Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
10.06.2003. Krieger mit Wangenrot, Malerei und Drama, die chinesische Armada und wie der Magier ins Griechische kam: Arno Widmann hat Bücher von Thomas Dworzak, Ivan Nagel, Gavin Menzies, Noelle Chatelet, Walter Burkert, Peter Schäfer und Abini Zöllner vom Nachttisch geräumt.
Gotteskrieger

Sich fotografieren zu lassen, war im Afghanistan der Taliban zunächst verboten. Dann wurde dem Regime klar, dass es für Personalausweise Porträts brauchte. Und vor die Wahl zwischen Glaube und Kontroll-Lust gestellt, entschieden sich die Taliban wie bisher noch alle Herrscher der Welt für Letztere. Als der 1972 in München geborene Magnum-Fotograf Thomas Dworzak im Dezember 2001 zusammen mit den Truppen der Nordallianz in Kandahar eintrifft, besucht er das Atelier eines Fotografen und findet dort Hunderte von Aufnahmen, die die fliehenden Taliban nicht mehr hatten abholen können. Es sind nicht Passfotos, sondern kunstvoll kolorierte Porträts.

Die Krieger trugen Wangenrot und an Kajalstiften scheint es keinen Mangel gegeben zu haben. Weiße Turbane ver- und enthüllen tiefschwarzes, lasziv hervorquellendes Haar, das verführerisch dem denkbar künstlichsten Hautweiß, das an den Wangenknochen in Rokokorose übergeht, kontrastiert. Der schwarze, exakt getrimmte Schnurrbart betont das satte Rot der Lippen. Der Kinnbart führt den Blick zur Haut des weißen Halses. Fast jedes Gesicht eine Orgie wie von Peter Greenaway. Eine Reihe von Doppelporträts zeigt wie der eine Krieger dem anderen lässig eine Hand auf oder einen Arm um die Schulter legt.

Das schönste Paar hat die Hände in Schulterhöhe in einander gelegt. Das hat den Vorteil, dass die goldene Armbanduhr des einen jungen Mannes mit ins Blickfeld der Kamera gerät. Angesichts dieser Fotos wird klar: Puritanismus ist das Gegenteil von Asexualität. Die Rückhaltlosigkeit, mit der diese jungen Talibankämpfer ihrer Idee von Schönheit folgen, mit der sie sie herausstellen, widerspricht nicht ihrer restlosen Unterwerfung unter den einen unsichtbaren bilderverbietenden Gott. Ihr Gottesdienst umfasst die eigene Person und deren Mission. Ein hässlicher Gotteskrieger beleidigt den Gott. Die Künstlichkeit dieser Schönheit weist sie als Ergebnis einer Arbeit auf, die der Gläubige auf sich genommen hat zur höheren Ehre Gottes.

Der Gang zum Fotografen ist Gottesdienst. Ein Kult, in dem es nicht nur erlaubt, sondern geboten ist, das Verbot der Abbildung eines Geschöpfes Allahs zu übertreten. Dass dieser Kult der Camp-Ästhetik der kalifornischen Schwulenbewegung der sechziger Jahre entsprungen zu sein scheint, sollte uns über deren Ursprünge grübeln lassen. Eines jedenfalls ist klar: Die Truppen Alexander des Großen, der Kandahar vor zweieinhalbtausend Jahren gründete, werden ähnlich geschminkt zu ihren Festen gegangen sein. Auch Kastor und Pollux standen einander nicht in keuschem Weiß - wie uns die Statuen der Antike heute vorgaukeln - gegenüber, sondern warfen einander schmachtende Blicke aus künstlich beschwerten Lidern und glänzend gereizten Augen zu.

