9punkt - Die Debattenrundschau

Mal ist es die Schoa, mal der Holocaust

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2015. In der Welt erklärt Amos Oz, warum ein Verräter in der Politik ein Held sein kann. Die SZ ahnt, warum der IS antike Stätten wie Mossul und Nimrod zerstört: Er will das kulturelle Gedächtnis im Nahen und Mittleren Osten auslöschen. Die taz fasst sich an den Kopf: Ein E-Book ist kein Buch, entschied der EuGH. Mit dem Heidegger-Lehrstuhl könnte auch die kontinentale Philosophie verschwinden, fürchtet die NZZ. In der Zeit erklärt Gil Bachrach, warum ihm "Opfergetue" inzwischen fast genauso auf die Nerven geht wie Antisemitismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2015 finden Sie hier

Ideen

Die Literarische Welt widmet Israel einen Schwerpunkt und in einem Interview mit David Thomas spricht der Schriftsteller Amos OZ über seinen Roman "Judas", über das Böse, Treue und Verrat: "Abraham Lincoln wurde von Millionen Amerikanern als Verräter bezeichnet, als er die Sklaven befreite... Anwar al-Sadat wurde als Verräter bezeichnet, als er nach Jerusalem kam, um mit den Israelis Frieden zu schließen, und Menachem Begin, Sadats israelischer Verhandlungspartner, wurde ebenfalls als Verräter bezeichnet, weil er den Frieden mit der Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten bezahlte. Sadat wurde für seinen angeblichen Verrat sogar ermordet, und auch Yitzhak Rabin musste für seinen "verräterischen" Einsatz für den Frieden mit den Palästinensern mit dem Leben bezahlen. Sie sehen, der Club der Verräter ist ein sehr ehrenwerter Club, und ich bin stolz, darin Mitglied zu sein."

Wäre es nicht langsam Zeit für Slavoj Zizek, sich von seinen philosophischen Vaterfiguren zu lösen, fragte in der Zeit (Ausgabe vom 12.2.15) der Philosophieprofessor Markus Gabriel nach Lektüre von Zizeks 1400-Seiten-Wälzer "Weniger als nichts": "Warum präsentiert er seine Thesen immer noch als Platon-, Kant-, Fichte- oder Hegel-Deutung? Man wird den Eindruck nicht los, dass er selber mit dem "großen Anderen" ringt, von dessen Existenz er nicht so recht überzeugt sein will - was seiner Deutung der Psychoanalyse Lacans entspricht, jenes anderen großen Meisters, von dem er sich nicht losmachen kann."

In der NZZ fürchtet Uwe Justus Wenzel, dass mit der geplanten Abschaffung des Heidegger-Lehrstuhls in Freiburg im Breisgau vor allem eine inhaltliche Kontinentalverschiebung: "Ob ein braunes Gespenst vertrieben, ob Geld gespart oder ob eine "moderne akademische Personalentwicklung" in Gang gesetzt werden soll - was tatsächlich geschähe, wenn der Heidegger-Husserl-Lehrstuhl verschwände, wäre dies: Es würde der fatale Trend befördert, jene - "kontinentale" - Philosophie aus den philosophischen Seminaren zu verbannen, die sich in Argumentationstechnik und Sprachanalyse nicht erschöpft."

Außerdem: Im Tagesspiegel würdigt Michael Hesse den Philosophen Ernst Tugendhat, der am Sonntag 85 Jahre alt wird.
Archiv: Ideen

Geschichte

In der SZ skizzieren Tomas Avenarius und Sonja Zekri die Strategie des IS, die hinter den Verwüstungen von Mossul und Nimrud steht: "Der Islamische Staat will das kulturelle Gedächtnis der Menschen im Nahen und Mittleren Osten vollständig auslöschen und Geschichte auf die knapp 100 Jahre islamischer Frühzeit reduzieren, auf die Lebenszeit Mohammeds und die Eroberung der damaligen Welt. Die kulturelle Festplatte der Region soll erst gelöscht und dann neu bespielt werden. Nur so kann sich der gewalttätige Islamismus mit seinem grotesken Anspruch auf globale Staatlichkeit zur einzig vorstellbaren Form von Religion und Gesellschaft erheben."

In der FAZ plädiert der Altorientalist Markus Hilgert nach der Verwüstung von Nimrud durch den IS dafür, wenigstens die Kulturschätze des Irak zu retten, die im wiedereröffneten Irakischen Nationalmuseum seit zwölf Jahren erstmals wieder zu sehen sind.

