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Miguel de Cervantes zählt neben Homer, Dante, Shakespeare und Goethe zu den fünf Großen der europäischen Literatur. Mit seinem Don Quijote hat er den modernen Roman erfunden und eine der herrlichsten Figuren der Weltliteratur geschaffen. Uwe Neumahrs neue Biografie blättert den Kosmos von Cervantes' Werk auf und erzählt das abenteuerliche Leben des Dichters, das selbst einem Roman gleicht. Mit 22 Jahren musste Cervantes (1547-1616) nach einem Duell aus Spanien fliehen. In der Seeschlacht von Lepanto zeichnete er sich durch Tapferkeit aus, doch seine linke Hand wurde zerschmettert. Er geriet in…mehr

Produktbeschreibung
Miguel de Cervantes zählt neben Homer, Dante, Shakespeare und Goethe zu den fünf Großen der europäischen Literatur. Mit seinem Don Quijote hat er den modernen Roman erfunden und eine der herrlichsten Figuren der Weltliteratur geschaffen. Uwe Neumahrs neue Biografie blättert den Kosmos von Cervantes' Werk auf und erzählt das abenteuerliche Leben des Dichters, das selbst einem Roman gleicht.
Mit 22 Jahren musste Cervantes (1547-1616) nach einem Duell aus Spanien fliehen. In der Seeschlacht von Lepanto zeichnete er sich durch Tapferkeit aus, doch seine linke Hand wurde zerschmettert. Er geriet in die Fänge von algerischen Piraten, versuchte viermal zu fliehen und wurde erst nach fünf Jahren Gefangenschaft losgekauft. Zurück in Spanien war er als Nachrichtenagent für König Philipp II. tätig, wurde des Mordes bezichtigt, kam erneut ins Gefängnis und wurde zweimal von der Kirche exkommuniziert. Den Don Quijote begann er im Gefängnis von Sevilla. Neben seinem weltberühmten Roman hat er mit seinen Novellen dieser Gattung zu ihrem Platz in der hohen Literatur verholfen. Uwe Neumahrs exzellente Biografie erschließt Leben und Werk von Cervantes in ihren historischen und literarischen Kontexten. Zugleich zeigt sie, wie Cervantes' Werke durch ihre überzeitlichen Themen bis heute lebendig sind.
Autorenporträt
Uwe Neumahr ist promovierter Romanist und Germanist und hat vor allem zur Kulturgeschichte der spanischen und italienischen Renaissance geforscht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015

Gewalt ist die Schule der Wirklichkeit

Staunen, Rührung, Wahn: Uwe Neumahr erzählt so anschaulich das Leben von Miguel de Cervantes, dass der Abenteurergeist durch die Epochen weht.

Von Paul Ingendaay

Hier will einer etwas beweisen, denkt man, wenn Uwe Neumahr seine Cervantes-Biographie mit den Auslassungen und mutmaßlich blinden Flecken der Cervantes-Forschung einsetzen lässt. Und so erzählt er uns gleich von Cervantes' Großvater Juan, über den endlich die ganze Wahrheit ans Licht solle, nämlich zu seiner Tätigkeit als Anwalt und Finanzbeamter der Inquisition. "Dass er selbst oft skrupellos war", schreibt Neumahr, "beweist sein aktenkundiges Fehlverhalten in zahlreichen Fällen. Juan de Cervantes' Sündenregister in späteren Jahren reicht von Amtsmissbrauch, Unterschlagung, illegalen Festnahmen bis hin zu Folterungen. Zwar ist durchaus möglich, dass manche Anschuldigungen keine reale Grundlage hatten, da die Gerichtsbarkeit auf lokaler Ebene oft korrupt war und Diffamierungen täglich vorkamen. Doch die schiere Quantität der Vorwürfe lässt vermuten, dass sich Juan de Cervantes in seinen verschiedenen Ämtern tatsächlich fragwürdig verhielt."

