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Im Jahre 1878 entging Kaiser Wilhelm I. zwei Attentaten. Die Öffentlichkeit war schockiert, das konservative Bürgertum in Deutschland sah die traditionellen Werte außer Kraft gesetzt. Die Universitäten betrieben eine Wende hin zu einer metaphysischen Wertphilosophie. Für Ulrich Sieg beginnt damit eine verhängnisvolle Liaison zwischen Philosophie und Staatsmacht, die über die intellektuelle Rechtfertigung für den Ersten Weltkrieg zum antidemokratischen Denken der Weimarer Republik führt und bis in den Nationalsozialismus hineinwirkt. Namen wie Windelband, Eucken oder Elisabeth Förster-Nietzsche…mehr

Produktbeschreibung
Im Jahre 1878 entging Kaiser Wilhelm I. zwei Attentaten. Die Öffentlichkeit war schockiert, das konservative Bürgertum in Deutschland sah die traditionellen Werte außer Kraft gesetzt. Die Universitäten betrieben eine Wende hin zu einer metaphysischen Wertphilosophie. Für Ulrich Sieg beginnt damit eine verhängnisvolle Liaison zwischen Philosophie und Staatsmacht, die über die intellektuelle Rechtfertigung für den Ersten Weltkrieg zum antidemokratischen Denken der Weimarer Republik führt und bis in den Nationalsozialismus hineinwirkt. Namen wie Windelband, Eucken oder Elisabeth Förster-Nietzsche stehen für damals enorm populäre Denkhaltungen, die Ulrich Sieg hier erstmalig im Zusammenhang erforscht.
Autorenporträt
Sieg, UlrichUlrich Sieg, geboren 1960 in Lübeck, ist Historiker und Publizist. Er hat an der Philipps-Universität Marburg eine außerordentliche Professur inne. Schwerpunkt seiner Forschungs- wie seiner publizistischen Tätigkeit sind die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, die Politische Ideengeschichte seit 1800, die Geschichte des deutschen Judentums im Kaiserreich und der Weimarer Republik sowie die Geschichte des Antisemitismus. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe (Berlin 2001), Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus (Hanser, München/Wien 2007) sowie Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (2013). Seine Forschungs- und Vortragstätigkeit führt ihn regelmäßig ins Ausland. www.staff.uni-marburg.de/~sieg
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wie in der Zeit vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialsimus der Geist mit der Gewalt zusammenarbeitete, kann Ulrich Sieg dem Rezensenten in 5, wie Ludger Lütkehaus schreibt, "ausgreifenden" Kapiteln vermitteln. Dem Autor, erklärt der Rezensent, geht es dabei um eine breite realhistorische Kontextualisierung ideengeschichtlicher Phänomene. So zeigt Sieg, wie die Attentate auf Wilhelm I. politisch instrumentalisiert wurden. Brisantes und Peinliches schaut Lütkehaus im Kapitel über Propaganda völkischer Werte in der Nazizeit, bei Heidegger, Jaspers, Jaensch u. a.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Vorzügliches Grau
Einsatz an der Sinnstiftungsfront: Ulrich Sieg berichtet über
die Affären zwischen deutschen Philosophen und der Staatsmacht
VON JENS BISKY
Im Frühjahr 1878 wurde zweimal auf Kaiser Wilhelm I. geschossen. Er überlebte, aber die Atmosphäre im gerade erst zusammengezimmerten, von einer Wirtschaftskrise geplagten Reich wandelte sich gravierend. Nach dem ersten Attentat, das der Klempnergeselle Max Hödel mit schadhaftem Revolver improvisiert hatte, soll Bismarck ausgerufen haben: „Jetzt haben wir sie!“ – „Die Sozialdemokraten, Durchlaucht?“ – „Nein, die Liberalen“. Am 2. Juni versuchte es Karl Eduard Nobiling, die Schrotschüsse aus doppelläufiger Flinte verwundeten den Kaiser schwer. „Jetzt lösen wir den Reichstag auf“, sagte Bismarck, als die Nachricht vom zweiten, nicht ganz so harmlosen Attentat in Friedrichsruh eintraf.
  Zwei Attentate in einer Woche – damit ließ sich politisch einiges gewinnen. Gegen die Sozialdemokraten verabschiedete der neue Reichstag im Oktober 1878 Sondergesetze, denen der alte noch im Mai, nach Hödels Schüssen, die Zustimmung verweigert hatte. Und die Liberalen wurden bis dahin wacker verteidigten Prinzipien untreu, stellten Ordnung über Freiheit, bald auch nationale Interessen über den Freihandel. Die Einzelheiten dieser Wende kann man in Bismarck-Biografien und Geschichten des Kaiserreichs nachlesen. Bestenfalls am Rande aber erfährt man dort etwas über die tiefe Verunsicherung des akademischen Bürgertums und die von den Attentaten ausgelöste Debatte über den Wert der Bildung. Nobiling war schließlich Doktor der Philosophie. Und schien nicht der Zeitgeist insgesamt die Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten zu begünstigen?
