, hätte es vermutlich keine derartige Sprengkraft entwickelt. In postchristlichen liberalen Demokratien befürwortet zwar in der Regel nicht die Mehrheit der Wähler, sondern nur eine politische und intellektuelle Elite den Krieg als ein Instrument der Weltverbesserung, doch steht die öffentliche Meinung dem realistischen Denken skeptisch gegenüber, und man nimmt es oft als gefühllos wahr. Wird eine Generation, die von nicht zu verwirklichenden Träumen Abschied nehmen musste, sich damit abfinden, dass man unausrottbare Übel der Menschheitsgeschichte nun einmal nicht beseitigen, sondern nur in Schach halten kann? Vielleicht gibt sie sich ja lieber der Romantik eines fruchtlosen Strebens hin, als sich nüchtern an Problemen abzumühen, die niemals ganz aus der Welt zu schaffen sind. Vor zwei oder drei Generationen waren westliche Regierungen mit Hilfe realistischer Strategien freilich durchaus in der Lage, Konfliktsituationen zu bewältigen, die weit gefährlicher waren als alle, mit denen wir es im 21. Jahrhundert bislang zu tun haben.
     Im 20. Jahrhundert versetzte politischer Realismus und nicht etwa ein säkulares Glaubenssystem liberale Demokratien in die Lage, den Nationalsozialismus zu besiegen und den Kommunismus in Schranken zu halten. Der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan (1904- 2005) schickte 1946 aus Moskau sein "langes Telegramm" an die Washingtoner Regierung, das maßgeblichen Einfluss auf die Strategie hatte, mit der man während des Kalten Krieges eine atomare Konfrontation zu verhindern und zugleich die Machterweiterung der Sowjetunion einzudämmen vermochte. Kennan verzichtete auf das pathetische Beschwören einer gerechten Sache. Er betonte, das Sowjetsystem müsse in derselben Haltung von "Beherztheit, Nüchternheit, Unvoreingenommenheit und Entschlossenheit, sich emotional nicht provozieren oder aus der Fassung bringen zu lassen", untersucht werden, in der ein Arzt sich einem widerspenstigen und unvernünftigen Patienten nähert. Er setzte nicht einfach als gegeben voraus, dass die sowjetischen Eliten sich in ihrem Denken stets von ihrer Ideologie leiten ließen oder umgekehrt immer vernunftorientiert vorgingen. Stattdessen warnte er davor, sich von ihrer Irrationalität anstecken zu lassen: "Die größte Gefahr, der wir erliegen können [?], besteht darin, dass wir es zulassen, wie die zu werden, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen." Die Gefahren, denen wir uns heute gegenübersehen, sind zwar andere, doch Kennans Art zu denken ist heute wieder dringend vonnöten. Die Aufgabe, den Terrorismus und die Weiterverbreitung von Atomwaffen einzudämmen, sollten wir besser nicht Missionaren oder Kreuzrittern überlassen. Die rauschhafte Glaubensgewissheit, mit der sie jede Krise als vom Himmel gesandte Gelegenheit zur Rettung der Menschheit auffassen, eignet sich schlecht für den Umgang mit Gefahren, die nicht ein für allemal aus der Welt zu schaffen sind. Nützlichere Haltungen in Krisenzeiten sind stoische Beharrlichkeit und innere Distanz.
     Auch Realisten sind nicht gegen Irrtümer gefeit. Fälle, in denen realitätsbezogene Strategien ohne Erfolg bleiben oder ungeheures Leid verursachen, ohne irgendetwas zu erreichen, gibt es viele. Ein besonders schreckliches Beispiel für die letztere Art von Fehlschlägen ist die Bombardierung Kambodschas (1969 -1973) unter US-Außenminister Henry Kissinger. Eine realistische Betrachtung des Weltgeschehens ist keine Gewähr für Erfolg. Im Übrigen gibt es eine Form von verstiegener "Realpolitik", die sich um Realitäten wenig schert. Die Beschreibung, die Albert Wohlstetter von der Sowjetunion lieferte, ging an den realen Gegebenheiten genauso weit vorbei wie das Bild, das sein Schüler Paul Wolfowitz vom Irak zeichnete. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sei Wohlstetters strategisches Kalkül Welten entfernt von Wolfowitz' wahnhaftem Plan, im Irak eine liberale Demokratie zu installieren. In der Idee hingegen, Entscheidungen über Krieg und Frieden ließen sich in spieltheoretischen Entscheidungskalkülen abbilden, verschmilzt der Rationalismus mit dem magischen Denken; sie ist, mit anderen Worten, ein Aberglaube.