Was einem zunächst wie die fällige Korrektur allzu frommer spanischer Biographien vorkommen mag, wird unversehens zum Exempel der Haltung des Biographen: der Wahrheit über den Schöpfer des "Don Quijote" so nahe wie möglich zu kommen, ohne die Unzuverlässigkeit der Überlieferung aus den Augen zu verlieren. Daher wird der Autor vorsichtiger, je mehr Material er vor dem Leser aufblättert. Der Großvater des Schriftstellers mag gefoltert oder Folterungen angeordnet haben - mehr als "fragwürdig" will Neumahr sein Verhalten nicht nennen, weil er es nicht genauer weiß und nicht mit moralischer Empörung beeindrucken will. Die Episode ist schnell abgearbeitet, und Juan de Cervantes taucht im Lauf des Buches nie wieder auf. Aber einem Biographen, der so formuliert, darf man trauen.

Miguel de Cervantes Saavedra, geboren 1547 in Alcalá de Henares, gestorben 1616 in Madrid, war ein "spanischer Soldat, Romanschriftsteller, Dichter und Bühnenautor", wie die spanische Wikipedia so charmant formuliert, und seine Karriere könnte man tatsächlich das "wilde Leben" nennen, das der Untertitel der Biographie verspricht. Ein großer Teil seiner Existenz war improvisiert, voller Missgeschicke und Verzweiflungstaten, und über die meisten Lebensjahre hinweg ist kaum erkennbar, dass man es mit einem genialen Schriftsteller zu tun hat. Dazu gehören natürlich auch seine Zeit als Soldat des Königreichs Spanien und seine Teilnahme an der Seeschlacht von Lepanto, bei der eine türkische Kugel dem Vierundzwanzigjährigen die linke Hand zerschmetterte; und erst recht seine langjährige Haft bei Berberkorsaren in Algier und die vier vereitelten Fluchtversuche, die weniger zähe Männer gebrochen hätten.

Man weiß nicht, wo und in welcher Funktion Cervantes bei der Schlacht bei Lepanto im Golf von Patras gekämpft hat; das Ganze war ein Gemetzel apokalyptischen Ausmaßes, das insgesamt mehr als 40 000 Tote hinterließ. Aber dass er tapfer, ehrenhaft und verantwortungsbewusst war, daran lassen die Quellen keinen Zweifel. Auch in der späteren Haftzeit, die er in Schauspielen wie "Sklave in Algier" verarbeitete, muss er sich durchweg nobel verhalten haben. Schwieriger wird es, die Ehe zu seiner Frau Catalina einzuschätzen, weil über das Zusammenleben der beiden kaum Dokumente vorliegen. Sicher ist, dass sie nicht allzu viel Zeit miteinander verbrachten. Uwe Neumahr erzählt das nicht herunter, sondern malt das Bild einer Epoche, streift Alltags- und Militärgeschichte, Urbanistik, Soziologie. Angetippt werden auch die neuesten Trends der Cervantes-Biographik: War der Mann ein Stotterer? War er möglicherweise schwul?

Unbestritten ist: Cervantes' Mutter hat sich ins Zeug gelegt und vor den Behörden eifrig gelogen, um ihren Sohn mit Geld aus der nordafrikanischen Haft freizukaufen. Seine Schwestern - mit Ausnahme von einer - angelten sich derweil vielversprechende Liebhaber, von welchen sie dann mit unschöner Regelmäßigkeit sitzengelassen wurden, zu schweigen von ausbleibenden Geldzahlungen, die im sechzehnten Jahrhundert zur schmerzlosen Abwicklung vorehelicher Liebesaffären zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen gehörten. Geld fehlte bei der Familie Cervantes also immer. Auch die späteren Hoffnungen des Schriftstellers auf reiche Gönner, die er in seinen Widmungstexten hochleben ließ, erfüllten sich nicht. Lope der Vega mit seinen unzähligen Dramen beherrschte die Theaterbühne - Cervantes dagegen war ein kleines Licht und für Buchhändler keine lukrative Investition.

