Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 6. Tag

Von Ekkehard Knörer, Christoph Mayerl, Anja Seeliger
14.02.2007. Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Yella" zeigt Risse - und einen Minimalismus der Mundwinkel. In Joseph Cedars Wettbewerbsfilm "Beaufort" wird nicht nur eine Festung mürbe gemacht. In "Das Haus der Lerchen" erzählen die Brüder Taviani vom türkischen Völkermord an den Armeniern. Sam Gabarskis "Irina Palm" erobert Marianne Faithfull im Blümchenkittel die Londoner Sex Worlds. Kazuhiro Soda zeigt in "Campaign", wie japanische Politik funktioniert. Frederick Wiseman zeigt in "State Legislature", wie amerikanische Politik funktioniert. Eine Liste aller besprochenen Filme finden Sie hier.
Zerreißt sich zwischen Metaphysik und Materialität: Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Yella"

Eine Frau in Bewegung, mit dem Zug durch den Raum, in der Narration durch die Zeit. Aber etwas stimmt nicht mit Raum und Zeit. Die Frau ist Yella (Nina Hoss), sie lebt in Wittenberge. Ihr Mann Ben (Hinnerk Schönemann) ist gescheitert mit einem Unternehmen, da hat sie ihn verlassen. Er stellt ihr nach, er fängt sie ab auf dem Weg zum Bahnhof, er steuert das Auto, in dem sie sitzen, über die Brücke in die Elbe. Das Auto geht unter in den Fluten, Yella und Ben sind tot. Sie sind nicht tot, sie schleppen sich an Land. Yella schafft es zum Bahnhof, sie nimmt den Zug nach Hannover, wo man ihr einen neuen Job angeboten hat. Auch daraus wird nichts, aber sie lernt Philipp (Devid Striesow) kennen, der Geld verdient als Risikokapitalgeber für Firmen, deren Existenz bedroht ist. Yella kennt sich aus mit Bilanzen, sie haben gemeinsame Auftritte vor Männern, deren letzte Hoffnung sie sind. Etwas stimmt nicht mit den Bilanzen, etwas stimmt nicht mit Philipp, etwas stimmt nicht mit Yella, etwas stimmt nicht mit Raum und Zeit.

"Yella" ist ein Film über Risse, in der Wahrnehmung, in der Wirklichkeit, im Leben seiner Hauptfigur, aber auch durch "Yella", den Film selbst, geht ein Riss. Er ist eine Art doppeltes, gekreuztes, hybrid zusammengesetztes Remake. Den Rahmen der Geschichte nimmt Christian Petzold von Herk Harveys gespenstischem Horrorfilm "Carnival of Souls", das Innere von Harun Farockis Dokumentation "Nicht ohne Risiko". "Carnival of Souls" ist ein Klassiker der Midnight-Movies, eine metaphysische Meditation im Gewand einer billigen Genre-Übung, die auch vor grellen Effekten nicht haltmacht. Harun Farocki dagegen hat in seinem Film streng dokumentarisch die Welt des Risikokapitals untersucht, in der sich die großen Zahlen und die Panik der Existenzbedrohung mischen - und bekanntlich firmiert Farocki, der einer der Lehrer Petzolds an der Filmhochschule war, mal für mal als "dramaturgischer Berater" von dessen Filmen.

Die entscheidende Frage ist denn auch tatsächlich eine auf den ersten Blick dramaturgische: Wie geht das zusammen? Was passiert, wenn man das Horrorgenre mit der Farocki-Dokumentation kreuzt, also Formen des Kinos, die an ziemlich entgegengesetzten Enden des Spektrums liegen? (Wobei man auch wieder nicht übersehen sollte, dass Herk Harvey nur einen einzigen Spielfilm gedreht hat, eben "Carnival of Souls"; der Rest seines umfangreichen Oeuvres besteht aus Lehr- und Industriefilmen. Er nähert sich dem Genre also durchaus selbst schon aus einer der Farockischen nicht unähnlichen Perspektive.) Ist "Yella" mehr Farocki oder mehr Horror? Oder doch reiner Petzold - aber was wäre das? Müsste die Kreuzung des Fremdartigen nicht zu etwas anderem werden, etwas Eigenem, das den Riss als eigenes Gesetz ausstellt und damit zur gelungenen Form macht? Geschieht das in "Yella"? Klingen die vielen Fragen sehr skeptisch? Ich gebe zu, dass mich der Film nicht überzeugt. So konsequent er in der Anlage ist, so unentschieden scheint mir die Ausführung.

Wird an "Yella" etwa endgültig offenbar, dass Christian Petzolds Filme immer schon in streng kadrierte realistische Szenarien eingelassene metaphysische Meditationen sind? Kreuzungen des sozusagen rein Materiellen und des rein Immateriellen? Also Filme, in denen Welten kollidieren, die fürs normale Verständnis nichts miteinander gemein haben? Exemplarisch: Wolfsburg und die Tragödie (in "Wolfsburg"). Einerseits großes Genre-Bewusstsein - Petzold ist ein großer Kenner der Kriminalliteratur wie des Hollywood-Genrefilms -, dies aber immer im Rahmen der von den strengen Materialisten Harun Farocki und Hartmut Bitomsky inspirierten Distanzästhetik der "Berliner Schule", die einen heiligen Horror vor jedem falschen Ton, vor jedem rhetorisch erschlichenen Effekt hat. (Aber ist der erschlichene Effekt nicht gerade das Gesetz des Genres?)