Judith Leister berichtet in der NZZ von den anhaltenden Debatten in München um die Verlegung von Stolpersteinen, gegen die sich der Stadtrat seit Jahren wehrt, vor allem weil die Israelitische Kulturgemeinde die Plaketten auf dem Boden ablehnt. So meint etwa Charlotte Knobloch: "Würdiges Gedenken kann nicht auf dem Boden, sondern muss auf Augenhöhe stattfinden."
Archiv: Geschichte

Kulturmarkt

E-Books sind keine Bücher, darum darf auf sie auch nicht die reduzierte Mehrwertsteuer angewandt werden. So entschied es am Donnerstag der Europäische Gerichtshof in einem Urteil gegen Frankreich und Luxemburg, meldet in der taz eine fassungslose Sonja Vogel: "Kurz gesagt: Alles, was man nicht unter den Tisch klemmen kann, wenn er wackelt, ist keine Kultur. Und genießt darum keinen besonderen Schutz." Im Perlentaucher kommentiert Rüdiger Wischenbart: "Das EUGH Urteil, gegen das nun innerhalb nur eines Tages die Verleger- und Buchhändlerverbände vieler europäischer Verbände einen gemeinsamen Brandbrief nach Brüssel abgeschickt haben, ändert wohl nichts am Kern des Dilemmas: Es fehlt eine selbstgewisse, klare wie auch gemeinsame Strategie der Verleger und Buchhändler (und auch der Bibliothekare!) in Sachen digitales Buch und digitales Lesen."
Archiv: Kulturmarkt

Medien

In der FAZ staunt Michael Hanfeld über die Dreistigkeit, mit der die öffentlich-rechtlichen Intendanten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihre um etwa 1,5 Milliarden gestiegenen Rundfunkgebühren rechtfertigen: "In dem Augenblick, in dem sich herausstellt, dass es für ARD und ZDF Geld vom Himmel regnet, wird denen, die das alles zahlen, in Aussicht gestellt, dass sie - vielleicht - zur Belohnung in den nächsten fünf Jahren nicht noch mehr abgeben müssen. Eine größere Nebelkerze könnten die Senderchefs gar nicht werfen, um zu vertuschen, dass all die Beteuerungen aus der Vergangenheit nichts als Schall und Rauch waren."
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel berichtet Bernhard Schulz vom fortgesetzten Streit um den Welfenschatz: "2014 war der komplizierte Fall der im Berliner Kunstgewerbemuseum aufbewahrten, 44-teiligen Sammlung mit Goldschätzen aus dem 12. bis 15. Jahrhundert auf Antrag der Erben vor der sogenannten Limbach-Kommission verhandelt worden. Diese sah keine Anhaltspunkte für NS-Raubkunst und empfahl den Verbleib bei der Preußenstiftung." In der FAZ schreibt Uwe Ebbinghaus zum Thema.
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Der arabische Antisemitismus ist kein neues Phänomen, schreibt Giovanni Matteo Quer in Huffpo.fr: "Zu schnell hat man vergessen, dass die Terrorbande von Abu Nidal, die häufig von linksextremen Terroristen in Europa unterstützt wurde, bereits unter den Juden Europas Schrecken verbreitete. Schon damals hat Europa einen fatalen Irrtum begangen. Zu stark auf den rechtsextremen Antisemtismus konzentriert, hat Europa kein Bedürfnis verspürt, den neuen politischen Antisemitismus zu bekämpfen, der auf die europäischen Juden zielte."
Archiv: Europa
Stichwörter: Antisemitismus

Gesellschaft

In der Zeit erklärt der Journalist Gil Bachrach, warum ihm "Opfergetue" und Philosemitismus inzwischen fast genauso auf die Nerven gehen wie der Antisemitismus: "Ja, in der Top-Ten-Liste der größten Unmenschlichkeiten aller Zeiten müssen die Gräuel der Schoah außer Konkurrenz geführt werden. Das bleibt so, und ich kann natürlich verstehen, dass so ein Trauma nicht einfach zu den Akten gelegt werden kann. Bei der jüngeren Generation nervt mich jetzt aber das ständige Opfergetue. Für uns Juden ist es eine Pflicht, unsere Ahnen zu ehren, wir haben allerdings auch eine Verpflichtung für die Zukunft. Eine gemeinsame Zukunft mit den Gojim. Nur, wie bekommen wir es hin, dass die Muslime diese gemeinsame Zukunft auch wollen?"

Die Deutschen haben - von den Eliten abgesehen - kaum Sympathie für Israel, konstatiert in der Welt Gil Yaron. Er fragt sich, ob nicht die Fixierung der "Freunde Israels" auf die Schoah inzwischen kontraproduktiv ist: "Schuldbewusst flüstern Deutschlands Israelfreunde, weswegen man auch in Zukunft weiter zu Israel stehen soll: mal ist es die Schoa, mal der Holocaust. Das entbehrt nicht nur jeder Inspiration, und nervt viele Israelis, die nicht mehr als Opfer gesehen werden wollen. Es ist zudem gesellschaftlich zunehmend irrelevant, und gefährdet deswegen das Verhältnis zu Israel."
Archiv: Gesellschaft