  Von einer Bildungskrise zu reden, das klang plausibel. Auswege wurden eifrig gesucht. Diese Diskussion steht am Anfang einer Studie des Historikers Ulrich Sieg, ihr hat er das erste Kapitel seines Buches über deutschen Philosophen zwischen Bismarck und Hitler gewidmet. Und sie ist besonders geeignet, den nach Lektüre des schlagwortreichen Klappentextes skeptischen Leser zu überzeugen: „Geist und Gewalt“ bietet Neues über vielfach behandelte Themen und demonstriert zugleich eine subtile Art, Ideengeschichte zu erzählen.
  Bismarck hatte auch der Bildungsdebatte einige Motive vorgegeben. Er schob den Nationalliberalen die Schuld am respektlosen Zeitklima zu, attackierte die humanistische, weltfremde Orientierung der akademischen Gebildeten. Heinrich von Treitschke, das größte rhetorische Talent unter den zeitgenössischen Historikern legte mit „Der Socialismus und der Meuchelmord“ nach. Die Sozialdemokraten? – Eine „Eiterbeule am Leibe unseres Volkes“. Die Liberalen? - Moralisch haltlos. Verantwortlich für die Tat sei „die sinnliche Weltanschauung der Modephilosophen“. Zwar hätte ein genauerer Blick auf Höbel und Nobiling vor allen Verallgemeinerungen warnen müssen, sie waren Sonderlinge mit eigenwillig zusammengesuchten Weltbildern. Aber in Zeiten der Terrorismusfurcht haben, wie auch wir Spätgeborenen lernen mussten, kecke Verdächtigungen und skrupellose Zuschreibungen gute Chancen, Glauben zu finden. Und wie nach dem Jahr 2001 weite Teile der deutschen Öffentlichkeit reagierten auch kluge Köpfe des 19. Jahrhunderts auf die durchaus reale Bedrohung durch Besinnung auf Werte und die Beschwörung von Idealen. Ulrich Sieg argumentiert zu sorgfältig, um solche Parallelen zu ziehen, dem Leser aber drängen sie sich auf.
  Zur Stiftungsfeier der Berliner Universität am 3. August 1878 erinnerte der Ausnahmephysiker Hermann von Helmholtz an die Befreiungskriege, an denen er besonders hervorhob, dass die preußischen Soldaten eifrig philosophische Texte gelesen hätten. Aber: „Wie ist es anders geworden! Das mögen wir wohl erstaunt ausrufen in einer Zeit, wo sich die cynische Verachtung aller idealen Güter des Menschengeschlechts auf den Strassen und in der Presse breit macht, und in zwei scheußlichen Verbrechen gegipfelt hat, welche das Haupt unseres Kaisers offenbar nur deshalb zu ihrem Ziele wählten, weil in ihm sich Alles vereinigte, was die Menschheit bisher als würdig der Verehrung und der Dankbarkeit betrachtet hat.“ Helfen könnten Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, denen eine erstaunliche Karriere bevorstand. Wenn künftig die flache Gegenwart ins Höhere getrieben oder Gefahr von der Nation abgewendet werden musste, war ein Hinweis auf Fichte und seine Reden aus dem Jahr 1808 nicht weit.
  Philosophisch anspruchsvoll reagierte Wilhelm Windelband. Er übernahm von seinem Lehrer Hermann Lotze das Konzept der „Werte“ und den Willen, die Metaphysik in der Ethik zu gründen. Arbeitsteilung und die mit ihr verbundene Vermehrung des Wissens hätten zum Verlust kultureller Einheit geführt. Daher drohe die Gesellschaft, „in Gruppen und Atome zu zerfallen, zwischen denen es nicht mehr das Bindemittel des geistigen Verständnisses, sondern nur noch dasjenige der äußeren Not und Notwendigkeit gibt“. Besonders verhängnisvoll wirke die Halbbildung. Um so schlimmer, dass sie vom Parlamentarismus, der „Staatsform des Dilettantismus“, begünstigt werde: jeder Sophist und Schreihals glaube sich „mit dem Mandat einer unverständigen Masse in der Tasche“ berufen, „über alles, was die Interessen des öffentlichen Lebens angeht, sein verantwortungsloses Urteil ex officio abzugeben“.
  Windelband war klug genug zu wissen, dass die Philosophie die Fülle wissenschaftlicher Kenntnisse nicht mehr zu einem „Weltbilde“ zusammenarbeiten könne. „Aber darum darf das Leben des einzelnen nicht aufhören, im Ganzen zu wurzeln und sich mit dem Wesen der Gattung eins zu wissen.“ Für derlei Verwurzelungs- und Einheitsbedürfnisse sorgt dann die Philosophie, sie wird zu einem „Sinngebungs-Idealismus“. Das hat Vorteile. Die ethische Weltsicht trägt das Gewand der Wissenschaft und harmoniere, so Ulrich Sieg, „mit dem staatlichen Interesse an gesellschaftlichem Konsens“.