Es gibt keine verlässlichen Bildporträts von Cervantes, so wenig wie von Shakespeare, kaum verwunderlich in einer Epoche, in der die Unberühmten kaum Spuren hinterließen. Dafür haben wir einige Schilderungen aus seiner Feder, die viel über ihn sagen. "Der Mann, den ihr hier seht", schreibt er etwa in der berühmten Vorrede zu den "Exemplarischen Novellen", "mit dem langen, schmalen Gesicht, dem kastanienbraunen Haar, der glatten, hohen Stirn, den munteren Augen und der wenn auch krummen, so doch wohlproportionierten Nase, den silberweißen Barthaaren, die vor kaum zwanzig Jahren noch golden waren, dem Knebelbart, dem kleinen Mund, den nicht zu großen und nicht zu kleinen Zähnen - er hat deren nur noch sechs in argem Zustand und noch schlechterer Anordnung, stehen sie doch zueinander in keinerlei Beziehung -, dieser Mann mittleren Wuchses, weder zu groß noch zu klein, mit einer frischen, eher hellen als dunklen Hautfarbe, mit dem leicht gekrümmten Rücken und nicht sonderlich gut zu Fuß: Dies also, sage ich, sind die körperlichen Merkmale des Verfassers der Galatea und des Don Quijote de la Mancha . . . Er war viele Jahre Soldat und fünfeinhalb Jahre Häftling, wodurch er lernte, in Anfechtungen Geduld zu üben."

Natürlich bezaubert uns daran die Beschreibung der Zähne, die sanfte Selbstironie, die sich wie ein freundlicher Schimmer über das allgemeine Selbstbewusstsein eines Mannes legt, dem niemand etwas vormachen konnte. Es ist derselbe Geist, aus dem auch die fürchterliche Dresche geschildert wird, die Don Quijote und Sancho bei ihren Zusammenstößen mit der Realität beziehen. Gewalt ist die Schule der Wirklichkeit: Das ist der überwältigende Eindruck, den die Karriere dieses nie aufsteckenden Überlebenden vermittelt, und einen entsprechenden Charakter gab er auch seinem alten Ritter auf dem klapperigen Gaul Rocinante mit. Deswegen ist der "Don Quijote", erschienen in zwei Teilen 1605 und 1615, nur als literarische Summe eines alten Mannes denkbar.

Man kann Nichtleser fürs Nichtlesen schlecht an den Ohren ziehen, aber genau das tut Uwe Neumahr am Ende seiner klugen, maßvollen Biographie. Und er hat ja recht, es gibt bis heute keine vernünftige deutsche Cervantes-Gesamtausgabe, nur Susanne Langes wunderbare neue Übersetzung des "Don Quijote". Man sollte auch die herrlichen "Exemplarischen Novellen" wiederlesen, die unbekannter sind, als sie es verdienen. Und warum schließlich Theatermacher sich mit Cervantes' dramatischer Produktion so gar nicht befassen und damit das Verdammungsurteil fortschreiben, das der unaufgeführte Autor schon zu Lebzeiten erlitt, wo doch jede Art von Bearbeitung, Adaption oder Verhunzung auf deutschen Bühnen nicht nur erlaubt, sondern sogar willkommen wäre, ist in der Tat ein Rätsel. Aber es bleibt dabei, der "Don Quijote" überstrahlt sämtliche Nebenwerke und wirft sein gleißendes Licht durch die Jahrhunderte, als gäbe es keine Geschichte. Alles, wirklich alles aus Spaniens Goldenem Zeitalter ist von kulturhistorischen Details angestaubt, also erklärungsbedürftig - nur dieser Roman nicht.

Im 74. Kapitel des zweiten Teils fühlt der Ritter von der edlen Gestalt das Ende nahen und ruft nach einem Schlummer aus: ",Beglückwünscht mich, brave Herren, denn ich bin nicht mehr Don Quijote von der Mancha, sondern Alonso Quijano, der sich durch seine Wesensart den Beinamen ,der Gute' erwarb.'" Nun, da die Verstandestrübung durch Ritterbücher allem Augenschein nach vorbei ist, verharren aber die anderen in der liebgewordenen Verrücktheit und wollen die Welt der Fiktionen, die der sonderbare Alte für sie geschaffen hat, nicht verlassen. Den "Inbegriff des Literaturromans" hat Werner Krauss das Werk genannt: "Die Macht der Literatur ist das Grundphänomen, auf das der ganze Roman gegründet ist." Es wirkt tatsächlich ansteckend. Einer verwandelt sein Leben durch die Kraft der Phantasie in etwas anderes und verändert damit die Welt für immer: weil er die Möglichkeiten ihrer Deutung auf den Kopf stellt.

