Im Kino

Und jetzt alle: Greed!

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
30.03.2011. Von der Frankfurter Finanzwelt und zwei Menschen, die einen Ausweg aus ihr suchen, erzählt Christoph Hochhäuslers Film "Unter dir die Stadt". In einen Hinterwald im tiefsten Missouri begibt sich dagegen Debra Graniks vielfach ausgezeichneter Country-Noir-Indpendent-Film "Winter's Bone".


Zwei Menschen ist in Christoph Hochhäuslers drittem Spielfilm "Unter dir die Stadt" das eigene Leben nicht genug. Beide suchen in der Welt ein Außen des repetitiven Flusses des Alltags und finden sich auf dieser Suche schließlich gegenseitig. Svenja Steve (Nicolette Krebitz), Frau des aufstrebenden Investmentbankers Oliver Steve, in der eigenen Karriere aber nicht allzu erfolgreich, reagiert auf Kontingenzen, punktuelle Einbrüche des Realen, kleine Risse im Dekor der Finanzmetropole Frankfurt, zwischen deren gläsernen Hochausfassaden fast der gesamte Film spielt: Für ein paar Minuten folgt sie einer Frau, die dasselbe Oberteil trägt wie sie. Eine andere Frau, die im Restaurant einen wütenden Streit mit ihrem Mann entfachte, begleitet sie wie zufällig auf die Toilette. Im Kreis der Kollegen ihres Mannes mag sie als leicht exzentrisch gelten, aber als putzige Außenseiterin ist sie mit ihrem Umfeld allemal kompatibel.

Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) wurde gerade zum Banker des Jahres gekürt, er arbeitet in demselben Unternehmen wie Svenjas Mann, einige Etagen höher auf der Karriereleiter. Auch Robert ist nicht ganz eins mit dem Leben, das er zu führen hat, aber für den zeitweiligen Ausstieg, die Entgrenzung benötigt er mehr als Svenja, er heuert Helfer an und konstruiert aufwändige Fiktionen. Er zahlt dafür, einen Junkie beim Fixen beobachten zu dürfen, er imaginiert sich in die proletarisch geprägte Kindheit eines anderen: ein Vater, der nachts bei BASF arbeitete, eine kleine, hellhörige, düstere Wohnung in Mannheim. Aber die amour fou, die er mit Svenja beginnt, ist etwas ganz anderes, sie reißt ihm sanft aber bestimmt den Boden unter den Füßen weg, es geht plötzlich nicht mehr um die - ebenfalls problemlos mit seinem Umfeld kompatible - rückwärtsgewandte Sehnsucht nach etwas Ursprünglichem, nach einer weniger abstrakten Welt, in der man nach der Nachtschicht körperlich erschöpft nach hause kommt; es geht, davon künden schon die Reflexionen in den Drehtüren der Bankgebäude, in denen sich Materie in optische Illusionen verflüchtigt, nicht um eine Welt vor, sondern um eine Welt nach dem Investmentbanking.



Über eine Zigarette, die sie liegen lässt und die er aufnimmt und weiterraucht (vermittelte Intimität, ein erster, phasenverschobener Kuss), treten die beiden das erste Mal miteinander in Kontakt. Es dauert danach noch eine ganze Weile, bis Hochhäusler Svenja und Roland auf einer Party zum ersten Mal mit einem radikal sanften Schnitt in ihren eigenen Raum befördert. Zuerst stehen sie da noch zwischen Dutzenden sich angestrengt entspannenden potentiellen Millionären, eine Einstellung später laufen sie alleine, im Garten der Partylocation, auf einen vielfarbig schimmernden Wald zu. Sie entfernen sich immer weiter von der Kamera, bis Rolands schwarzer Anzug fast mit seiner Umgebung verschmilzt, ihre Stimmen aber bleiben ganz nah. Eine Entsprechung der Szene mit umgekehrtem Bewegungsvektor findet sich später in einem tiefen Hotelflur. Das Auseinandertreten von optischer und akustischer Perspektive schafft Momente geheimnisvoller, fast unwirklich anmutender Vertraulichkeit inmitten einer inner- wie äußerlich erkalteten Welt, in der zwischenmenschliche Beziehungen ähnlich pragmatisch ausgehandelt werden wie Firmenübernahmen; man denke an das wilde, hilflose Gestikulieren von Rolands Frau Claudia, die, als sie von seiner Affäre erfährt, ungelenk auf ihrer eigenen romantischen Passion besteht, wo für ihn von Anfang an nur Arrangement war.

