Wo wir nicht sind

Die große Wunde

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
06.04.2023. Marco Bellocchios Miniserie auf arte, "Draußen die Nacht", über die Entführung und Ermordung Aldo Moros, erinnert an die Eruption der politischen Gewalt in Italien in den siebziger Jahren. In seinem neu aufgelegten Pamphlet "Die Affäre Moro" kritisierte der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia beide Seiten: Die terroristischen Roten Brigaden, aber auch die harte Position der Regierung Andreotti, die nicht verhandeln wollte.
Nur auf den ersten Blick verwundert es, dass auf einmal wieder die Affäre Aldo Moro auf allen Kanälen präsent ist, die Entführung und Ermordung des früheren italienischen Ministerpräsidenten 1978 durch die Roten Brigaden. Aber dann zeigt sich ziemlich schnell, warum dieses Kapitel der italienischen Geschichte noch lange nicht zu den Akten gelegt werden kann.

Gerade hat ein Pariser Kassationsgericht entschieden, dass zehn Ex-Terroristen aus dem Umfeld der Brigate rosse nicht an Italien ausgeliefert werden dürfen. Seit Jahrzehnten tobt zwischen den beiden Ländern der Streit um die militanten Linksextremen, denen nicht nur vage die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird, sondern sehr konkret Tatbeteiligungen. Einige wurden bereits von italienischen Gerichten in Abwesenheit verurteilt. Ebenfalls seit Jahrzehnten insistieren italienische Intellektuelle, dass die Franzosen einem Missverständnis aufsitzen, wenn sie glauben, "politische Flüchtlinge" vor einer rachelüsternen Justiz schützen zu müssen. Einen der klügsten Appelle richtete Antonio Tabucchi in Le Monde an die Franzosen und beschwor sie, endlich einzusehen, dass die Justiz im italienischen Staatswesen die verlässlichste und wichtigste Verbündete im Kampf gegen Machtanmaßung und Straffreiheit ist.

Und auch die USA befassen sich auf einmal mit den bleiernen Jahre Italiens, da ihnen aufgeht, dass sich die Anschläge, Amokläufe und Krawalle der vergangenen Jahre nicht nur zu einem Problem der Waffenlobby summieren, sondern zu einer Zeit der politischen Gewalt, wie sie Italien in den siebziger Jahre erlebte, als militante Linke und eine klandestine Rechte das Land an den Rand des Bürgerkriegs brachten.

Marco Bellocchios gerade auf arte laufende Miniserie "Draußen die Nacht" führt die Brutalisierung jener Zeit eindringlich vor Augen, als kein Tag ohne Mord oder Entführung verging, und an den Häuserwänden Parolen prangten wie "Faschisten zu töten ist kein Verbrechen" oder "Hart kämpfen ohne Angst". Bellocchio hatte die Entführung Aldo Moros bereits in seinem Film "Buongiorno, notte" als persönliches Drama einer reumütigen Brigadistin erzählt; in der sechsteiligen Serie entfaltet er die Vorkommnisse zu einer politischen Tragödie. Sie ist ein Meisterwerk des politischen Kinos, ein Requiem für den Vorsitzenden der Democrazia Cristiana und seinen berühmten historischen Kompromiss mit den Kommunisten, aber auch ein Totengesang auf die politische Gewalt und den bewaffneten Kampf.

Die Roten Brigaden hatten Aldo Moro am 16. März 1978 entführt und dabei seine fünf Personenschützer umgebracht. 55 Tage lang war Moro Gefangener der Roten Brigaden, bis sie ihn in einem Volksprozess zum Tode verurteilten. Erstaunlich ist an der Serie, wie gründlich Italien mit dem bewaffneten Kampf abgeschlossen hat. Grausamkeit und Irrsinn der Brigate Rosse scheint kaum jemand in Frage zu stellen. Die große Wunde, die noch heute schmerzt, rührt von der Härte der Regierung, die jede Verhandlung mit den Entführern verweigerte, obwohl Moro in etlichen öffentlich gemachten Briefen darum flehte.