Trifft das zu, dann wäre der Riss, der durch "Yella" geht, einfach die expliziteste Formulierung der Petzold-Ästhetik. Und gewiss ist Nina Hoss, die bereits in "Toter Mann", in "Wolfsburg", die Hauptrolle spielte, eine Wiedergängerin in Petzolds Werk. Einem Werk, das von weiblichen Figuren dominiert ist, denen das Leben unter den Händen zu zerfallen scheint. Die sich an den Rändern jener Selbstverständlichkeit bewegen, die sonst Alltag heißt. Die aus der Welt zu fallen drohen, schweigsam meist, gefährdet und darum gefährlich. Barbara Auer, Nina Hoss, Julia Hummer bei Petzold: Meisterinnen der Mimik am Rande der Ausdruckslosigkeit. Darstellerinnen eines Minimalismus der Mundwinkel, des nicht-expressiven Gangs, der knappen, tonlos fast herausgepressten Worte.

Der Titel von Petzolds letztem Film, "Gespenster", ist beispielhaft, er könnte über allen seinen Filmen der letzten Jahre stehen. Sie könnten ebenso gut "Untote" heißen. Immer geht es um den Rand, den Riss, in der Form, aber zugleich auch thematisch. Insofern passt, dass nur zu gespenstisch auch das ist, was Yella widerfährt. In der seltsam spießigen Welt des Risikokapitals wirkt sie wie eine Erscheinung aus anderen Sphären. Sie kommt aus Ostdeutschland, aber auch die Differenz von Ost und West tritt auf vor allem als Chiffre einer Grenze, die umso spürbarer wird, je weniger sie markiert ist. Yella ist die Frau aus dem Osten, die freilich hier wie da nicht heimisch ist, ja, die das Diesseits und das Jenseits der Grenze, Ost und West, Materialismus und Metaphysik heimsucht, um beides unheimlich zu machen. Sie ist ein Fremdkörper in einer Welt, die unter ihrem Blick, in ihren Händen eine fremde Welt wird.

Aber wie geht es zusammen? Oder fällt der Petzold-Film, den es zum Genre zieht, der aber auf dem Materialismus beharrt, auseinander? An "Yella" stellt sich die Frage drängend wie nie, denn er stellt sie selbst ganz offen. Jedes Bild, bis zum allerletzten, ist in "Yella" ein offenes Bild. Der Status jedes einzelnen Bildes zwischen Realem und Irrealem, zwischen Metaphysik und Materialität, ist irreduzibel unklar. Selbstverständlich mit Absicht. Es bleibt aber doch fraglich, ob damit eine Lösung für den Zwiespalt gefunden ist, der das Kino des Christian Petzold durchzieht. Oder ob nicht eher dieser Zwiespalt als sein großes Problem in "Yella" bisher am offensten zutage liegt. Anders gefragt: Wohin führen die Unklarheiten, die der Film mit Fleiß produziert? Am Ende wird etwas zugedeckt, aber abschließend geklärt wird dadurch nichts.

Ekkehard Knörer

"Yella". Regie: Christian Petzold. Mit Nina Hoss, Devid Striesow, Hinnerk Schönemann u.a. Deutschland, 2007, 89 Minuten. (Wettbewerb)


Auf der nächsten Stufe der Liebe: Sarah Polleys "Away From Her" (Panorama)

Sarah Polley ist gerade 28 Jahre alt geworden. Dass sie einen so stimmigen und beeindruckenden Film über ein Ehepaar drehen konnte, dass länger verheiratet ist als sie auf der Welt, ist ein wenig unheimlich. Dies ist ein Film über Alzheimer, in dem es nicht ums Vergessen geht. Natürlich kann Fiona sich an immer weniger erinnern, legt Pfannen ins Gefrierfach, findet nicht mehr nach Hause oder lässt Töpfe auf dem Herd und geht Langlaufen auf dem See vor dem Haus. Aber das Vergessen wird hier eher mit Humor abgehandelt. "Was sind das für Papiere auf dem Tisch", fragt Fiona ihren Ehemann Grant. Der seufzt und hebt noch einmal an, um zu erklären, dass das der Aufnahmeantrag für das Pflegeheim ist, über den sie die vergangenen Monate immer wieder diskutiert haben, und dass er sich außerstande fühlt, dass für sie zu entscheiden. "Ich habe das doch schon längst entschieden. Erinnerst Du Dich nicht mehr?"

Sarah Polley geht es nicht um Vergessen und Verlust, sondern um das, was man bekommt, wenn man seine Erinnerungen verliert. Wenn man befreit ist von Konventionen und Gewohnheiten, wenn das Korsett des Vergangenen von einem abfällt. Wenn man tatsächlich das tut, was man fühlt. Nach den ersten dreißig Tagen, in denen Grant seine Frau nicht besuchen darf, ist er ihr fremd geworden. Sie erkennt ihn nicht mehr als ihren Mann und nähert sich einem anderen Patienten an. Seine Frau ist damit gestorben, und dennoch hält Grant an ihr fest. Er will etwas wieder gut machen, die Bilanz ihres Ehelebens wieder ausgleichen. Jetzt werden von ihm die alten Rechnungen bezahlt, selbst wenn Fiona davon gar nichts mehr mitbekommt. Alzheimer befreit beide, sie zu einem anderen Mann, und ihn zu einer ungehemmten, weil unerwiderten Liebe.