Taliban - Fotos gesammelt von Thomas Dworzak, Trolley, 128 Seiten, 24,95 Euro, farbige und s/w Fotos, Italien 2003, ISBN: 0-9542648-5-1.
(Das Buch ist inzwischen auch in Deutschland erschienen: Taliban. fotobuch-edition, Freiburg 2003, 24,95 Euro, ISBN: 3-00-011402-5)



Entwurf

Der aus Budapest stammende Ivan Nagel (mehr hier) ist einer der bedeutendsten deutschen Essayisten (Bücher). Es gibt Leute, die lasen die Frankfurter Allgemeine Zeitung, nur weil er für sie vom amerikanischen Kulturleben berichtete. Heute scheint er das Versteckspiel zu lieben. Einen Augen öffnenden Artikel über "Malerei und Drama" hat er in der "Zeitschrift für Kunstgeschichte" versteckt. Er macht darin klar, dass die große Revolution der europäischen Malerei, die Giotto war, nicht zuletzt darin ihren Grund hatte, dass der Florentiner Maler Theaterszenen festhielt. Sie wirken so lebendig, nicht weil sie, wie viele Kunsthistoriker sagen, "erzählen", sondern weil sie dramatisch sind.

Der theatererfahrene Ivan Nagel präpariert den Unterschied so klar heraus, dass niemand nach der Lektüre seines Artikels die Bilder Giottos sehen kann, ohne daran zu denken, dass in Padua vor der Arena-Kirche, die Giotto ausmalte, das "Spiel von der Verkündigung" aufgeführt wurde, dass der Dialog zwischen dem Engel Gabriel und der Jungfrau Maria - "Ave Maria" - "eine Keimzelle des mittelalterlichen Theaters" war. Er wird auch nicht vergessen, wie plausibel Nagel die alte Legende von der Bekannt- ja Freundschaft zwischen Dante und Giotto zu machen versteht.

Nagels Kunst ist einfach. Er sieht genau hin. Er liest genau. Ihm fällt auf, dass Dante in seiner programmatischen Bildbeschreibung dreier "Historien" im zehnten Gesang des "Fegefeuers" gerade keine Geschichte erzählt, sondern Szenen beschreibt und aus dieser Beschreibung herausfällt in einen einundzwanzig Zeilen langen "dialogischen Streit zweier Personen, Rollen". Dante erzählt nicht mehr, er lässt spielen. Die Pointe der Nagelschen Betrachtung ist nicht, dass Giotto die Verkündigungsspiele seiner Zeit gemalt habe, sondern Nagel meint: "die Malerei schafft ein künftiges (lange noch von keinem Schauspieler bespieltes) Theater." In und durch Giottos Kunst entsteht "ein neues Selbstgefühl des Bürgers als Person", der seinem Körper einen Raum schafft, den er erfüllt. Die Plastizität, das Volumen der Giottoschen Figuren macht sie nicht einfach nur lebensähnlicher, "realistischer" als ihre Vorgänger, es ist vor allem Programm. Den Menschen wird gezeigt, was sie werden können, wenn sie denn bereit sind, sich einen Entwurf von sich zu machen. Man spürt, ohne dass Nagel es jemals sagen muss, von der ersten Zeile, wie aktuell diese Lektüre der achthundert Jahre alten Texte und Bilder ist.

Ivan Nagel, Malerei und Drama - Über das Historiengemälde, Zeitschrift für Kunstgeschichte, Heft 1, 2003, Seiten 1- 18, Deutscher Kunstverlag, München 2003 ISSN 0044-2992.


Supermacht

Das ist der Anfang des Klappentextes: "Am 8. März 1421 läuft auf Geheiß des Ming-Kaisers Zhu Di eine gigantische Armada aus, wie sie die Welt nie wieder gesehen hat. Ihr Auftrag: Tribute einfordern von den Barbarenvölkern 'jenseits des Meeres'. Es sind Hunderte mächtiger Dschunken mit 30.000 Mann Besatzung unter dem Kommando des Eunuchen Zheng He. Die Reise währt zwei Jahre; die Flotte segelt rund um die Welt und entdeckt ferne Kontinente." Wer das für den Anfang eines Märchens hält, der lese Gavin Menzies' "1421 - Als China die Welt entdeckte" und lasse sich eines Besseren belehren. Er wird eine Welt kennen lernen, von der er nicht einmal wusste, dass es sie gab.