  Den weiteren Schicksalen des „Sinngebungs-Idealismus“ folgt dieses intellektuell ungewöhnlich unterhaltsame Buch. Erzählt wird, wie Rudolf Eucken, ein erfolgreicher Weltanschauungs-Großhändler, 1908 dank einer schwedisch-thüringischen Intrige den Nobelpreis für Literatur bekam; wie während des Ersten Weltkrieges die Diskurse sich radikalisierten, nachdem die „Ideen von 1914“ schon 1916 unübersehbar gescheitert waren.
  Um die „Einheit der Nation“ zu sichern, die eigene Identität gegen die Wirklichkeit abzudichten, sprach etwa Bruno Bauch, Professor in Jena und Redakteur der Kant-Studien, Juden die Fähigkeit ab, deutsche Philosophie zu verstehen, auch wenn sie deutsch sprächen, selbst wenn sie nur deutsch sprächen, sei ihre Sprache nicht die unsere. Der Text erschien in den Kant-Studien, Ernst Cassirer protestierte, Bauch trat als Redakteur zurück. Er und seine Parteigänger gründeten die Deutsche Philosophische Gesellschaft, die bis 1945 bestand.
  Vorgestellt wird Helmuth Plessners grundsätzliche Kritik am politischen Radikalismus in „Die Grenzen der Gemeinschaft“, eine Schrift, die 1923 viel Aufmerksamkeit fand und die man gern unter den Empörten der Gegenwart verteilt sähe. Das letzte Kapitel hat Sieg dem Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften gewidmet und den Absurditäten einer Festschrift für Hitler, die Rosenberg und Goebbels gern verboten hätten.
  Die Traditionen der Machtvergötzung, Kriegsverherrlichung, des Antisemitismus und eines allein durch Feindbilder Halt findenden Nationalismus sind gut bekannt. Ulrich Sieg profitiert etwa von Kurt Flaschs Buch über „Die geistige Mobilmachung“ oder den Studien Stefan Breuers zur „konservativen Revolution“, auch dort, wo er anders wertet. Die Identitätskrise des Bismarck-Reiches konnte weder 1914 noch nach dem verlorenen Krieg überwunden werden. Nur der Ton wurde lauter, schriller, unmenschlicher. Die Antworten auf die Frage, was deutsch sei, wurden immer leerer, bis die Frage selbst hohl klang.
  Sieg, der mit einer Studie über „Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus“ bekannt geworden ist, verzichtet auf Sonderwegsthesen, scheut starke Kausalitätsbehauptungen, relativiert eigene Beobachtungen und folgt durchweg einer eingangs zitierten Empfehlung Adelbert von Chamissos, „den Teufel nicht zu schwarz zu malen, ein gutes Grau sei für ihn ausreichend“. Daher wird der Leser hier – anders als in vielen Büchern über Hindernisse und falsches Abbiegen auf dem „langen Weg nach Westen“ – nicht bestätigt in seinem Gegenwartsbehagen, sondern aufgeklärt. So frappant wie die Kontinuität der sinngebungsidealistischen Motive über die Jahrzehnte von 1880 bis 1940 ist die Vielzahl der guten Bekannten, die man in heutigen Bildungs- und Identitätsdebatten wiedertrifft. Genannt sei nur das offenbar nicht auszutreibende Misstrauen gegenüber Geschäftstüchtigkeit, Dilettantismus und dem Spielerischen in der Politik. Umso mehr wünscht man, auch etwas über Nachkriegsdeutschland zu lesen, und umso skeptischer ist man gegenüber der nobel gelassenen Schlussbehauptung, die Frage „Was ist deutsch?“ sei legitim.
  Gewiss, muss niemand sich vor dieser Frage fürchten. Jeder mag sie stellen – und Tischsitten, Literaturbetrieb oder Reiseverhalten der Deutschen weisen Eigenheiten auf, die man zusammentragen und erklären kann. Aber will man Antworten hören, die sich nicht mit bloßer Beschreibung begnügen? Sind denn philosophisch satisfaktionsfähige, den Kant-Leser befriedigende Antworten auf die Frage nach dem Deutschen möglich? Viel weiter als der exzessiv missbrauchte Fichte wird man wahrscheinlich nicht kommen. Das Vaterland des „wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers“, meinte er 1806, vor seiner nationalistischen Wende, sei derjenige Staat, „der auf der Höhe der Cultur steht“. Wo sonst?
Helmholtz beklagte die „cynische
Verachtung aller idealen Güter
des Menschengeschlechts“
Das Leben des einzelnen sollte,
philosophisch unterstützt,
im Ganzen wurzeln
Was ist deutsch? Nicht einmal
der Sinngebungs-Idealismus fand
eine überzeugende Antwort
  
