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2 Kundenbewertungen

Am Anfang waren sie immer zu dritt und wuchsen auf wie Geschwister: Anna, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist, Claire, die von Annas Vater in Obhut genommen wird, da auch sie ihre Mutter verloren hat, und Cooper, der ganz allein ist - Waisen sie alle. Doch dann verliebt sich Anna in Cooper, und als ihr Vater sie ertappt, schlägt er den Ziehsohn halbtot. Da trennen sich ihre Wege. Cooper wird Profipokerspieler, Anna zieht in den Süden Frankreichs, nur Claire bleibt in der Gegend. Eine Geschichte von Spielern, Waisen und Künstlern, von einer kleinen Gemeinschaft von Außenseitern, die in…mehr

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Produktbeschreibung
Am Anfang waren sie immer zu dritt und wuchsen auf wie Geschwister: Anna, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist, Claire, die von Annas Vater in Obhut genommen wird, da auch sie ihre Mutter verloren hat, und Cooper, der ganz allein ist - Waisen sie alle. Doch dann verliebt sich Anna in Cooper, und als ihr Vater sie ertappt, schlägt er den Ziehsohn halbtot. Da trennen sich ihre Wege. Cooper wird Profipokerspieler, Anna zieht in den Süden Frankreichs, nur Claire bleibt in der Gegend. Eine Geschichte von Spielern, Waisen und Künstlern, von einer kleinen Gemeinschaft von Außenseitern, die in völlig verschiedenen Welten leben - und davon, dass es in der Liebe, im Leben und in der Familie keine Unschuld geben kann.
Autorenporträt
Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren, lebt heute in Toronto. Mit seinem Roman Der englische Patient (Hanser, 1993), für den er den Man Booker Prize und zum 50-jährigen Jubiläum des Preises im Jahr 2018 den Golden Man Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. Im Hanser Verlag erschienen zuletzt Buddy Boldens Blues (1995), Die gesammelten Werke von Billy the Kid (1997), Anils Geist (Roman, 2000), Handschrift (Gedichte, 2001), Divisadero (Roman, 2007), Katzentisch (Roman, 2012) und Kriegslicht (Roman, 2018).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.10.2007