Als China die Welt entdeckte, war das nicht die Tat einiger beutehungriger wilder Gesellen, die mit gemischt finanzierten Unternehmungen drei bis fünf kleine Schiffe ausstatteten, sondern ein durchkalkulierter, vom Kaiser selbst bestens organisierter Fangzug über die Meere, an dem neben Militärs und Diplomaten auch Wissenschaftler, Dichter, Priester und Gelehrte der verschiedensten Religionen und Prostituierte teilnahmen. Strömungen und Windstärken wurden gemessen, Karten erstellt, seltene Pflanzen und Tiere wurden ebenso gesammelt wie fremde Erzählungen und Überlegungen über Gott und Welt. Kaiser Zhu Di hatte schon eine Enzyklopädie verfassen lassen. Sie umfasste in viertausend Bänden das ganze chinesische Wissen seiner Zeit. Die Expedition sollte auch noch den Rest menschlicher Erkenntnisse nach China bringen.

China war, das macht Menzies sehr schnell sehr klar, die uneingeschränkte Supermacht jener Jahre. Chinas Armee umfasste eine Million Mann. Heinrich V. von England führte 5.000 Krieger ins Feld. Die nächstgrößere Flotte war die Venedigs: dreihundert Galeeren. Also Schiffe, die nur für kurze Strecken auf dem Mittelmeer geeignet waren. Die größten von ihnen waren fünfzig Meter lang und sechs Meter breit und konnten bestenfalls fünfzig Tonnen Fracht befördern. Die Schiffe der chinesischen Armada konnten mehr als drei Monate lang auf See bleiben und dabei mindestens 4.500 Seemeilen zurücklegen, ohne Land ansteuern zu müssen. Venedigs Schiffe wurden von Bogenschützen verteidigt. "Chinesische Schiffe waren mit Kanonen und Mörsern aus Messing und Eisen bestückt und verschossen brennende Pfeile und explodierende Geschosse. Auf jedem Gebiet - in der Bauweise, der Ladekapazität, der Schadensbegrenzung, der Bewaffnung, Reichweite und Kommunikation, der Fähigkeit auf den endlosen Ozeanen zu navigieren und die Schiffe monatelang auf See zu reparieren und zu warten - waren die Chinesen den Europäern um Jahrhunderte voraus. Admiral Zheng He hätte nicht die geringsten Schwierigkeiten gehabt, jede Flotte zu vernichten, die seinen Weg gekreuzt hätte. Eine Schlacht zwischen der chinesischen Armada und den vereinten Flotten aller anderen Länder der Erde wäre wie ein Kampf zwischen einem Rudel Haie und einem Sprottenschwarm gewesen."

Aber die Zukunft gehörte dem Sprottenschwarm. Als die Flotte zurückkehrte, gab es in China einen neuen Kaiser. Der hasste seinen Vorgänger und er hasste Ausgaben und er hasste das Fremde. Er ließ die Aufzeichnungen vernichten, verbot den Handel mit dem Ausland und igelte China ein. Das gelang ihm so gut, dass seine Nachfolger es ihm nachtaten und es Jahrhunderte dauerte, bis China sich wieder öffnete. Aber da war es aus Freude am Isolationismus schwach geworden und wurde eine nicht allzu schwere Beute seiner Feinde. Der Sprottenschwarm hatte gesiegt, weil der Hai darauf verzichtet hatte ein Hai zu sein. Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie passiert immer wieder neu.

Gavin Menzies, 1421 - Als China die Welt entdeckte, aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser und Helga Migura, Droemer, München 2003, 603 Seiten, farbige und s/w Abbildungen,24,90 Euro ISBN 3-426-27306-3.