Das "Andere" dieses spanischen Romans, über das Bibliotheken geschrieben wurden, ist voller Schrulligkeiten, voller Staunen, Blödsinn, Rührung und Wahn. Eine der bezauberndsten Illustrationen von Gustave Doré zeigt den Ritter und seinen Knappen auf einem großen Holzpferd, das auf der Höhe der Gestirne durch die Luft stürmt: Auch das sind wir, heißt die Radierung. Nicht immer. Viel zu selten. Aber manchmal eben doch.

Uwe Neumahr: "Miguel de Cervantes". Ein wildes Leben". Biographie.

Verlag C. H. Beck, München 2015. 394 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Eberhard Geisler geht in seiner gelehrten Besprechung hart mit der äußerst ambitionierten und pünktlich zum 400. Todestag erschienenen Biografie des großen Cervantes ins Gericht. Zwar würdigt der Kritiker durchaus das Verdienst des Romanisten, neu entdeckte Dokumente über das Leben des Dichters, sogar bisher unbekannte Texte einzuarbeiten. Geisler lobt auch Neumahrs lebendigen Erzählton und die Entstehungsgeschichte der Werke. Dem Umgang des Autors mit den relevanten Interpretationen der Werke kann der Kritiker aber nur wenig abgewinnen: Schlegels Verdienst um Cervantes scheint Neumahr gänzlich zu entfallen und den Roman "Die Mühen von Persiles und Sigismunda" missinterpretiert er leider vollkommen, klagt der Rezensent, der den Mehrwert dieses Buches mit Blick auf die Deutungen als sehr gering einschätzt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2016