Inseln der gebrochenen Intimität (beim ersten Sex im Hochhaus blickt die Kamera hinter ihnen aus dem Fenster über die Stadt) brechen ein in Milieubeschreibungen der Welt der Hochfinanz, die mit absichtsvoll grobem Pinsel, oft in eindeutig sozialsatirischer Manier gefertigt werden. Die Gefühlsausbrüche des japanischstämmigen Kollegen und Kontrahenten Olivers im Fahrstuhl oder die Aufforderung zur Gordon-Gecko-Mimesis beim gemeinsamen Fototermin ("und jetzt alle: 'Greed!'") verhalten sich zur zentralen Liebesgeschichte und deren Mysterien ähnlich wie im Vorgänger "Falscher Bekenner" die (für diejenigen, die selbst ähnliches erlebt haben nicht immer leicht mit anzuschauenden) Momentaufnahmen familiär-provinzieller Bürgerlichkeit zu den Motorradfetisch-Träumen der Hauptfigur Armin. In beiden Filmen kommt das eine nicht ohne das andere aus: Der Realismus nicht ohne seine Überschreitung in der Imagination, die Utopie eines anderen Lebens nicht ohne ihre Erdung in den Schrecken des Alltags. Hochhäusler versucht gerade nicht, diese Elemente miteinander zu verschmelzen, im Sinne eines magischen Realismus zum Beispiel. Statt dessen fasziniert an den Filmen gerade die sehr eigenwillige Dynamik, die aus der Konfrontation der empirischen Welt mit etwas ihr zutiefst Inkompatiblem entsteht.

Lukas Foerster

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Im Urban Dictionary ist gewohnt pointiert dies zu erfahren über "Crank", die Droge, die in Debra Graniks mehrfach oscarnominiertem Film "Winter?s Bone" zu der Zerstörung einer Gemeinschaft das ihrige beiträgt:

crank, n.: "A cheap form of meth made in trailer kitchens. often causes gritting of teeth, assholeyness, destruction, inability to pay bills, romantic relationships with ones aids infected cousin, and finally complete retardation."

Meth, also Metamphetamin, eine Aufputschdroge, die die Nervenenden kappt, den Menschen zum gereizten Tier macht, die im Dictionary-Eintrag sarkastisch auf den Punkt gebrachten Nebenwirkungen hat und die den User auf Dauer - sie ist kurz, diese Dauer - unter wahnsinnigen Schmerzen in die Debilität treibt. "Crystal Meth" ist die Droge, die in der Kult-Fernsehserie "Breaking Bad" der krebskranke Chemielehrer Walter H. White in immer größeren Dimensionen und in höchster Qualität produziert (ganz sicher kein "crank"), während bei Amateuren, die sich an der Herstellung versuchen, regelmäßig der ganze Drogenküchen-Schuppen in die Luft fliegt.

Wenn das Wort Teufelszeug für etwas seine Berechtigung hat, dann für Crank. Armut und Verzweiflung müssen schon groß sein, damit einer sich für das bisschen aufgekratzten Genuss das Hirn wegbläst. Darum ist Meth wie jede andere Droge, aber noch prononcierter, immer auch ein Symptom: für den Zustand einer Gesellschaft und ihrer deprivilegiertesten Schichten. In diesen spielt "Winter's Bone". Im amerikanischen Hinterwald, dem Ozark-Gebirgsplateau im tief in Flyoverland gelegenen Staate Missouri. Die Regisseurin mit ihrer lupenreinen Ostküstenbiografie ist hier nicht zuhause, hat sich unter die dort Lebenden für den Dreh eher wie eine Ethnologin unter Fremde begeben, die in Nebenrollen nun im Film mitspielen.

Wer hier zuhause ist, ist der Autor der Vorlage, Daniel Woodrell. Er hat sich im Lauf inzwischen schon einiger Romane beinahe etwas wie ein eigenes Genre erfunden, das er selbst als "country noir" bezeichnet. Das darf man nicht übersehen: "Winter's Bone" ist nicht nur dieser Herkunft nach ein Genrefilm. Wenn einem viele der schattigen bis finsteren Figuren vertraut sind, dann mindestens ebenso sehr aus der Noir-Kriminalliteratur und den angeschlossenen Kino-Subgenres wie aus der Wirklichkeit. Anders gesagt: So sehr einem dieser Film auf den ersten Blick als quasi-ethnologische Studie entgegenzukommen scheint, so sehr ist er doch geformt von einer in einschlägigen Fiktionen vorfigurierten sehr ausgenüchterten Perspektive auf den Menschen, die in ihm in erster Linie einen Abgrund sieht und ein immer schon nahe am Dunkeln (auch in ihm selbst) siedelndes Wesen.