Exerzitium

Die Geschichte einer Frau, die aufhört, mit ihrer Tochter über deren und die eigenen Liebhaber zu sprechen, die nicht die Pariser Events besucht, die sich in ihre kleine Wohnung zurückzieht, nicht mehr zur Arbeit geht, ein altes blaues Kleid anzieht und damit beginnt ihre Tage angenehm zu finden, wenn sie sie in einem Park auf einer Bank sitzend verbringt und aus der Ferne groß und klein bei ihrem betriebsamen Leben zuzusehen. Die Frau entdeckt, wie schön es ist, sich vom Leben zurückzuziehen, wie angenehm es ist, mit niemandem als mit sich selbst Umgang zu haben. Ohne Widerwillen, ohne Ekel - einfach aus einem Gewährenlassen heraus.

Auch das eigene Äußere darf einfach sein wie es ist. Kein Kampf mehr gegen die schwindende Attraktivität, keine Eifersucht mehr auf die glatte Haut der Jüngeren, keine Anstrengungen mehr, sich und anderen zu beweisen, dass man zählt, sondern gelassenes Sich-Einschränken. Ein Lob des Rückzugs, eine zarte Elegie auf die Kunst des Verschwindens. Ein sehr weiches Buch. Aber ganz präzise und von so großer Zartheit, dass es sich leisten kann, auch das Unangenehmste nicht zu verschweigen, sondern es einzuspinnen in diesen Sehnsuchtsgesang nach dem Alter. Die Frau, von der die Geschichte erzählt, ist noch nicht alt. Aber sie übt schon einmal. Sie möchte nicht vom Alter überrascht werden. Darum simuliert sie es. Wie die Autorin und wie wir Leser mit ihr. Am Ende zieht die Heldin sich wieder aus ihrer Greisenrolle zurück und wir mit ihr. Aber das Exerzitium tat uns gut.

Noelle Chatelet, Die Dame in Blau (zusammen mit den beiden anderen Romanen: Die Klatschmohnfrau und Das Sonnenblumenmädchen), aus dem Französischen von Uli Wittmann, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, alle zusammen 446 Seiten, 12 Euro. ISBN 3-462-03104-X.


Magier

In fünf kurzen Kapiteln resümiert der emeritierte Professor für Klassische Philologie der Universität Zürich, Walter Burkert, was wir heute wissen über "Die Griechen und der Orient". Er ist kein Parteigänger in diesem uralten Streit, sondern ein sorgfältig abwägender Chronist. Er arbeitet das Gemeinsame der Frühzeit heraus, er markiert aber auch in aller Deutlichkeit das, was früher das griechische Wunder genannt wurde. Burkert macht klar, dass es auch darum als Wunder erscheint, weil zu dem Zeitpunkt, da Griechenland eine eigene Gestalt annimmt, die Quellen aus seiner Umgebung fehlen. Es ist gerade die Randlage, die Griechenland eine Chance gibt: "Die Griechen hatten seinerzeit, in der Epoche der assyrischen Vorherrschaft, das Glück, vom Andrängen des Ostens berührt, aber nicht zerstört zu werden."

Wenn Burkert Odyssee und Gilgamesch-Epos vergleicht, betrachtet er nicht nur die einander ähnlichen Stellen - zum Beispiel die "Götterversammlung" -, sondern er zeigt auch, dass in beiden zeitlich und räumlich so weit aus einander liegenden Epen verblüffend ähnliche Erzähltechniken verwandt werden: "Die Doppelhandlung zu Beginn, die Gilgamesh und Enkidu zusammenführen soll, wird so angelegt, dass die Erzählung zunächst den Abenteuern des Enkidu folgt und dann erst, nach dessen 'Menschwerdung', die Träume, Erwartungen und Vorbereitungen des Gilgamesh als Erzählung der Hure an Enkidu erscheinen. So ist eine Vorform selbst für die Erzähltechnik des Odysseedichters gegeben, der eine mehrsträngige Handlung anlegt, um Odysseus und Telemachos zusammenzuführen, und den Hauptteil der Reiseabenteuer des Odysseus als Ich-Erzählung des Helden im Phäakenland unterbringt. Die Ähnlichkeit des Anfangs von Gilgamesh und Odyssee ist von Anfang an aufgefallen: Man weckt Aufmerksamkeit für einen Helden, der weit gewandert ist und viel gesehen hat; doch sein Name fällt erst im nach hinein."