Wunder und Witz der Welt
Vor vierhundert Jahren, am 23. April 1616, starb Spaniens großer Dichter, der Menschengeschichtenerfinder
Miguel de Cervantes. Er lebte in einer Zeit der Wirren und Glaubenskämpfe
VON REINHARD J. BREMBECK
Überrascht blickt der Maler hinter seiner Leinwand hervor, über die mitten im Raum liegende Hermaphroditin hinweg zu einem frustriert vorbeireitenden Ritter. Ist das, so scheint der Blick des Malers zu fragen, etwa Don Quijote, wie er nach seiner finalen Niederlage am Strand von Barcelona betrübt nach Hause trottet? Um Cervantes und damit Spanien zu verstehen, empfiehlt sich ein Besuch in dem mit raffiniertem Witz gehängten Zentralsaal des Prado in Madrid, der dem Maler Diego Velázquez und damit dem Künstlerzwilling des Schriftstellers gewidmet ist. Denn hier finden sich alle Motive, Geschichten, Verwerfungen und Hoffnungen, die das Werk des berühmtesten spanischen Literaten bestimmen.
  Cervantes starb am 23. April vor 400 Jahren. Das ist zumindest dem Anschein nach der gleiche Tag, an dem auch William Shakespeare starb. Doch der Schein trügt wie so oft bei Cervantes, und der Grund dafür liegt in den schon damals mit brutaler Gewalt ausgetragenen Glaubensdifferenzen. So hatten die Spanier als gute Katholiken bereits 1582 den von Rom propagierten neumodischen gregorianischen Kalender eingeführt, die protestantischen Engländer ließen sich dazu erst 1752 herab und hinkten daher lange der Zeit hinterher: Als Shakespeare am 23. April starb, war Cervantes bereits zehn Tage tot.
  Erst in den letzten Lebensjahren von Cervantes erschien ein Großteil seiner wenigen Werke: 1613 die zwölf „Exemplarischen Novellen“, 1614 die gereimte Literaturtheorie „Reise zum Parnass“, 1615 die je acht „Schauspiele & Zwischenspiele“ sowie der zweite Teil des „Don Quixote“ – so schreibt sich der Ritter 1605 auf dem Titelblatt des ersten Bandes. Posthum kommt dann 1617 der „Persiles“ heraus, sein dritter und letzter Roman, den er ein paar Tage vor seinem Tod fertigstellte.
  Im Gegensatz zu Lope de Vega, seinem größten Konkurrenten auf dem geliebten Theater, verweigerte sich Cervantes jeder Wiederholung. Seine Werke sollten als exemplarisch gelten, die Novellen führen das Adjektiv im Titel. Diese Werke sind allesamt Meisterwerke, sie machen mehr als drei Viertel des nur knapp 4000 Seiten umfassenden Gesamtwerks aus. Das in Deutschland fast so unbekannt ist wie das von Irrfahrten gezeichnete Leben seines Urhebers. Selbst der „Don Quijote“ wird nur wenig gelesen. Und das trotz grandioser Übersetzungen wie der klassisch romantischen von Ludwig Tieck, der nüchtern genaueren von Ludwig Braunfels und der vorzüglich heutigen von Susanne Lange. Dabei ist der zweite Band mit der dritten Ausfahrt Quijotes und Sanchos ein Musterbeispiel postmoderner Intertextualität. Treffen die beiden doch immer wieder auf Menschen, die bereits von ihnen gelesen haben. Im besten Falle den ersten Band des Cervantes, im schlimmeren die nicht autorisierte und platte Fortsetzung durch einen unter dem Pseudonym Avellaneda schreibenden Autor, den Quijote stets mit Spott und Zorn überzieht.
  Einen vollständigen deutschen und sogar lesbaren Cervantes legte Anton Rothbauer vor fünfzig Jahren vor, die Ausgabe ist vergriffen. Zum Jubiläum ist jetzt eine Biografie von Uwe Neumahr erschienen, die die kargen Fakten zusammenträgt und sie mit dem Werk kurzschließt. Und die Andere Bibliothek hat eine Neuübertragung des „Persiles“ vorgelegt, eines seit der Romantik kaum mehr gelesenen Werkes, das der geniale Gegenentwurf zum „Quijote“ ist. Während der in die Moderne transponierte Ritterroman eine Männerfreundschaft erzählt, mit einer Vorliebe fürs kastilisch Ländliche und das arme Unterschichtendasein, für Parodie und Humor, ist der Nachfolgeroman eine zwar kaum vom Witz angekränkelte, dennoch spannende Liebesgeschichte in Adelskreisen, die Nordeuropa und das Meer ins Zentrum stellt.