"Hier stehen sich zwei Stalinismen gegenüber, bewegen sich aufeinander zu und zermalmen den Menschen, der sich zwischen ihnen befindet", schrieb der Schriftsteller Leonardo Sciascia in seinem berühmten Essay "Die Affäre Moro": "Der bewusste Stalinismus, der unverhohlen gewalttätige und gnadenlose der Brigate rosse, der ohne Prozess die Diener des 'Imperialistischen Staats der Multinationalen' und mit Prozess dessen Führungskräfte tötet; und dann der heimtückische, unterschwellige Stalinismus, der an den Menschen und den Tatsachen sein Werk vollbringt."

Die Edition Converso hat den Essay in neuer Übersetzung und mit einem erhellenden Nachwort von Fabio Stassi herausgebracht. Die "Affäre Moro" ist ein Klassiker der politischen Polemik, man könnte es auch als grandioses Pamphlet bezeichnen, ganz auf der Linie von Pier Paolo Pasolinis "Freibeuterschriften". Sciascia hat den Essay als Roman gekennzeichnet, mit einer Referenz an Jorge Luis Borges erklärt er die Geschichte Aldo Moros zu einem Werk "unantastbarer literarischer Vollkommenheit". Es steckt postmoderne Spielerei darin, ganz sicher Eitelkeit, vielleicht aber auch die Bequemlichkeit, sich von der konkreten Faktenlage freimachen zu können. Dennoch: Als politische Streitschrift ist "Die Affäre Moro" nach wie vor grandios. Bei allem Spott und Sarkasmus verliert Sciascia nie den Anstand, er bleibt bei einer Position der Menschlichkeit, seine Invektiven richten sich gegen die Regierung, nicht den Staat.

Tatsächlich ziemlich einnehmend porträtiert er Aldo Moro als gewaltigen Strippenzieher, berechnend ja, aber vor allem hochintelligent, scharfsinnig, unbeugsam bis zäh, mit einem Blick für die Kräfte und Schwächen des politischen Lebens. Als einen gläubigen Katholiken, aber auch Reformer, einen von uralter Müdigkeit gezeichneten Sizilianer, mit einer Ironie, die ans Verächtliche grenzen konnte und einer pessimistischen Sicht auf die menschliche Natur: "Jahrhunderte voller Scirocco sind in seinem Blick."

Ausführlich zitiert Sciascia die Briefe, die Moro aus seinem Gefängnis an seine Frau Eleonora, den Papst, Innenminister Francesco Cossiga und andere DC-Politiker richtete und in denen er sich mit allen Mitteln dagegen sträubte, zu dem Märtyrer gemacht zu werden, als den ihn die Regierung vorgesehen hat: "Es ist unser gemeinschaftliches Werk, dem hier der Prozess der gemacht wird und für das ich gerade stehen muss", mahnte er etwa in seinem Schreiben an Cossiga. Und: "Es ist nicht hinnehmbar, Unschuldige im Namen eines abstrakten Prinzips von Legalität zu opfern, während eine unbestreitbare Notlage doch zu ihrer Rettung führen sollte." Immer wieder pochte Moro darauf, dass eigentlich nur Deutschland und Israel zu jener Zeit Verhandlungen mit Terroristen ablehnten.