Wenn wir heute noch von den Magiern sprechen, dann mögen wir das von Heraklit haben, aber lange vor ihm gab es schon die Inschrift von Behistun, in der Dareios erklärt: "Es gab einen Mann mit Namen Gautama, einen Magier, der log und sprach: Ich bin Bardia." Diese Inschrift reißt den Horizont nach Osten hin meilenweit auf. Mindestens aber ebenso wichtig ist, dass es in der Inschrift heißt, "die gleichen Inschriften" seien in alle Länder des Reiches gesandt worden. So werden sie zum Beispiel auch nach Samos gelangt sein, das gerade durch den Sturz des Polykrates persisch geworden war.

So kam der Magier ins Griechische und von dort in die Bibel, und in ihr überlebte er zweitausend Jahre. Heinrich Heine, Agnes Miegel und all die anderen fanden ihn dort, und erweckten ihn, den immer wieder Totgesagten, immer wieder zum Leben. Wie Homer schon ein großer Wiederbeleber des Orients gewesen war. Er beschwört eine vergangene Glorie, eine lange vor ihm niedergemähte Pracht. Sein Stil, seine Schilderungen spielen mit den Anspielungen auf Orientalisches. Unter seinen Zeitgenossen wird es den einen oder anderen Edward Said gegeben haben, der ihm "Orientalismus" vorwarf. Aber diese kritischen Stimmen sind nicht überliefert. Walter Burkert lehrt uns, sie zu ahnen.

Walter Burkert, Die Griechen und der Orient, C.H.Beck, München 2003, 176 Seiten, 19,90 Euro ISBN 3-406-50247-4.


Moses

Peter Schäfer
, Professor der Judaistik an der Freien Universität Berlin, analysiert Sigmund Freuds späten Essay "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" (1939). Er berichtet auf den 38 Seiten seines schmalen Bändchens von der Freud quälenden Arbeit an diesem Werk, und er erzählt von den Diskussionen, die es hervorrief. Freuds Unternehmen lief darauf hinaus, dem jüdischen Volk, exakt zu dem Augenblick, da ihm seine Existenz genommen wurde, auch noch seinen Ursprung zu nehmen. Moses, so Freud, verkündete den Gott Echnatons, und er war wie dieser Ägypter. Moses Jahwe war Importware. Die Historiker, daran erinnert Peter Schäfer, haben Freud heftig widersprochen, und am Ende widerspricht auch Schäfer Freud. Er will dem Leser plausibel machen, Freud habe sein Bild vom Judentum, vom "Triumph der Geistigkeit" im jüdischen Monotheismus nicht dem Judentum abgeschaut, sondern dessen Erklärung durch den Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts. Eine starke These. Für die vieles - vor allem freilich dessen alle Geisteswissenschaften prägender Einfluss um 1900 - spricht. Schäfer aber liefert keinen Stoff für seine Pointe, nicht einen einzigen Beleg. Er schreibt sie hin, als ginge es ihm nur darum, sie beim Patentamt anzumelden. Schade.

Peter Schäfer, Der Triumph der reinen Geistigkeit - Sigmund Freuds "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", Philo Verlagsgesellschaft, Berlin Wien 2003, 46 Seiten, 9 Euro ISBN 3-8257-0315-0.


Waffenkunde

Abini Zöllner wurde 1967 in Berlin-Lichtenberg geboren. Ihre Mutter hatte als Kind zusammen mit ihren Eltern Deutschland verlassen. Die Emigration hatte die jüdische Familie bis nach China vertrieben. Nach dem Krieg kam die Mutter zurück, kümmerte sich um ihren Vater - Abinis Großvater - , als sie einen nigerianischen Kommunisten kennen lernte, einen schönen Mann vom Stamme der Yoruba, da gebar sie mitten hinein in den Aufbau des Sozialismus ein Mädchen, das sie "Mein mir vom Himmel gesandter Teil" (Abini) nannte, dessen hohe afrikanische Stirn sie vom ersten Moment an liebte.

