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In den 1970er- und 1980er-Jahren unterhielt der Deutsche Gewerkschaftsbund intensive Kontakte zu den kommunistischen Staatsgewerkschaften Osteuropas. Über diese transnationalen Begegnungen ist bislang wenig bekannt. Entlang einer gewerkschaftshistorischen Studie lenkt Stefan Müller den Blick auf diese besonderen Beziehungen im Ost-West-Konflikt und lotet dabei die Potenziale der Neuen Ostpolitik aus.Bis Ende der 1970er-Jahre standen die Fühlungnahmen zwischen dem DGB und den Gewerkschaften in der Sowjetunion und Polen im Mittelpunkt des Interesses. In den 1980er-Jahren setzten die Kontakte vor…mehr

Produktbeschreibung
In den 1970er- und 1980er-Jahren unterhielt der Deutsche Gewerkschaftsbund intensive Kontakte zu den kommunistischen Staatsgewerkschaften Osteuropas. Über diese transnationalen Begegnungen ist bislang wenig bekannt. Entlang einer gewerkschaftshistorischen Studie lenkt Stefan Müller den Blick auf diese besonderen Beziehungen im Ost-West-Konflikt und lotet dabei die Potenziale der Neuen Ostpolitik aus.Bis Ende der 1970er-Jahre standen die Fühlungnahmen zwischen dem DGB und den Gewerkschaften in der Sowjetunion und Polen im Mittelpunkt des Interesses. In den 1980er-Jahren setzten die Kontakte vor allem auf deutschlandpolitische Ziele, denn der "Wandel durch Annäherung" wirkte durch unerwartete Zugeständnisse der DDR-Gewerkschaften fort. Am weitreichendsten waren jedoch - das arbeitet Müller heraus - die Kontaktinitiativen mit der polnischen Solidarnosc. Die Gewerkschaften haben aber nicht nur die Brandt'sche Ostpolitik begleitet, sondern kooperierten auch nach 1982 mit der Bundesregierung unter Kohl. Der Blick auf den Systemkonflikt wirft damit ein neues Licht auf die Beziehungen der Gewerkschaften zur westdeutschen Außenpolitik.
Autorenporträt
Stefan Müller, geb. 1966, Dr. phil., Historiker und Referent im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Arbeitswelt(en), Oral History.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Frank Bösch erfährt aus Stefan Müllers Dissertation, wie bundesdeutsche Gewerkschaften die Entspannungspolitik während des Kalten Krieges unterstützten, etwa der ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker oder die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Materialreich zeigt Müller laut Rezensent die Begegnungen zwischen Funktionären West und Ost auf, erörtert die Kooperation mit Brandts Ostpolitik und den Verzicht auf Treffen mit Dissidenten. Was genau die Gewerkschafter in der Sowjetunion oder in Polen so trieben, bleibt in der Studie leider eher im Dunkeln, bedauert Bösch. Zeitzeugeninterviews und Fotos wären hier hilfreich gewesen, so Bösch. Sprachlich verleugnet das Buch seine akademische Herkunft leider nicht, stellt er fest. Dass nur deutsche Quellen ausgwertet wurden, empfindet Bösch durchaus als Mangel.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2020

Menschenrechte kaum ein Thema
Inoffizielle Diplomaten - die Kontakte westdeutscher Gewerkschafter in den Ostblock

Nicht nur Regierungen prägen internationale Beziehungen. Seit langem gelten etwa NGOs, Verbände, Unternehmen oder auch Journalisten als wichtige Akteure. Gewerkschaften werden dagegen selten als außenpolitisch relevante Player betrachtet. Dabei spielten diese bei der europäischen Annäherung und beim bundesdeutschen Umgang mit Diktaturen durchaus eine wichtige Rolle. Wie vielfältig die bundesdeutschen Gewerkschaften bei der Entspannungspolitik im Kalten Krieg mitmischten, verdeutlicht Stefan Müllers Studie.

Als Vorreiter der Ost-West-Annäherung erwies sich Heinz Kluncker. Der ÖTV-Vorsitzende, der eher wegen seiner knallharten Tarifverhandlungen in Erinnerung blieb, reiste bereits 1965 nach Prag. Kurz darauf förderte er gewerkschaftliche "Informationsreisen" in andere sozialistische Staaten. Die Niederschlagung des Prager Frühlings sorgte nur für eine kurze Auszeit. Schon im Mai 1969 beschlossen die Gewerkschaften, die Kontakte zu den sozialistischen Staaten auszubauen. Ihre Reisen zu sowjetischen und polnischen Gewerkschaftsfunktionären bereiteten so Brandts Ostpolitik vor und flankierten sie zivilgesellschaftlich.

Diese Delegationsreisen bekamen rasch einen paradiplomatischen Charakter. Sie kooperierten eng mit dem Auswärtigen Amt und zielten darauf ab, die Reputation der Gewerkschaften als starker Akteur zu fördern. Die Treffen sparten freilich konfliktreiche politische Themen aus. Sie konzentrierten sich eher auf fachliche Fragen wie den Arbeitsschutz oder die Ausbildung. Müllers Studie fasst die Reisen als "Versöhnungsdelegationen", die nach dem Zweiten Weltkrieg vorsichtig um wechselseitiges Verständnis warben. Dazu zählten auch regelmäßige Besuche in Gedenkstätten wie in Auschwitz.

Die Gewerkschaften hielten sich weitgehend an den Kurs der Bundesregierung und stützten ihn. Nach dem sowjetischen Afghanistan-Einmarsch traf etwa der DGB-Vorsitzende Heinz-Oskar Vetter 1981 Leonid Breschnew, um den deutsch-sowjetischen Kontakt zu pflegen. Wie mit Kanzler Schmidt vorher abgesprochen, diskutierte er im Stil eines Politikers etwa den Rückgang der deutschstämmigen Aussiedler. Auch das Auswärtige Amt vermerkte intern, wie ausgewogen und staatsmännisch die Gewerkschafter auftraten. Genau diese politische Anerkennung schien ein Ziel derartiger Reisen zu sein.