Deutlich treten einem durch diese Briefe Moros wachsende Verzweiflung vor Augen, seine Ohnmacht, die Erbitterung und schließlich Niedergeschlagenheit. Sciacia bemerkt, dass Moro in all seinen Briefen kein Wort über seine getöteten Leibwächter verliert, und versucht recht feinfühlig, dafür eine gute Erklärung zu finden. Die Brigate rosse wollten aus den Briefen selbstverständlich Nutzen ziehen, sie diktierten sie ihm aber nicht. Mitunter nahmen einige Mitglieder des Entführungskommandos sogar ein erhebliches Risiko in Kauf, um die Briefe in Kirchen abzulegen. Dies wertet Sciascia als besonders abstrusen Aspekt ihrer "Kerkermeisterethik", die ihm zur Hälfte vom apolitischen Brigantentum des Südens übernommen erscheint, zur anderen von Foucaults Diskurs des "Überwachens und Strafens", auch wenn die Brigadisten dessen "zarte libertäre Ader" in eine recht versteinerte Doktrin gepresst hätten. Gegen den höhnischen Zynismus der Brigate rosse richtete Sciascia seine Zorn ebenso wie gegen die Härte der Regierung und das Versagen der polizeilichen Ermittlungen.

Der 1921 geborene Sciascia war lange Kommunist, für die PCI saß er im Stadtrat von Palermo, später ging er für den undogmatisch-linken Partito Radicale als Abgeordneter nach Rom. Berühmt geworden aber war Sciascia mit seinen unterkühlten intellektuellen Kriminalromanen, in denen er das große Tabu der sechziger Jahre brach und die Mafia zur Sprache brachte, die sich Sizilien einverleibt hatte. "Der Tag der Eule", "Der Zusammenhang", "Jeden das Seine" sind Meisterwerke, einige wurden von Francesco Rosi verfilmt. An eine direkte Verbindung zwischen Brigate rosse und Mafia glaubte er nicht, er sah nur gewisse Übereinstimmungen. So ist ihm besonders unangenehm aufgefallen, dass die Brigate rosse dieselbe Präzision und Effizienz an den Tag legten wie die Mafia. Und auch der Irrglaube, sie würden außerhalb eines politischen Systems agieren, in einer Sphäre revolutionärer Reinheit, erinnert ihn an die Cosa Nostra. Dabei werden beide in einem politischen System erzeugt und beide wirken auf dieses zurück.

Aldo Moro war der Architekt jenes berühmten historischen Kompromisses, durch den die Kommunistische Partei erstmals eine christdemokratische Regierung mittragen sollte. Dass er ausgerechnet an dem Tag ihrer Installierung entführt wurde, hat Anlass für viele Spekulationen gegeben. Moro selbst hat sie in seinen Briefen genährt, aber vor allem, wie Sciascia vermutet, um die Brigate rosse in ihrem Tun zu verunsichern. Agieren sie nur als nützliche Idioten? Der damalige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) Enrico Berlinguer stand unverrückbar hinter Ministerpräsident Giulio Andreotti und dessen Politik der Härte.

In Marco Bellocchios Sechsteiler ist eine Episode auch der Terroristin Adriana Ferranda gewidmet, die - revolutionär, aber katholisch - von moralischen Bedenken geplagt wird und mit Entsetzen erkennt, dass ihr zynischer Gefährte fünf Menschen - Moros Leibwächter - töten konnte, ohne auch nur an die Möglichkeit zu glauben, dass die Revolution siegreich sein könnte.

In der Podcast-Reihe "Years of Lead" führt der Geograf Alexander Reid Ross aus Portland einige interessante, wenn auch etwas struppig geratene Interviews zu Italiens bleiernen Jahren. Neben dem Historiker David Broder, einem Experten für die Geschichte der KPI und den historischen Kompromiss, spricht er auch mit Vicky Franzinetti, eine Mitbegründerin der ebenfalls militanten, aber weniger stalinistischen Lotta continua. Die Brigate rosse waren einfach so unangenehmen Typen, meint sie, mit denen wollte kaum jemand was zu tun haben. Natürlich haben sie auch alle politischen Projekte und Fortschritte torpediert. Wer menschlich so mies sei, erklärt sie, kann politisch nicht weiterführen.

Leonardo Sciascia: Die Affäre Moro. Ein Roman. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Mit einem Essay von Fabio Stassi. Edition Converso, Karlsruhe 2023, 232 Seiten, 24 Euro. (Bestellen)