Das klingt vielleicht kitschig, wird aber von der handwerklich zwar nicht innovativen, aber erstaunlich sicheren Polley mit dem richtigen Gespür für Humor und Pausen zum richtigen Zeitpunkt dargereicht. So gibt es in dem Pflegeheim einen alten Mann, der am Piano immer einen Ton spielt. Polley hält das ungerührt fünf Minuten durch. Oder wenn einer der Patienten, ein ehemaliger Sportkommentator, nicht nur das Eishockeyspiel im Fernsehen, sondern auch seine Behandlung durch die Schwestern mitteilt, als wäre er live auf Sendung. Es geht um das Ende einer Ehe und die nächste Stufe der Liebe. Tief erschrocken ist man allerdings über Polleys Demonstration, wozu jemand in dieser Stufe fähig ist.

Dass dieser Film so stimmig ist, liegt wohl zu einen an den Schauspielern, auf deren zerfurchten Gesichtern Polley ihren Film ablegt und zur Ruhe kommen lässt. Gordon Pinsent muss nur seine Frau beim Bridge mit Aubrey beobachten, und man braucht überhaupt keine Rückblenden mehr, um in seinen Falten, seinen grauen Bart und dem schweren Atem zu spüren, was er in diesem Moment sieht. Der zweite Pfeiler, auf den sich Polleys Werk aufbaut, ist eine Kurzgeschichte von Alice Munro. Polley ist klug genug, ihren beiden Stützen blind zu vertrauen und sich darauf zu beschränken, Bilder zu finden für das, was sie bei ihren Schauspielern und bei Munro schon vorfindet. Dafür muss man zuhören können. Und das kann Polley offenbar schon mit 28 Jahren außerordentlich gut.

Christoph Mayerl


"Away From Her". Regie: Sarah Polley. Mit Julie Christie, Gordon Pinsent, Olympia Dukakis, Michael Murphy, Wendy Crewson. Kanada 2006, 110 Minuten (Panorama)


Zermörsert: Joseph Cedars "Beaufort" (Wettbewerb)


Die Festung mit Namen Beaufort liegt im Libanon und wurde im Jahr 1982 von einem israelischen Kommando besetzt. 18 Jahre später spielt der Film, der die Geschichte der letzten Wochen vor dem beschlossenen Abzug der Truppen erzählt. Eine letzte Frist des Ausharrens, sinnlosen Wartens auf die Rückkehr nach Israel. Sinnlos und tödlich. Die Hisbollah verstärkt ihre Bombenangriffe, um den Rückzug vor der internationalen Öffentlichkeit als Flucht hinstellen zu können.

"Beaufort" gehört zu den Filmen, die einem unter den Augen zerfallen. Erst scheint es, als folge Regisseur Joseph Cedar dem Konzept, die in Ereignislosigkeit und Lebensgefahr recht trennscharf auseinanderfallende Zeit der Soldaten im Fort als eine Art "Das Boot" mit Rennen durch Tunnel zum einen, Gesprächen unter psychischem Hochdruck zum anderen zu inszenieren. Das wäre problematisch, aber immerhin eine Art Idee. Bildästhetisch sorgen Kamerafilter für eine entfärbte, zwischen grau und Erdtönen changierende Atmosphäre. Gebannt folgt man noch der ersten Szene einer hochgefährlichen Bombenentschärfung, die zusätzlich durch einen minimalelektronisch wummernden Soundtrack unter Spannung gesetzt wird.

Recht bald aber kapiert man: Dieser Film hat gar kein Konzept. Zugrunde liegt ihm vielmehr eine zusehends (unfreiwillig) komische Dramaturgie: In ruhigen Momenten werden einzelne Figuren mit klischieehaften Geschichten von Freundinnen und beruflichen Ambitionen individualisiert, um dann beim nächsten Angriff zermörsert zu werden. Erst glaubt man's nicht - aber tatsächlich ist auf genau diesen Ablauf Verlass. Die Sache mit der Sinnlosigkeit der ganzen Angelenheit hat man sowieso gleich begriffen, die nicht so feste Burg Beaufort ist gewiss parabolisch zu verstehen. Der Rest ist leider nicht Schweigen, sondern Geschwätz und Raketenbeschuss.

Ekkehard Knörer

"Beaufort". Regie: Joseph Cedar. Mit Oshri Cohen, Itay Tiran, Eli Eltonyo, Ohand Knoller, Itay Turgeman. Israel 2006, 120 Minuten (Wettbewerb)


Paul Schraders "The Walker" (Wettbewerb, außer Konkurrenz)

Der amerikanische Gigolo ist älter geworden. Seine Liebe zu schicken Anzügen und Krawatten ist geblieben. Aber er lebt nicht mehr in Beverly Hills, sondern in Washington. Er vögelt die reichen Frauen nicht mehr, sondern begleitet sie zu Veranstaltungen der sogenannten Hochkultur. Er ist nicht mehr heterosexuell, sondern schwul. Er heißt jetzt Carter Page III., Sproß einer einflussreichen Südstaatenfamilie, die mit Urgroßvaters Sklavenhandel und Großvaters Tabakanbau zu Geld und mit Vaters politischer Karriere zu Ruhm gekommen ist. Daran gemessen ist Carter Page III. ein Versager, auszumachen scheint ihm das nicht allzu viel. Woody Harrelson spielt ihn mit steifem Körper und beweglichem Geist. Er ist so blasiert, dass er die Konsonanten wegfallen lässt.