Die Frankreichkarte der Gefühle
Eine Drehtür namens Anna: Michael Ondaatjes mustergültig multikultureller Roman „Divisadero”
„Zwischen den Kulturen”, das ist für einen zeitgenössischen Roman vielleicht der angenehmste Standort, ja beinahe ein Standort der Unangreifbarkeit. Wer möchte schon ein Werk kritisieren, das dem vorgeblich so labilen, gefährdeten und deshalb schützenswerten Zwischen-status abgerungen ist? Man würde nur geringfügig übertreiben, wenn man die Behauptung wagte, der literarische Mainstream von heute sei „zwischen den Kulturen” zu lokalisieren. Und Michael Ondaatje wäre dann ein ernsthafter Dauerkandidat nicht nur für den Nobelpreis (das ist er sowieso), sondern auch für den Preis eines Weltmeisters des literarischen Mainstreams – zwar nicht der ganz populären Sorte wie Isabel Allende oder Paulo Coelho, aber doch der gehobenen, kunstfertigen, ästhetisch teil-avancierten und multikulturell korrekten Art.
Für diesen Rang qualifizieren ihn sein wunderbarer, selbst schon literarisch anmutender Lebenslauf zwischen Ceylon, Holland, Kanada und England ebenso wie seine Bücher, der Weltbestseller „Der englische Patient” allen voran. Ondaatje hat sich hier als ein Fachmann für mondäne, exotische und in allen Farben der visuellen Kultur leuchtende Stoffe erwiesen, und selbst wenn man am Ende vom Buch immer noch nicht wusste, worum es eben gegangen war, blieb ein starker Eindruck haften. Ondaatje ist nämlich auch ein Meister der Anmutung, des Atmosphärischen, des Unausgesprochenen, und deshalb vielleicht machen seine Bücher glücklich – so lange jedenfalls, wie einem das Kunstgewerbliche, ja Gekünstelte seiner Plots nicht zu sehr aufstößt.
Nun also „Divisadero”, Ondaatjes erster Roman nach sieben Jahren und, in den Augen zumindest der angelsächsischen Kritik, ein noch größerer Wurf als der „englische Patient”. Divisadero, das ist der Name einer Straße in San Francisco, in der Anna, die Hauptfigur, einmal gewohnt hat. „Divisadero”, erklärt sie, „abgeleitet von dem spanischen Wort división – Teilung, Trennung –, denn früher einmal bezeichnete diese Straße die Grenze zwischen San Francisco und den Feldern von Presidio. Oder der Name leitet sich her von divisar, was bedeutet: ‚etwas aus der Ferne betrachten‘. ( . . . ) Er bezeichnet also eine Stelle, von der aus man weit in die Ferne sehen kann.” Wir korrigieren uns: Der Roman heißt nicht „Divisadero”, weil Anna in der Straße desselben Namens wohnt, sondern weil Ondaatje den Straßennamen so sprechend fand für sein erzählerisches Vorhaben: eine Teilung, Trennung, und eine Betrachtung aus der Ferne.
Ein Poker-Profi in Las Vegas
Das ist schön und zugleich, wie vieles bei diesem Autor, eine Spur zu absichtsvoll, zu anspielungsreich. Auf zweieinhalb Seiten breitet er am Romanende aus, wo er dieses Wort und wo er jenes fand, wo er auf das Nietzsche-Zitat stieß (nicht im Original jedenfalls), das er dann im Text verwendete, und man merkt, dieser Autor ruht einerseits wohl zwischen den Kulturen, andererseits im Schoß der amerikanischen Universität mit ihren Verhaltensregeln und Denkgeboten. Um große Literatur zu sein – so groß, wie manche Kritiker glauben, ist Ondaatjes Schreiben zu domestiziert, oder sollte man sagen, zu angepasst?
„Divisadero” also heißt das Erzählprinzip, das heißt, es gibt eine Trennlinie zwischen zwei Romanhandlungen, in denen wiederum Teilungen und Trennungen eine wichtige Rolle spielen. Die Romanhandlung wird zusammengehalten von Anna. Sie ist die personifizierte Drehtür, durch die man vom einen zum anderen Romanteil gelangt. Man kann darin gewiss einen Kunstgriff der Extraklasse erblicken, aber auch zu der Einsicht kommen, dass die Kohäsion der Romanteile anders als durch die Einheit der Hauptperson gar nicht gegeben wäre.
Ondaatje hätte auch zwei Romane schreiben können, den einen, der in Kalifornien spielt und worin ein Farmer und Witwer und Vater einer Tochter zwei Waisen zu sich nimmt, die nun miteinander aufwachsen. Anna und Claire und Cooper, meist Coop genannt, gewöhnen sich aneinander, und ihr Zusammenleben mutet wie ein Idyll an, bis Anna und Coop sich ineinander verlieben und Annas Vater, der die beiden auf frischer Tat ertappt, Coop fast zu Tode prügelt. Coop kehrt nie mehr auf die Farm zurück, er wird Poker-Profi in Las Vegas und anderswo, Anna wird Literaturwissenschaftlerin. Das ist dann der zweite Roman, und er hat mit Frankreich zu tun, mit einem reizenden, ländlichen, altmodischen Frankreich, in das sich Anna ebenso verliebt hat wie damals in den ungestümen Coop. Sie sammelt Landkarten, und ihr liebster Besitz, heißt es, ist eine „Carte du Tendre Pays”, „eine Karte der Gefühle mit dem Umriss Frankreichs, angefertigt von Frauen eines früheren Jahrhunderts, in einer Epoche, in der Männer forschten und Karten zeichneten.”
Was sagt uns die Kartographie der Gefühle? „Ein Labyrinth nicht verzeichneter Wege”, so Ondaatjes Antwort, „hatte immer zwischen ihr und den anderen bestanden und würde vielleicht auch weiterhin bestehen.” Da ist er, der Sehnsuchts- und Ungenauigkeitston, der für diesen Roman so typisch ist. Und weiter: „Die Frankreichkarte der Gefühle galt noch immer für die Gegenwart, mit allen Subtexten, allen sozialen Komplikationen, unausgesprochenen Machtbalancen.” Und da ist sie, die Sprache des multikulturellen Gender-Seminars, und sie sagt: „Man musste sich auch weiterhin achtsam, behutsam bewegen.” Es ist nicht so, dass dieser auf das Sanftmütig-Spirituelle eingestellte Modus Ondaatjes Erzählen wirklich guttäte.
In Frankreich hat Anna dann einen neuen Liebhaber gefunden, er heißt Rafael, ist Musiker und hat neben anderen die Eigenschaft für sich, dass er noch Lucien Segura gekannt hat, einen (fiktiven) Dichter und Schriftsteller, dessen Werk Anna erforscht und dessen Leben sie im zweiten Romanteil weitläufig erzählt. Es gibt Korrespondenzen zuhauf zwischen den beiden Seiten des Romans, es geht um Verletzungen, um Geschwisterliebe, um Gewalt, aber das alles ist kein Grund zum Staunen, denn Ondaatje hat den Roman ja genau so konstruiert, dass man in der Welt des zweiten die des ersten Teils wiedererkennen kann und vice versa.
Der glückliche Leser liest mit einiger Geduld aus dem Vergleich heraus, was Ondaatje zuvor in ihn hineingelegt hat. Und natürlich gibt es schöne Stellen in Fülle in diesem Roman, ja vielleicht ist „Divisadero” insgesamt so etwas wie eine große schöne Stelle. Man kann Ondaatje lieben oder hassen für Stellen wie die folgende: „Schon immer bin ich gerne nachts gefahren, in Begleitung eines Freundes, sodass wir beide das altbekannte Verhalten des anderen debattieren und erleben konnten. Diese Vorliebe, Ereignisse unserer Vergangenheit aufzusuchen, ist wie eine Villanelle, deren Form sich nicht linear bewegt, sondern vertraute emotionale Stellen umkreist. Nur das Wiederlesen zähle, hat Nabokov gesagt.” Ist das nun großer Stil? So kann man es sehen, aber so muss man es nicht sehen. Bei ungnädigerer Betrachtung ist „Divisadero”, bei allem Respekt vor Ondaatjes Könnerschaft, vor allem dies: ganz ganz edler Kitsch.
CHRISTOPH BARTMANN
MICHAEL ONDAATJE: Divisadero. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2007. 280 Seiten, 21, 50 Euro.
Der kostbarste Kitsch ist noch immer der der Einsamkeit und Verlorenheit. Foto: Roy McMahon/Corbis
Michael Ondaatje Foto: Getty
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2007