  
  
Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Carl Hanser Verlag, München 2013. 315 Seiten, 27,90 Euro.
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"Ein intellektuell ungewöhnlich unterhaltsames Buch." Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 12.03.13

"Ulrich Siegs Langessay löst ein, was Ideengeschichte sein kann, und warum sie unerlässlich ist: als Spurensicherung alles dessen, was sich nicht unter große und simple Thesen zwingen lässt. ... Sieg ist ein großer Wurf gelungen." Thomas Meyer, Die Welt, 06.04.13

"Ulrich Sieg hat eine absolut lesenswerte Studie vorgelegt." Rainer Kühn, Deutschlandfunk, Andruck, 27.05.13

"Ausdrücklich zu loben ist Ulrich Siegs Bemühen, bei seiner Engführung von Realhistorie und Ideengeschichte immer auch darauf zu verweisen, dass es neben den von ihm beleuchteten Phänomenen auch andere Entwicklungen gab. ... Beispielhaft belegt sein Buch, dass der Geist in Deutschland sich nicht nur der Gewalt unterworfen hat, sondern sie auch mit erzeugte." Carsten Hueck, Deutschlandradio Kultur, Lesart, 02.06.13

"Sieg zeigt auf spannende, historisch differenzierte Weise, wie eigenständige Denker von wechselnden Machtpolen angezogen werden und ihren Teil zur Legitimation antidemokratischer Strukturen beitragen." Ulrich Rüdenauer, Philosophie Magazin April/Mai 13