Es gibt einen Mord, der aufgeklärt werden muss, aber der ist nur Vorwand, Politiker aller Couleur zu decouvrieren, selbst Vater Page, den angeblich alle verehren, weil er in einem Untersuchungsausschuss zur Watergate-Affäre mitgeholfen hatte, Nixon zu stürzen. "Als mein Vater aus dem politischen Leben ausschied, war er zwanzig Mal reicher als vorher. Was sagt das wohl über ihn aus?" meint Carter Page III. einmal bitter zu seinem Geliebten (den Moritz Bleibtreu spielt). Dagegen ist die Begleitung von Politikergattinnen in die Oper eine ehrenwerte Beschäftigung. "The Walker" ist ein kluger und witziger Film, die Dialoge zwischen Carter, den Damen van Miter (Lauren Bacall), Delorean (Lily Tomlin) und Lockner (Kristin Scott Thomas) flitzen wie Pingpongbälle hin und her. Schade nur, dass Richard Gere nicht die Hauptrolle spielt. Woody Harrelson macht seine Sache gut, aber ihm fehlt die sexuelle und moralische Zweideutigkeit, die Gere als Julian Kaye ausstrahlte. Carter Page III. ist unter seinem blasierten Getue ein sehr netter und guter Mensch. Das ist schön, aber es macht ein bisschen müde.

Anja Seeliger

"The Walker". Regie: Paul Schrader. Mit Woody Harrelson, Kristin Scott Thomas, Lauren Bacall, Moritz Bleibtreu, Lily Tomlin, Willem Dafoe u.a. USA, Großbritannien, 2007, 107 Minuten (Wettbewerb, außer Konkurrenz)


"Das Haus der Lerchen" von den Brüdern Taviani

Die Tavianis haben einen Spielfilm über den türkischen Völkermord an den Armeniern gedreht. Zwischen 1915 und 1917 wurden hunderttausende Armenier getötet und auf Todesmärsche geschickt. Die Tavianis erzählen das am Beispiel der armenischen Familie Avakian, Großgrundbesitzer, die keine freundschaftlichen, aber doch nachbarschaftliche Beziehungen zu den Türken in ihrem Landstrich pflegen. Das endet, als die Regierung die Ermordung der Armenier befiehlt. Das niedergehende Osmanische Reich liegt im Krieg mit Russland und die Armenier, so behauptet ein türkischer Offizier im Film, kollaborieren mit den Russen, damit sie ihren eigenen Staat aufbauen können. Sie seien Lügner und Verräter. "Wenn die Franzosen Frankreich haben und die Italiener Italien, warum sollen wir dann keine Türkei für Türken haben!" ruft er unter heftigem Beifall. Die Armenier sind Fremdkörper, also müssen sie vernichtet werden.

Man kennt das. Die Gründe, die für einen Völkermord angeführt werden, sind wohl immer dieselben. Die Avakians und ihre Angestellten sowie deren Familie fliehen in ein Landhaus, das Haus der Lerchen. Dort werden sie von türkischen Soldaten aufgespürt, die Männer werden getötet, die Frauen auf einen Todesmarsch in die Wüste bei Aleppo geschickt. Die Tavianis ersparen einem nichts. Die Enthauptung des Vaters, die Kastrierung des armenischen Arztes, der Mord am kleinen Sohn der Familie - und später: jede denkbare Erniedrigung der Frauen, Vergewaltigung, Folter.

Die Türken werden in diesem Film nicht pauschal als Unmenschen dargestellt: Da ist der junge Offizier, verliebt in die Tochter des Hauses, der lieber an die Front abhaut, statt ihr zu helfen, als er erfährt, was den Armeniern bevorsteht. Da ist der General, der die Ermordung ganzer Familien verurteilt, ohne ihnen jedoch zu helfen, er kann den Frauen nur ein ordentliches Begräbnis für ihre ermordeten Männer, Söhne und Brüder versprechen. Da ist der junge türkische Offizier (gespielt von Moritz Bleibtreu), ein Bursche vom Land, der seine Rolle als Bewacher der Todeskarawane verabscheut. Und da sind natürlich die Fanatiker und brutalen Soldaten, die einfach Spaß am Foltern und Töten haben. Zur aktiven Hilfe rafft sich jedoch nur der Bettler Nazim auf.

Sollte dieser Film jemals in die türkischen Kinos kommen, hat er vielleicht eine ähnlich kathartische Wirkung wie Marvin J. Chomskys Holocaust-Serie in Deutschland. Er wird ganz sicher nicht die Polizisten beeindrucken, die dem Mörder Hrant Dinks feixend zu seiner Tat gratulierten. Aber vielleicht wird er all die Türken, die das ganze für eine Übertreibung halten, der nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden sollte - "und waren die Armenier nicht auch zum Teil selbst schuld?" - zum Nachdenken bringen. Das wäre viel.

Ich persönlich habe diese Art von Filmen satt, ob sie nun von den Armeniern, dem Holocaust oder japanischen Kriegsgräueln handeln. Ich brauche kein Bild, um mir die Qual eines gefolterten Menschen vorstellen zu können. Es führt mich nicht über die Grenze der Vorstellungskraft hinaus, die auch einem Film gesetzt ist. Je mehr Filme dieser Art auf der Berlinale gezeigt wurden, desto obszöner empfinde ich die Einbettung realer Gräuel in eine Spielfilmhandlung. Statt mitzuempfinden, frage ich mich, wie man einen solchen Film dreht. Nehmen Sie die Folterszenen: ein schreiendes Mädchen wird eingefangen, die Soldaten reißen ihr die Kleider vom Leib, binden sie nackt an einen Baumstumpf, rücken ihr mit Fackeln zu Leibe und enthaupten sie dann. Die Szene spielt im Dämmerlicht. Das Mädchen sieht sehr schön aus, ihr nackter Körper wird nicht ausgestellt, sondern auf geschmackvolle Weise präsentiert. Was ihr geschieht, erfahren wir durch einen Soldaten, ist die übliche Bestrafung für Fluchtversuche. Ich würde gerne einen Film sehen, in dem die Tavianis über die Ausleuchtung und Inszenierung dieser Szene diskutieren - "Pass auf Paolo, die Soldaten müssen sie so und dann so halten, sonst ist ihr Arsch zu lange im Bild"?