  Typisch für all seine Werke ist, dass Cervantes keine Nebenfiguren kennt. Jede und jeder, den er auftreten lässt, darf stets seine Lebensgeschichte erzählen. Deshalb kommt die Handlung nie flott vom Fleck weg, der Leser aber, den zu umgarnen Cervantes stets mit neuen und oft auch an Ort und Stelle diskutierten Erzähltricks versucht, begegnet so immer neuen Welten. Zudem lässt der Menschengeschichtenerfinder Cervantes selbst in den kürzesten Texten sein immer umfangreiches Personal vielsprachig die verschiedensten Lebensanschauungen, Moral- und Religionsvorstellungen entwickeln, ohne dass wie bei Calderón ein Urteil gefällt würde. Diese Toleranz und Humanität ist in der spanischen Literatur selten.
  Der Ritter, der im Prado an der Sala Velázquez vorbeireitet, ist niemand anderes als Karl V., von Tizian gemalt. Das Porträt zeigt, stolz, aber wenig euphorisch, den Kaiser vor Mühlberg, wo er die entscheidende Schlacht gegen die im Schmalkaldischen Bund organisierten Protestanten gewann. Das war 1547, Cervantes wurde da unweit von Madrid in dem noch heute verschlafen dörflichen Alcalá de Henares geboren, dem Sitz der ersten Universität Spaniens. Nach Mühlberg folgten jahrzehntelange Glaubenskriege für die Spanier, die sich bald mit den Osmanen, den Niederländern und den Engländern herumschlagen mussten. All das hat Spuren in Leben und Werk des Dichters hinterlassen. Im Kampf gegen die Osmanen wurde ihm in der Seeschlacht von Lepanto der linke Arm verstümmelt. Später war er, der oft nichtliterarischen Brotberufen nachgehen musste, als Proviantbeschaffer für die Armada tätig und machte sich derart verhasst, dass er ins Gefängnis kam.
  Und das Meer wurde Cervantes ein zweites Mal zum Verhängnis, als er 1575 von muslimischen Piraten überfallen und nach Algier verschleppt wurde. Bevor er freikam, verbrachte er fünf Jahre als „Sklave in Algier“. Das gleichnamige Stück erzählt wie so viele seiner Texte, den „Quijote“ nicht ausgenommen, vom Schicksal der dort bis zu 25 000 gefangenen Christen. Doch auch wenn Cervantes vom Ohrabschneiden, Pfählen und Totpeitschen erzählt, so sind die Muslime ganz genau so wie die Spanier. Manche sind grausam oder strohdumm oder geldgierig, manche Menschenfreunde. Und die von beiden Religionen verdammten Liebschaften zwischen Christen und Muslimen sind an der Tagesordnung. Mancher Muslim vergafft sich in einen Christenknaben.
  Cervantes war noch ein Kind, als 1552 mit dem „Lazarillo de Tormes“ einer der größten Klassiker der spanischen Literatur erschien, die derb grotesk komische Lebensgeschichte eines „Picaro“. Dieses Wort lässt sich nicht übersetzen, es meint einen Unterschichtler, der sich mit allen nur erdenklichen Tricks und einem unverwüstlichen Optimismus gegen Hunger, Ausbeutung, Brutalität und Ungerechtigkeit behauptet.
  Picaros finden sich bei Cervantes zuhauf, auch Sancho ist einer. Der Verwandte des Picaro im Theater ist der „Gracioso“. Immer wieder nimmt ihn Cervantes sich vor. Der schillerndste und zwiespältigste Gracioso macht den „Kerker von Algier“ unsicher. Er ist ein aus Spanien entführter Mesner, der die Juden in Algier so lange mit seinen derben Witzen belästigt, bis sie ihm das von den Muslimen geforderte Lösegeld zahlen, nur um diese Nervensäge loszuwerden.
  Mitten im Velázquez-Saal des Prado liegt lebensgroß eine wunderschöne nackte Frau aus Bronze. Es handelt sich um die Kopie eines römischen Stücks (das seinerseits die Kopie eines griechischen Originals ist), die Velázquez anfertigen ließ. Doch auch hier täuscht der Schein. Tritt der Museumsbesucher neugierig näher, bemerkt er den Penis, der die Dame als Hermaphroditin ausweist, als Frau-Mann. Die Prado-Betreiber haben diese Skulptur aber nicht nur als Witz ins Zentrum ihres Museums gestellt. Jeder Text von Cervantes beschäftigt sich mit der eigenartigen Faszination, die von dieser Skulptur ausgeht. Da gibt sich immer irgendwer als jemand anderer aus oder wird für jemand ganz anderen gehalten: Die holde Dulcinea ist ein Bauerntrampel, Adelige laufen als Schäfer oder Mönche maskiert herum, Männer verkleiden sich als Frauen und umgekehrt. Denn auf dem Weg aus den geordneten Verhältnissen des Mittelalters in die konfuse Neuzeit wird gerade das Ich nachhaltig erschüttert. Die einst gesicherte Identität löst sich auf.