     Realisten weisen die Vorstellung von sich, dass die Probleme, die in zwischenstaatlichen Beziehungen auftreten, besser und vollständiger zu lösen sein könnten als die des menschlichen Lebens im Allgemeinen. Es gibt nun einmal Situationen, in denen jede Maßnahme, die zur Wahl steht, schwere Nachteile mit sich bringt - beispielsweise die Situation, die durch die amerikanische Invasion im Irak entstanden ist. Wir können zweifellos etwas dafür tun, dass es nicht allzu oft zu derartigen Situationen kommt: Um Hitler zu besiegen, mag es tatsächlich unausweichlich gewesen sein, sehr viele Menschen zu töten, aber in Blut zu waten, um die Welt zu demokratisieren, dazu besteht ganz gewiss keine zwingende Notwendigkeit. Der Realismus orientiert sich am philosophisch- logischen Prinzip von Ockhams Rasiermesser, Annahmen wegzulassen, die für die Analyse eines Problems überflüssig sind, und trägt so dazu bei, dass wir uns möglichst selten für das kleinere unter mehreren Übeln entscheiden müssen. Er kann uns aber nicht vor sämtlichen Entscheidungen dieser Art bewahren, denn sie gehören zum Menschsein dazu.
     Realistische Denker der Vergangenheit wollten alle ethischmoralischen Überlegungen aus der Politik verbannen und durch eine streng empirische Analyse von Machtverhältnissen und Interessen ersetzen. Sie verstanden Staaten als Gebilde, die in erster Linie darauf ausgerichtet sind, ihre Macht zu maximieren, und analysierten zwischenstaatliche Beziehungen mit Hilfe von Begriffen, die sie aus der Naturwissenschaft entlehnten. Diese Art der Denkdisziplin ist letztlich eine Spielart des Szientismus - der unangebrachten Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf Erfahrungsbereiche, in denen es keine universell gültigen Gesetzmäßigkeiten geben kann - und hat dazu beigetragen, die realistische Denkschule zu diskreditieren. Das Verhalten von Staaten weist recht viele Regelmäßigkeiten auf, die man mittels historischer Analysen herausarbeiten kann, aber nicht zu universell gültigen Regeln erklären sollte. Alle Konzepte, die wir zum Verständnis politischer Zusammenhänge heranziehen, etwa die Begriffe Legitimität, Tyrannei oder Gewaltmonopol, sind mit Wertungen verbunden, die einen wesentlichen Teil ihrer Bedeutung ausmachen. Die Untersuchung zwischenstaatlicher Beziehungen hat deshalb zwangsläufig auch eine moralisch-ethische Dimension.
     Politische Realisten gehen davon aus, dass man einige Grundtatsachen des Weltgeschehens als gegeben voraussetzen muss. Trotz allen Geredes darüber, das Ende des westfälischen Systems, das sich seit dem 17. Jahrhundert etabliert hat, sei gekommen, sind souveräne Staaten nach wie vor die weltpolitischen Hauptakteure. Transnationale Institutionen wie die Vereinten Nationen sind nicht Keimzellen einer Weltregierung, sondern Instrumente, mit denen man mäßigend auf die Rivalitäten souveräner Mächte einwirken kann. Auf der zwischenstaatlichen Ebene geht es in gewissem Sinne anarchisch zu, und das wird auch so bleiben. Natürlich unterwerfen sich Staaten auch vielen Einschränkungen, etwa denen durch internationale Abkommen, die wie die Genfer Konventionen Normen zivilisierten Verhaltens festschreiben; durch Handelsbeziehungen, die allen Seiten Vorteile bringen, und durch zivilgesellschaftliche Traditionen lassen sich destruktive Konflikte bis zu einem gewissen Grad in Wettbewerb und Zusammenarbeit überführen. Weil derartige Übereinkünfte und Verfahrensweisen aber krisenanfällig sind, bleiben Kriegszeiten auf lange Sicht genauso häufig wie Friedenszeiten.