So geht es mir dabei: diese Spielfilme bringen mir die Geschichte nicht näher, im Gegenteil. Sie vergrößern die Distanz.

Anja Seeliger


"La masseria delle allodole - Das Haus der Lerchen". Regie: Paolo und Vittorio Taviani. Mit Paz Vega, Moritz Bleibtreu, Alessandro Preziosi, Angela Molina, Tcheky Karyo, Arsinee Khan


Ein bisschen Frieden: Leopold Grüns "Der rote Elvis" (Panorama)


Dean Reed war eine historische Anomalie. Mit ihm hätte sich die DDR getrost als sozialistisch, aber sexy bezeichnen können. Wenn die Propaganda nicht direkt dem recht unkreativen Zentralkomittee unterstellt gewesen wäre. Obwohl er Amerikaner war, fand Reed den Sozialismus ziemlich gut. Und auch wenn er überall in der Welt leben konnte, er wählte die DDR. Er spielte in 20 Filmen mit, brachte 13 LPs heraus und gab Konzerte in 32 Ländern. Er war nicht nur in der DDR ein Superstar, sondern hatte auch in Lateinamerika großen Erfolg. Im Westen kannte Dean Reed kein Mensch, im Osten füllte er mit seinen auf der Gitarre vorgetragenen sozialutopischen Liedern von Frieden und Sozialismus ganze Stadien. Das Aushängeschild des Arbeiter- und Bauernstaates kam aus Denver.

Er reiste viel, glaubte an die Weltrevolution und war befreundet mit Jassir Arafat oder Salvador Allende. Nachdem dieser ermordet worden war, nahm Reed Abschied vom Frieden und rannte eine Weile mit einer Kalaschnikow über der Schulter im Südlibanon herum. Sein Leben war gut dokumentiert, weshalb Leopold Grün bei den zeitgenössischen Aufnahmen aus dem Vollen schöpfen kann. Reed bei Konzerten vor bebenden Mädchen, Reed mit diversen Frauen, Reed im schnellen Motorboot. Aber auch die Auswahl der heutigen Gesprächspartner überzeugt. Von der ersten bis zur letzten Frau, von Egon Krenz bis Armin Mueller-Stahl beleuchtet eine sehr bunte Riege Reeds flamboyante Existenz im Real Existierenden Sozialismus. Die große Bandbreite an Zeugen ist auch dringend notwendig, denn Reed war zwangsläufig leicht schizophren. Er sang Menschen etwas von Freiheit vor, die nicht frei reisen konnten, weil das Regime, dass er stützte, es verbot. Auch Reed fiel das auf. Grün hat zum Glück ein Protokoll der Staatssicherheit aufgetrieben, in dem von Reed die Rede ist, der 1982 bei einer Routinekontrolle auf die Polizisten losging und ihnen nichts weniger als Heuchelei und Faschismus vorwarf.

Reeds Karriere lief sich tot, kritische Sänger wie Wolf Biermann waren in den Achtzigern angesagter als systemkonforme Lautenspieler. 1986 beging Dean Reed unter mysteriösen Umständen Selbstmord. Zu dieser letzten Frage sagt Grün praktisch gar nichts, erklärt aber sehr einleuchtend, wie es dazu kommen konnte. Bis dahin gibt es immer wieder Filmschnipsel von DEFA-Western, und gesungen wird natürlich auch. Wenn die Mädchen begeistert "Venceremos" brüllen und in Wirklichkeit damit nur "Dean, wir werden Kinder haben" meinen, dann wirkt das sehr beruhigend.

Christoph Mayerl

"Der rote Elvis". Regie: Leopold Grün. Deutschland, 2006, 90 Minuten (Panorama Dokumente)



Im Blümchenkittel: Sam Garbarskis "Irina Palm" (Wettbewerb)


Wenn man Maggie, mit einem Riesenteddy vor der Brust, aus der Tür ihrer Wohnung treten, zum Auto wackeln und schließlich mit einem Seufzer in den Beifahrersitz neben ihren Sohn plumpsen sieht, denkt man, Marianne Faithfull wird doch unter der Hand keine Greisin geworden sein. Diese unglaublich tiefe Stimme und ein näherer Blick beruhigen aber: Marianne Faithful ist zwar gealtert, und das in Würde, aber so schnell geht es doch nicht. Außerdem trägt sie einen wirklich ungünstigen Mantel auf dem Körper sowie eine Vokuhila-Variante mit blonden Strähnchen auf dem Kopf. Sie spielt ja auch eine Oma, die für die teure Behandlung ihres schwerkranken Enkels jede Geldquelle anzapft. Als alles misslingt, heuert sie in einem Londoner Nachtklub an und wird zur "wichsenden Witwe".