Den Rest schloss sie erst eine Viertelsekunde später in ihr Herz. Der Vater spielte keine große Rolle im Leben des jungen Mädchens, zunächst verschwand er über die Woche und bald ganz. Das traf niemanden unvorbereitet. Die Rolle ihres Vaters bei ihrer Geburt beschreibt die Erzählerin so: "Mein Vater, der vor dem Kreißsaal stundenlang gewartet hatte, stürmte nach der Entbindung herein und umarmte uns. Er freute sich über seine kleine Tochter mit dem nigerianischen Namen und sagte, dies sei der schönste Tag seines Lebens, das müsse er feiern. Mamel wusste, dass er nun fremdgehen würde, und nahm es als Zeichen seiner echten Freude. Das waren meine Eltern."

So ist das Buch. Was anderen Stoff für Tragödien liefern würde, daraus wird unter dem freundlich-ironischen Blick Abini Zöllners eine heitere Komödie, die mit leichter Melancholie etwas gewürzt wird. Ihr Leben mit einem Rockstar und dessen Frauengeschichten belächelt sie milde. Die härtesten Auseinandersetzungen werden nicht etwa verschwiegen, sondern durch den Weichzeichner einer alles vergebenden Erinnerung wiedergegeben. In Deutschland in den 60er und 70er als uneheliches Kind aufzuwachsen, stellt sich der Leser schon unangenehm genug vor. Nun gar als uneheliches Kind einer Jüdin und um all dem noch eins draufzusetzen als dunkelhäutiges Afrikanerkind - das sollte Material genug sein, um über die Ungerechtigkeit der Welt, über die Vorurteilsgläubigkeit ihrer Bewohner wenn schon nicht zu jammern oder zu klagen, so sie doch schmerzhaft erfahren zu haben.

Nichts davon in diesem Buch. Jedes Erlebnis löst sich auf in einem Scherzwort, im heiteren Einverständnis. Das gibt dem Buch etwas von der Großmütigkeit von de Sicas Film "Fahrraddiebe". Hier ist jemand, der den Menschen nicht eine hinter die Ohren geben, sondern ihnen den Kopf streicheln möchte. Der in die Jahre gekommene Leser mag das, aber ist die Autorin nicht zu jung, um so souverän mit dem Leben und seinen Misslichkeiten abgeschlossen haben zu können? Ihr großes Herz, ihre Verzeihlust, von der der Leser sich eingeschlossen, mit akzeptiert fühlt, sie sind doch - so sein im Laufe der Lektüre anwachsender Verdacht - Ausdruck einer ganz und gar unangebrachten Resignation. Wie sie sich zurückstellt, wie sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf ihre Mutterliebe lenkt - das ist nicht nur angenehm. Man sieht nicht gerne jemand bei der Selbstverkleinerung zu.

Man wünschte sich, sie hätte mehr über sich geschrieben, hätte den Leser näher an sich herangelassen. Ihr Sinn für Komik, ihre Selbstironie dienen ihr ausschließlich zur Verteidigung. Es sind Abwehrwaffen, mit denen sie ihre Umgebung gewinnt und sie sich gleichzeitig vom Leibe hält. Wenn man sich vorstellt, dass es sich dabei gerade nicht um Stilmittel einer Autorin, sondern um Waffen handelt, die das kleine bedrohte Menschenkind im Laufe seines Lebens erwarb und nicht müde wurde weiterzuentwickeln, dann beginnt man zu ahnen, worum es in diesem Buch geht und warum die Autorin es schrieb.

Abini Zöllner, Schokoladenkind - Meine Familie und andere Wunder, Rowohlt, Reinbek 2003, 255 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 3 498 07662 0.