  Doch auch über dieses Zeitphänomen reißt Cervantes seine Witze. In der „Großtürkin“ schmuggelt sich ein Mann als Frau verkleidet in den Harem des Paschas zu Konstantinopel ein, weil dort seine Liebste schmachtet. Er fliegt erst auf, als ihn der Pascha für eine Nacht anfordert. Doch der Delinquent rettet sein Leben, indem er/sie behauptet, dass sie/er schon immer ein Mann werden wollte und Allah ihren/seinen Wunsch nun endlich erfüllt habe.
  Cervantes lässt nie einen Zweifel daran, dass für ihn der Katholizismus das Maß aller Dinge ist. Doch nie verteidigt er den Glauben so dogmatisch wie später Calderón de la Barca, der in Glaubensfragen humorlos war wie ein Taliban. Cervantes spottet immer wieder über Glaubenswärter und Glaubenseifer. Am schönsten im „Wundertheater“, in dem sich ein abgefeimter Theatermanager eine perfide Abzocke ausgedacht ist. Angeblich können nur diejenigen seine Show sehen, die keine Mauren oder Juden als Vorfahren haben. Die „Reinheit des Blutes“ war Staatsdoktrin, sie erst ermöglichte Karrieren. Natürlich sieht niemand etwas auf der Bühne, ganz einfach, weil es dort nichts zu sehen gibt. Aber keiner gibt zu, nichts gesehen zu haben, würde das doch die gesellschaftliche Ächtung und Entlassung aus dem Staatsdienst bedeuten.
  Doch zurück in den Prado. Die Überraschung, mit der der Maler Velázquez aus den „Hofdamen“ (Las Meninas), seinem berühmtesten Bild, herausblickt, ist Leitmotiv bei Cervantes. Schon sein erster Roman, die 1585 publizierte, einst viel und mittlerweile gar nicht mehr gelesene Schäfergeschichte „Galatea“ beginnt mit einer Überraschung, mit einem brutalen Mord in der Idylle. Auch der „Persiles“ schleudert mit seinen ersten Sätzen den Leser in eine überraschend fremde Welt: „Laute Schreie sandte Corsicurvo, der Barbar, durch die enge Öffnung eines tiefen Erdlochs, mehr Gruft als Kerker für eine Menge Leiber, die man lebendig dort begraben hatte. Zwar war sein schrecklich furchterregendes Gebrüll nah und fern zu hören, doch niemand verstand die Worte, die er rief, mit Ausnahme der armen Cloelia, die ihr Unglück ebenfalls in jenen Tiefen gefangen hielt.“
  Cervantes liebt Überraschungen und Wunder über alles – aber nur, wenn sie sich als vollkommen logisch und alltäglich erklären lassen. Auch seine Sprache ist stets nüchtern realistisch. Nie gibt es dunkle oder manierierte Passagen, nie ereignen sich Mysterien. Sogar die zeittypischen Anspielungen auf antike Mythologie und Geschichte hält er in Grenzen, ironisiert sie mehr als einmal. Selbst wenn er, wie im „Persiles“, eine Geschichte von Adligen erzählt, stellt er sie in den Alltag des Volkes, das arm ist, hungert, bedrückt wird und sich dennoch einen derben Witz bewahrt.
  Im Velázquez-Kabinett des Prado hängt zwischen den Herrscherporträts das eines Hirschs, der genauso erhaben wie die Menschen aus dem Bilderrahmen blickt. Auch Cervantes hat ein Faible für Tiere, die er genauso liebevoll wie seine Menschen zeichnet. Da sind Quijotes Klepper Rosinante und Sanchos Esel, die sich innig zugetan sind wie ihre Herren und wortlos die gleichen, eloquent unendlichen Zwiegespräche führen wie diese. Da sind in den letzten beiden der „Novellen“ die in einem Hospital angestellten Hunde Cipión und Berganza, die zu sprechen beginnen und wie alle anderen Cervantes-Menschen ihr Leben erzählen. E.T.A. Hoffmann hat 200 Jahre später Berganzas Lebensgeschichte fortgesponnen, mit viel Kunstkritik seiner Zeit vermischt – und doch nicht die Eleganz und den Witz des Originals erreicht. Und da ist der Elefant in der „Großtürkin“. Der des Türkischen unkundige Madrigal verspricht, das Tier innerhalb von zehn Jahren Türkisch zu lehren. Deshalb und weil er angeblich die Sprache der Vögel versteht, wird der Christ nicht gepfählt.