Sam Garbarskis Film lebt von Kontrasten. Auf der einen Seite Maggie, die schüchterne und ruhige, ehrbare Witwe. Dann ihr Enkel, der im Krankenhaus liegt und sich über ein neues Spielzeugauto freut. Von dort schneidet Garbarski mit Lust am Krawall direkt und ungerührt zu den kreisenden Hüften der Nackttänzerinnen im "Sexy World" in Soho. Eigentlich aber interessiert er sich für die Veränderungen, die die neue Arbeitsstelle in Maggie und in ihrer Umgebung verursacht. Den Job selbst bekommt sie nach einem der ungewöhnlicheren Bewerbungsgespräche in der Filmgeschichte. Der Clubbesitzer Miki fragt sie, ob sie schon einmal einen Mann mit der Hand befriedigt hat. "Nein. Ich meine ja. Es ist schon sehr lange her". Miki schafft es nicht, sie zum Aussprechen des Wortes "Fuck" zu bewegen. Er will sie schon rausschicken, ergreift dann aber ihre Hände. Die sind so weich und zart, und so sitzt sie einen Tag später vor einem Loch in der Wand, durch die die Männer ihr bestes Stück stecken. Der Rest liegt an Maggie und ihren Händen. Lange nach diesem ersten Mal schaut Maggie immer wieder verwundert auf ihre Hände, und der running Gag des Films ist da. In Soho ist ein Talent entdeckt worden, und bald wird Maggie im ganzen Kiez als Irina Palm zum Star.

Marianne Faithfull war schon mal ein Star, und am Anfang stört das auch. Aber ihre Whiskeystimme gehört bald zu Maggie, und auch Faithfulls Gesicht, das schon einiges an Leben gespeichert hat, gibt der Figur eher Glaubwürdigkeit, als dass es von ihr ablenkt. Und Faithfull kann erstaunlich orientierungslos wirken, wenn sie will. Wenn sie aber dann doch einmal die Augenbraue hochzieht und der Mundwinkel sich in einem Anflug von trotzigem Amüsement kräuselt, ist man ob dieser Lebendigkeit gespannt auf die Rollen, die vielleicht mehr als Schüchternheit verlangen.

Amüsant ist, wie Garbarski das Nebeneinander von bürgerlicher Fassade und halbseidenem Entertainment inszeniert. Wobei letzteres als sympathischere Seite dargestellt wird. Maggie verhilft die Arbeit zu einer Befreiung im Kopf, aber sie verhilft der Bürgerlichkeit auch zu einer ästhetischen Reconquista bis tief in die "Sexy World" hinein. Denn Maggie beginnt bald, ihren Arbeitsplatz mit Ölgemälden englischer Landschaftsmaler, Blumentöpfchen und Tupperdosen mit Pausenbroten auszustatten. Je mehr sie sich von ihren falschen Freunden aus der Vorstadt lossagt, desto selbstbewusster tritt sie auch gegenüber dem Clubbesitzer auf.

Maggies Emanzipation ist sehr flott inszeniert und mit einem beruhigend positiven Grundton erzählt. Selbst arge Kalauer wie der "Penisarm", den Maggie von der vielen Arbeit bald bekommt, passen irgendwie dazu. Alle sind am Schluss zufrieden, der Enkel, seine Eltern, Maggie, Miki und auch die Berlinale-Journalisten, die wohl froh waren, endlich mal einen Film gesehen zu haben, der nicht viel mehr sein will als gut gemachte Unterhaltung. So einen lauten Applaus gab es hinterher selten. Nur die Vergnügungsindustrie sollte diesen Film auf ihre schwarze Liste setzen. Wer Maggie dabei gesehen hat, wie sie im Blümchenkittel mit der rechten Hand ihrer Arbeit nachgeht, während sie in der linken eine Frauenzeitschrift hält, der ist als Kunde wohl auf immer und ewig verloren.

Christoph Mayerl

"Irina Palm". Regie: Sam Garbarski. Mit Marianne Faithfull, Miki Manojlovic, Kevin Bishop und anderen. Großbritannien 2006, 103 Minuten (Wettbewerb)


Politik auf Japanisch: Kazuhiro Sodas Dokumentarfilm "Campaign" (Forum)

Der politisch unerfahrene Yamauchi Kazuhiko bewirbt sich als Stadtrat in Kawasaki. Er ist ein so genannter Fallschirmkandidat, wohnt eigentlich in Tokio und hat den Job nur bekommen, weil überraschend ein Sitz frei geworden ist und auf die Schnelle niemand sonst zur Verfügung steht. Die Kampagne ist kaum vorbereitet, mit anderen Worten chaotisch. Ebenso spontan hat sich Kazuhiro Soda (Bild) entschlossen, einen Dokumentarfilm über den Wahlkampf des Studienfreundes zu drehen. Die mangelnde Vorbereitung tut dem Film aber gut. Die Kamera ist immer nah an der Person, nichts ist inszeniert, sogar die inszenierten Auftritte des Kandidaten sind jedes beabsichtigen Glamours beraubt. Soda reicht es oft schon, das Geschehen erst ganz nah zu verfolgen, um dann herauszuzoomen.

Der Kandidat wirkt plötzlich ganz klein und verloren, wenn er an einer Straßenecke neben seinen zwei Plakaten steht und mit einem Megafon bewaffnet immer wieder seinen Namen in die Nachbarschaft hinausschreit. Man glaubt dann, einem sehr postmodernen Performancekünstler bei der Offenbarung der Sinnlosigkeit des Daseins zuzusehen. Überhaupt wird viel geschrien in dem Film. Am Anfang noch die drei Programmpunkte, die Kazuhiko zunächst gar nicht parat hat. Aber er lernt schnell. Zum Beispiel, dass ein Programm gar nicht so entscheidend ist. Hauptsache auffallen. Und so schreit Kazuhiko auf der Schlusstour durch den Bezirk, dem manischen Höhepunkt des Films, nur noch seinen Namen aus dem Autofenster heraus, immer wieder, und Soda bleibt so lange dran, bis das Ganze durch die Repetition dadaistische Qualitäten bekommt. Ja, denkt man, so funktioniert Politik, das ist die Botschaft: Ich bin hier und will gewählt werden. Und wer von den Kandidaten das am dringendsten möchte, verdient den Sitz im Stadtparlament.