In diese hinterwäldlerische Finsterwelt setzt "Winter's Bone" eine junge blonde Frau als unter diesen Umständen geradezu strahlende Heldin: Ree (Jennifer Lawrence). Sie fällt heraus aus ihrer Umgebung, sie kämpft um ihr und ihrer jüngeren Geschwister Überleben, aber auch um der zerfallenen Familie Restwürde. Der Vater, ein Meth-Koch, ist weg, nicht ohne zuvor noch das Haus als Kaution verpfändet zu haben. Ree, die vom Crank-Konsum geistig umnachtete Mutter, die halbwüchsigen Geschwister, drohen so das Dach über dem Kopf zu verlieren. Mit dem Mut der Verzweiflung macht sich Ree nun auf, das bisschen Familie und Existenz, das sie haben, zu retten. Sie lehrt Bruder und Schwester das Schießen, sie zeigt, wie man Eichhörnchen häutet und die Eingeweide aus ihnen pult. Und sie beharrt auf einem letzten Axiom moralischer Würde: "Bittet niemals um etwas, das euch eigentlich freiwillig angeboten werden müsste."



Als beinahe rechtlos zeichnet der Film die White-Trash-Ozark-Gemeinschaft. Kaum einmal wagt sich die Polizei - "the law", heißt es dann einfach - in diese Randzone vor, in der andere Regeln als die des Rechtsstaats gelten. Hier nehmen Männer das Gesetz in die eigene Hand und vertragen es außerordentlich schlecht, wenn Frauen sich in ihre Angelegenheiten zu mischen beginnen. Genau dies tut jedoch Ree. Sie sucht den Vater, tot oder lebendig, um ihn vor "the law" schleppen zu können, auf dass die Hypothek auf das Haus nicht fällig werde. Eine sehr einfache, klare Geschichte, zugeschnitten ganz auf die Heldin, ihre Selbstbefreiung, ihren rite de passage. Reich wird sie durch geduldige, zwischen Empathie und Distanz die Mitte haltende genaue Beobachtung der Inneneinrichtung dieser Welt. Das Soziale ist dabei als Mikrokosmos von innen mit dem individuellen Befreiungsnarrativ vermittelt, kaum jedoch mit dem größeren Äußeren eines Gesellschaftszustands, der eine - archaisch nur scheinende, in Wahrheit aus angebbaren Gründen sehr zeitgenössische - Welt wie diese hervorgebracht hat.

Außerordentlich trittsicher bewegt sich Granik übers Wurzelwerk der Hinterwäldler-Klischees und malt ohne denunziatorische Gesten ein Southern-Gothic-Amerika für ein Publikum aus, das daran ein im besten Fall ethnografisches Interesse hat. Im schlechteren Fall lässt sich das alles wohl auch als hervorragend gemachte Manufactum-Version einer düsteren Gegenwelt zum Amerikanisch-Urbanen mit leisem Grusel goutieren. Das Gute, was man über "Winter's Bone" sagen kann, ist, dass der Film einem solchen Genuss, weil er klug und filigran gemacht ist und selten ins bloße Klischee überzieht, keinen Vorschub leistet. Man kann aber ebenso konstatieren, dass das Beharren auf dem Geschlossenen dieser Welt für ein Projekt, das so stark von außen her kommt, keineswegs unproblematisch ist.

Ekkehard Knörer

Unter dir die Stadt. Deutschland / Frankreich 2009 - Regie: Christoph Hochhäusler - Darsteller: Robert Hunger-Bühler, Nicolette Krebitz, Mark Waschke, Corinna Kirchhoff, Van-Lam Vissay, Wolfgang Böck, Paul Faßnacht, Oliver Broumis

Winter's Bone. USA 2010 - Regie: Debra Granik - Darsteller: Jennifer Lawrence, John Hawkes, Kevin Breznahan, Dale Dickey, Garret Dillahunt, Sheryl Lee, Lauren Sweetser, Tate Taylor, Isaiah Stone, Ashlee Thompson