  Der ewig verfressene Sancho, der kaum anderes im Sinn hat als den Inhalt seines Schnappsacks und den Billigwein im Schlauch, mag lächerlich wirken für eine Gesellschaft, die den Überfluss der Supermärkte als normal erlebt. Für Cervantes aber ist das Gespenst des Hungers Alltag. Drastischer als in der „Numantia“ hat ihn kaum jemand beschrieben. Im Jahr 133 v. Chr. belagerten die Römer diese Stadt am Duero. Die Spanier werden von dem kaltblütig kalkulierenden römische Feldherr Scipio aushungert. „Gestern starb“, klagt eine Frau, „des Hungertodes mir der liebe, gute Bruder; auch die Mutter ist ein Opfer jener Geißel schon geworden.“ Wie im jüdischen Masada finden die Römer zuletzt nur noch Leichen in der Stadt. Der Nationalismus, dem Cervantes gern huldigt, kennt oft fanatische Momente.
  Zu den schönsten Momenten dieses an solchen Momenten nicht gerade armen Œuvres gehört der Moment, als die aus der kastilischen Ödnis kommenden Landeier Sancho und Quijote zuletzt ans Meer kommen, „das sie noch nie erblickt hatten“. Sie „fanden es weit und endlos, so viel größer als die Seen von Ruidera, die sie aus der Mancha kannten, sahen die Galeeren, die am Strand vor Anker lagen, und da gerade die Sonnensegel eingeholt wurden, erstrahlten sie voller Fähnchen und Wimpel, die im Wind flatterten und das Wasser küssten und streichelten.“ Die schlichte Beschreibung ist auch deshalb so überwältigend, weil sich da ein alternder Seefahrer jenes Moments erinnert, als er Jahrzehnte, bevor er diese Zeilen schrieb, erstmals selbst das Meer gesehen hat. Welch staunende Frische, in die sich so gar nichts Abgeklärtes, Desillusioniertes oder gar Frustriertes mischt!
  Am Meeresstrand erleidet Quijote dann seine endgültige Niederlage, von der er genauso traurig wie Karl V. auf Tizians Gemälde nach Hause zieht, in jenes kastilische Kaff, an dessen Namen sich Cervantes auch jetzt noch nicht erinnern will. Qujote stirbt bald darauf, ausgesöhnt mit der Kirche. Genauso wie Cervantes kurz nach dem Erscheinen der „Quijote“-Fortsetzung ebenfalls in den Armen der Kirche stirbt. Nicht weil er wie später Calderón die menschenverachtende Rigidität des spanischen Katholizismus doch noch akzeptiert hätte. Sondern weil dem ein Leben lang von diesem Gebeutelten der Humanismus des Christentums der einzige und letzte reale Halt war in einer Welt, die endgültig aus den Fugen war.
Miguel de Cervantes: Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda. Aus dem Spanischen übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Petra Strien. Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. 600 Seiten, 42 Euro.
Uwe Neumahr: Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben. Biografie. Verlag C.H.Beck München 2015, 394 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Cervantes kennt keine
Nebenfiguren, jeder darf seine
Lebensgeschichte erzählen
Sancho hatte allen Grund, auf
das Essen im Schnappsack und
den Wein im Schlauch zu achten
Welch staunende Frische,
in die sich nichts Desillusioniertes,
Frustriertes mischt!
Noch scheint das Meer so weit entfernt zu sein wie Dulcinea: Don Quijote de la Mancha, Monument am Straßenrand.
Foto: Michael Pfeiffer / CC BY 3.0
Erst in den letzten Jahren seines wilden Lebens erschienen die wenigen Werke des Miguel de Cervantes Saavedra (1547 - 1616). Foto: epd
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"Meisterhafte Biografie."
Wolfgang Schneider, Literarische WELT, 16. Januar 2016

"Eine lesenswerte, gut lesbare, informierte und ausgreifend informative Lebensbeschreibung."
Alexander Kluy, Buchkultur, Dezember 2015

"Ein ebenso unterhaltsames wie aufschlussreiches Werk."
Michael Fischer, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 25. Oktober 2015

"Uwe Neumahr malt das Bild einer Epoche [...] Eine kluge, maßvolle Biographie."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Oktober 2015

"Neumahr erzählt so anschaulich das Leben von Miguel de Cervantes, dass der Abenteurergeist durch die Epochen weht."
Paul Ingendaay, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 2015