Kazuhiko lernt außerdem, beim Händeschütteln Augenkontakt herzustellen, minutenlang zu lächeln, ohne dass der Mund verkrampft und vor allem den Parteikollegen immer mit einem "Hai" und einer Verbeugung zu begegnen, ob sie ihn beleidigen, anweisen oder ausschimpfen wie einen kleinen Jungen. Ohne die Patronage durch eine große Partei ist ein Wahlkampf in Japan unmöglich, und so ist Kazuhiko der LPD völlig ausgeliefert. Seine Frau auch, die er nicht mehr "tsuma" (Ehefrau) nennen soll, sondern lieber "kanai" (Hausfrau), weil das solider wirkt. Am Ende, nach einem knappen Sieg, bedankt sich Kazuhiko zuerst bei der Partei für die Unterstützung und sagt, jetzt sei die Zeit angebrochen, seine Schuld zurückzubezahlen. Unabhängige Kandidaten sehen anders aus. Kazuhiro Sodas Verdienst ist es, das alles ungeschminkt zu zeigen, ohne seinen Freund bloßzustellen oder zu verraten. Dass die LPD im Laufe ihrer fast ununterbrochenen Dominanz in der japanischen Demokratie selbst zu einer feudalistischen Triade geworden ist, die mittels persönlicher Loyalität und über Lehen auf Zeit funktioniert, glaubt man nach diesem Film sofort.

Christoph Mayerl

"Senkyo - Campaign". Dokumentarfilm. Regie: Kazuhiro Soda. USA, Japan, 2007, 120 Minuten (Forum)



Politik auf Amerikanisch: Frederick Wisemans Dokumentarfilm "State Legislature" (Forum)

In der ersten Szene erklärt ein Politiker einer Schulklasse, wie die Politik im Staate Idaho funktioniert. Wir erfahren, dass alle Politiker nur einmal im Jahr für ein paar Monate Politik machen. Den Rest der Zeit kehren sie zurück in ein gewöhnliches Berufsleben - der Mann, der spricht, ist Rancher. Schlagen Sie das Telefonbuch auf, sagt er, nehmen sie die ersten 105 Namen: das sind im Prinzip wir. Die Menschen, die der Film im folgenden zeigt, sind keine Berufspolitiker. Vielleicht auch deshalb nehmen sie ihren Auftrag, als Auftrag der Repräsentation, sehr ernst. In beinahe jeder Szene, in beinahe jedem Beitrag in Parlamentsdebatten und Ausschusssitzungen wird deutlich, dass sie durchdrungen sind vom Pathos dieser demokratischen Grundfigur der Vertretung. Diese Menschen zeigt Frederick Wisemans Film "State Legislature", an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit.

Genauer gesagt: Boise, Idaho. Die Legislative. Dreieinhalb Stunden. Man sieht Menschen zu, die Politik machen, weil Frederick Wisemans Kamera Menschen zugesehen hat, die Politik machen. Fast niemals verlässt der Film das Kapitol von Idaho. Ein paar Mal, so im ersten Bild, sieht man das Gebäude von außen, später spiegelt es sich in einem Glasbau in der Nachbarschaft. Der Rest sind Räume, in denen Menschen sitzen, Gänge des Kapitols, durch die sich Bürger bewegen, in denen Lobbyisten Werbung treiben für dies und das. All diese Impressionen aber fügen sich zum passgenauen Puzzle, am Ende hat man ein Bild.

Wiseman lässt sich nicht ablenken, Abschweifungen sind ihm fremd. Sein Werk, das inzwischen fast vierzig Dokumentarfilme umfasst, ist nicht weniger als das womöglich umfassendste Porträt Amerikas der letzten Jahrzehnte. Mit Geduld und genauem Blick nähert sich Wiseman - vor allem - amerikanischen Institutionen, von der High School ("High School", 1968) zum Militär ("Basic Training", 1971), vom Sozialamt ("Welfare", 1975) zum Madison Square Garden ("The Garden", 2005 - dies der einzige Fall, in dem die Porträtierten die Freigabe des Films verweigert haben). Schon die Titel der Filme verweisen auf das Interesse am aus der Konkretion des Dokumentierten gewonnenen Abstrakten. Abstraktion - und das heißt durchaus beinahe soziologische Analyse von Institutionen - ergibt sich für Wiseman nicht aus dem Absehen von den Einzelheiten der Wirklichkeit, sondern aus einer sehr spezifischen, nämlich geduldigen und konzentrierten Hinsicht auf genau diese scheinbar bedeutunglosen, nebensächlichen Dinge. Dabei sind alle seine Filme genauestens komponiert, Montagekunstwerke, die freilich gerade durch das Verbergen der eigenen Kunst die Wirklichkeit sichtbar machen.

In "State Legislature" geht es um nicht weniger als die Idee und Praxis des amerikanischen politischen Systems und die Einsicht, dass auch - oder gerade - auf der semiprofessionellen Bundesstaats-Ebene beides untrennbar miteinander verbunden ist. Die Politiker, die man sieht, sind - und werden durch Wisemans Blick und Montage - Verkörperungen dieser unauflöslichen Verschränkung von Praxis und Idee.