Dafür verzichteten die Gewerkschaften auf Kontakte zu Dissidenten, um die Ostpolitik nicht zu gefährdeten. Entsprechende Initiativen des Europäischen Gewerkschaftsbundes bremste die DGB-Führung. Eine Ausnahme, die das Buch ausführlich präsentiert, war der Umgang mit der polnischen unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. Nach ihrer Gründung hielt sich der DGB noch zurück und bewertete Lech Walesa kritisch. Ähnlich wie die Bundesregierung betonten die Gewerkschaften das Prinzip der Nichteinmischung und riefen allgemein beide Seiten zur Besonnenheit auf. Ab 1981 stellte sich der DGB dann doch auf die Seite von Solidarnosc. Die SPD drängte die Gewerkschaften vergeblich zu mehr Zurückhaltung. Ende 1981 gründete der DGB vielmehr den gewerkschaftlichen Hilfsverein "Solidarität mit Polen", der über zwei Millionen Mark Spenden sammelte. Da ihm die Einreise kaum noch möglich war, verteilte die Caritas diese Hilfsmittel. Die Gewerkschaften verzichteten zwar auf Spitzentreffen mit Walesa, unterstützten die Solidarnosc jedoch in den folgenden Jahren in Einzelfällen weiter.

Mit Kohls Regierung lagen die Gewerkschaften innenpolitisch im Dauerkonflikt. Außenpolitisch sieht Müller eine große Übereinstimmung. Nach der Abkühlung der Ost-West-Beziehungen Anfang der 1980er Jahre reisten wieder mehr Gewerkschafter in die Sowjetunion als in westliche Nachbarländer. Die sowjetische Gewerkschaftsführung erschien ihnen weniger aufgeschlossen für Gorbatschows Reformen. Reisen in andere sozialistische Länder als die UdSSR und Polen blieben seltener. Die Gründe dafür nennt Müller nicht direkt. Offensichtlich war die Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend.

Schwierig blieb der Austausch mit der DDR und deren Einheitsgewerkschaft FDGB. Nach der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 hatte der DGB eine Kontaktsperre verhängt. Hier blieben die Begegnungen auch während der neuen Ostpolitik rar, waren kühler und krisenanfälliger. In den 1970er Jahren gab es nur vier Spitzentreffen, aber immerhin rund 100 Treffen von Einzelgewerkschaften. Den Protesten gegen die Verhaftung von Oppositionellen wie Rudolf Bahro schlossen sich nur vereinzelte Jugendorganisationen der Gewerkschaft an. Krisen, wie die Erhöhung des Zwangsumtausches 1980, führten zu einem Einbruch der Begegnungen. Ab 1983 nahmen sie wieder schrittweise zu. Die Quasianerkennung erleichterte den Austausch. Die Berichte der bundesdeutschen Gewerkschafter spotteten freilich über die kleinbürgerlichen Werte der Genossen von "drüben", die Sauberkeit, Fleiß und eine korrekte Kleiderordnung priesen. Neben den Studienreisen wurden 1988 dennoch sogar wechselseitige Urlaubsplätze eingerichtet. Einen besonders intensiven Kontakt suchte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Geprägt durch die Friedensbewegung. suchte sie einen engeren Austausch, der wechselseitig manche Illusion zerstörte. Linke Lehrer, die mit der GEW die DDR besuchten, beschrieben die Unterdrückung von Kreativität und rückständige "Paukerei".

Solche persönlichen Eindrücke von Reisen spart das Buch leider weitgehend aus. Der Blick auf die organisatorische Vogelperspektive lässt offen, wie gesellige Zusammenkünfte verliefen und welche Effekte die Besuche auf die Reisenden hatten. Hier wären Stimmen von Zeitzeugen oder private Aufzeichnungen und Fotos sicher hilfreich gewesen. Sprachlich merkt man, dass dieses Buch eine Habilitationsschrift ist. Da es nur auf deutschen Quellen und Forschungen beruht, bleibt unklar, wie die sozialistischen Gewerkschafter die Begegnungen wahrnahmen. Die Distanz zu Dissidenten wird zwar erwähnt, aber dass die Gewerkschafter das Thema Menschenrechte so gut wie ganz aussparten, kaum thematisiert. Dies überrascht, weil die bundesdeutschen Gewerkschaften gleichzeitig zum aktiven Anwalt verfolgter Arbeiterorganisationen in anderen Staaten wurden. So kämpften sie nach 1967 gegen die Verhaftungen in Griechenlands Diktatur und setzten sich ab 1973 für verfolgte Gewerkschafter in Chile ein. Hier konnten sie die sozialliberale Regierung tatsächlich antreiben, politisch zu handeln. Ein Seitenblick auf dieses Engagement hätte unterstrichen, wie bemerkenswert das Prinzip der Nichteinmischung bei den sozialistischen Diktaturen war.

Dennoch handelt es sich um ein materialreiches Buch, das die vielfältigen Begegnungen unterstreicht, auf der die Entspannungspolitik beruhte. Diese machten die Grenzen durchlässiger und trugen maßgeblich dazu bei, dass am Ende die Mauern fielen.

FRANK BÖSCH

Stefan Müller: Die Ostkontakte der westdeutschen Gewerkschaften. Entspannungspolitik zwischen Zivilgesellschaft und internationaler Politik 1969 bis 1989.

Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2020. 432 S., 32,- [Euro].

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