     Realisten distanzieren sich von teleologischen Geschichtsbildern. Sie halten die Vorstellung, dass die Menschheit sich einer Entwicklungsstufe nähert, auf der sich der Streit um die beste Regierungsform erledigt haben wird, nicht nur für illusionär, sondern auch für gefährlich. Wer politisches Handeln auf die Annahme gründet, dass die Menschheit durch einen geheimnisvollen Evolutionsprozess den Weg in ein gelobtes Land finden wird, ist für Probleme, die niemals vollständig zu beheben sind, schlecht gerüstet. Ihren verstiegensten Ausdruck findet die historische Teleologie in Projekten, die den Evolutionsprozess beschleunigen sollen, also etwa in der neokonservativen Idee der "globalen demokratischen Revolution", unter deren unheilvollem Einfluss die US-Außenpolitik eine Zeitlang stand. Doch auch eine "passive Teleologie", die sich jedem Versuch verweigert, das Tempo gesellschaftlicher Entwicklung zu forcieren, kann dem politischen Handeln kein sicheres Fundament bieten. Nichts im Prozess der Modernisierung deutet darauf hin, dass irgendwann einmal alle oder die meisten Staaten Varianten einer einzigen Grundform sein werden. Das Spektrum heutiger Staatsformen ist breit und reicht vom Akzeptablen über das Mittelmäßige bis hin zum Unerträglichen. Hitlers Deutschland war nicht weniger modern als das sozialdemokratische Schweden, und die Volkstheokratie im heutigen Iran ist ein genauso modernes Regierungssystem wie das der Schweiz. Modernisierung bedeutet also nicht, dass die Welt gleichförmiger wird. Moderne Staaten nutzen die Macht des Wissens, um ihre jeweils eigenen Ziele zu verfolgen, und geraten ebenso leicht in Konflikt miteinander wie die Staaten früherer Epochen.
     Wenn Realisten sich gegen die Vorstellung wenden, dass die Menschheitsgeschichte auf einen Zielpunkt zusteuert, liegt das unter anderem daran, dass sie nicht der Versuchung erliegen, Ethik als ein in sich harmonisches System aufzufassen. In zwischenstaatlichen Beziehungen kommt es immer wieder zu moralisch-ethischen Zwangslagen, aus denen es keinen wirklich befriedigenden Ausweg gibt. Viele Moralphilosophen gehen jedoch von der Grundannahme aus, dass die Erfordernisse ethischen Handelns - oder zumindest ein Teilbereich davon wie etwa die Regeln gerechten Handelns - alle ein geschlossenes, widerspruchsfreies Ganzes bilden müssen. Sie setzen also voraus, dass kein moralisches Gebot in Widerspruch zu einem anderen stehen kann. Diese Vorstellung findet sich in allen Spielarten des Utopismus, etwa in der Theorie der Menschenrechte, die man zur Rechtfertigung von Präventivkriegen benutzt hat. Isaiah Berlin weist darauf hin, dass der Glaube an die harmonische Geschlossenheit ethischer Handlungsregeln nicht in der Erfahrung gründet, sondern im Zuge der Aufklärung eine Idee von Vollkommenheit zum Ausdruck brachte, die religiöse Wurzeln hatte. Bei den Denkern der Aufklärung, schreibt Berlin,

stoßen wir immer wieder auf dieselbe Annahme, nämlich dass alle Antworten auf die großen Fragen notwendigerweise im Einklang miteinander stehen müssen. Denn sie müssen sich ja mit der Wirklichkeit decken, und diese ist ein harmonisches Ganzes. Wenn dies nicht so wäre, herrschte im Innersten der Welt Chaos - was undenkbar ist. Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Wissen, Sicherheit, pragmatische Klugheit, charakterliche Lauterkeit, Aufrichtigkeit, Freundlichkeit, rationale Selbstliebe: Alle diese Ideale [?] können (falls sie wahrhaft erstrebenswert sind ) unmöglich in Widerstreit miteinander geraten; falls dieser Eindruck entsteht, kann das nur daran liegen, dass man ihre Merkmale in irgendeiner Weise missversteht. Es kann nicht sein, dass eine wahrhaft gute Sache mit irgendeiner anderen guten Sache letztlich unvereinbar ist; vielmehr implizieren sie einander geradezu: Menschen können nur weise sein, wenn sie frei sind, oder nur frei, wenn sie gerecht, zufrieden und so weiter sind.

Hier wird deutlich, dass die Stimme der Erfahrung - die über höchst offenkundige Konflikte zwischen hohen Idealen zu berichten hätte - verstummt ist und dass wir es mit einer Doktrin zu tun haben, die in theologischen Traditionen wurzelt, nämlich in dem Glauben, dass eine vollkommene Wesenheit - ob wir sie nun Natur oder Gott oder letztgültige Wirklichkeit nennen - nur vorstellbar ist, wenn sämtliche positiven Eigenschaften miteinander harmonieren oder zumindest nicht unvereinbar sind.

     Der Liberalismus trägt wie bestimmte andere Philosophien utopistische Züge, insofern er einen harmonischen Endzustand als erreichbares Ziel hinstellt. Die Vision einer Welt, in der die Menschenrechte überall respektiert werden, gehört derselben Kategorie an wie Fouriers Anti-Löwen oder Anti- Wale, die einzig und allein existieren, um dem Menschen zu dienen. Sie ist ein Tagtraum, der den Blick auf die Konflikte zwischen den Rechten einzelner Menschen und auf die vielen Ursachen der Gewalt verdeckt.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klett-Cotta.

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