Der allgegenwärtige Rückbezug auf die Gründungsväter der Verfassung, der selbst im extrem konservativen Idaho stets präsente Widerstreit zwischen den Prinzpien von Freiheit und Lenkung, all das bestimmt das Debattieren, das Entscheiden, das Tun und Lassen in ihren elementarsten Einheiten. Und selbst wenn man viele, vielleicht die meisten der oft reaktionären Positionen und Einstellungen der Politakteure in der Legislative des Staates Idaho nicht teilt: "State Legislature" lehrt einen an vielen aufs Ganze gesehen ganz unbedeutenden Beispielen zu verstehen, was nicht nur diesen einen Staat Idaho, sondern tatsächlich die Vereinigten Staaten als politische Einheit im Innersten zusammenhält. Nicht zuletzt nämlich die Idee, dass Verfahren bereit stehen müssen, die möglichst jedem Gehör verschaffen in den Dingen, die ihn angehen. Die Größe dieser Idee zeigt sich in der Kleinarbeit. "State Legislature" führt diese Kleinarbeit vor Augen. Und der Europäer staunt und sieht.

Ekkehard Knörer

"State Legislature". Dokumentarfilm. Regie: Frederick Wiseman. USA, 2007, 217 Minuten (Forum)



Immer wieder geht etwas kaputt: Jeff Nichols' "Shotgun Stories" (Forum)

"Ich habe keinen Truck, und ich habe kein Haus." Deshalb zweifelt Kid, ob er seiner Freundin einen Antrag machen kann. Denn auf das Auto und das Eigentum kommt es an im Leben zwischen den riesigen Baumwollfeldern im Süden der USA. Ob man ein guter Ehemann sein kann, ist Kid aus Mangel an Vorbildern ebenfalls nicht klar. "Ein Leben ist eine lange Zeit nur für zwei Menschen." Der ältere Bruder Son, den gerade seine Frau verlassen hat, versucht Kid im vermüllten Garten seines Hauses weißzumachen, woran er selbst so gern glauben will: dass die Liebe alles von selbst regelt. Er erwähnt nicht, dass das für den Hass ebenso gilt. Ein paar Filmminuten später ist Kid tot, nach einer kurzen Explosion der Gewalt.

Vom Kampf sehen wir nur den Beginn. Dann wird ein Messer aus einem Stiefel gezogen, und das nächste Bild zeigt schon den schwach beleuchteten Krankenhausflur, an dessen jeweiligem Ende die übrig gebliebenen Brüder zweier Familien sich anstarren. Hier geht es nicht um die Exekution der Gewalt, es geht nicht um Schusswechsel, Autoverfolgungsjadgen und Kampfesmut. Jeff Nichols verlegt die Energie seines Films in die Zeit vor dem Ausbruch, in die sich hilflos verhärtenden Gesichter seiner Protagonisten, der Halbbrüder aus zwei verfeindeten Familien. Alles beginnt, als Kid, Son und Boy auf der Beerdigung ihres Vaters auftauchen, der eine zweite Familie gründete, nachdem er sie verlassen hatte. Son spuckt auf den Sarg, und der Krieg ist eröffnet. Äußerlich bleibt alles ruhig, doch in den Köpfen hat sich die Spirale aus Schlag und Gegenschlag in Gang gesetzt, deren inhärente Logik auch der Zuschauer akzeptieren muss. Das bewirkt die Kamera, die keinen Ausweg lässt. Sie bleibt nah bei den Figuren, und wenn es einmal in die Halbtotale geht, ist der Ausschnitt immer begrenzt, von Zimmerwänden, Traktoren oder einem Pickup.

Jeff Nichols (Bild) erzählt seine Geschichte sehr effizient, mit Hilfe von Bildern und Symbolen, die das Ungesagte und Unverhandelte zum eigentlichen Inhalt des Films machen und den zugrunde liegenden Konflikt der Mutter mit dem Vater zu einer Tatsache, mit der man fertig werden muss, die man aber nicht ändern kann. Kid, Son und Boy sind Rollennamen, die eine eigene Entscheidung und Entwicklung verhindern. Boy und Kid sind obdachlos, und leben in ihrem Van oder im Zelt. Immer wird etwas repartiert, ob Stereoanlage oder Fischteichpumpe, und immer wieder geht etwas kaputt oder verstopft. Und so staut sich das an, was nicht abfließen kann. Dabei sind Nichols Figuren keine Freaks, nicht mal Kämpfer. Sie sehen nur ungläubig dabei zu, wie der Hass in ihnen aufsteigt. Einige reflektieren das, allen voran Son, mit einer überwältigenden Kombination von äußerer Verlangsamung und innerem Hochdruck von Michael Shannon dargestellt, aber gerade er ist es, der die Eskalation zu ihrer letzten Stufe treibt. Das alles überhaupt nicht pathetisch oder übertrieben, sondern erschreckend lakonisch und passgenau eingebettet in ein Leben in der vergessenen Provinz, wo vom amerikanischen Heilsversprechen nur die Pflicht übrig geblieben ist , mit seinen Problemen gefälligst alleine fertig zu werden.

Christoph Mayerl

"Shotgun Stories". Regie: Jeff Nichols. Mit Michael Shannon, Douglas Ligon, Barlow Jacobs, Natalie Canderday, G. Alan Wilkins und anderen. USA 2007, 92 Minuten (Forum)


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