Das andere ist ein Geheimnis
"Der englische Patient" machte ihn berühmt, er selbst bleibt ein Rätsel, auch in seinem neuen Buch "Divisadero". Ein Besuch bei Michael Ondaatje

Er wirkt wie in einer Luftblase, von der Außenwelt geschützt durch eine unsichtbare Hülle, die ihn umschließt. Den Blick nach unten gerichtet, betritt er die plüschige Hotellobby in Toronto, die er für das Treffen vorgeschlagen hatte. Erst im letzten Moment vor der Begrüßung hebt er den Kopf, die Augen wussten schon, wohin sie zu schauen haben würden. Michael Ondaatjes Augen sind hell, blau und leuchten. Es liegt eine sagenhafte Offenheit im Blick dieses grauhaarigen Mannes, der vor vierundsechzig Jahren auf der Insel Sri Lanka, die damals noch Ceylon hieß, geboren wurde. Eine untergehende Kolonialwelt, der Glanz vergangener Tage im Verschwinden begriffen, der Vater hatte den einst riesigen Teeplantagenbesitz der Familie vertrunken, verspielt, versetzt.

Als Ondaatje zwei Jahre alt ist, trennen sich seine Eltern, er lebt bei seiner Mutter, die aber bald nach England aufbricht, um ein neues Leben zu beginnen. Michael bleibt zurück, betreut von einer Nanny, sieht den Vater selten, die Mutter nie, bis sie ihn nach London nachholt. Da ist er acht Jahre alt. Er hasst die englische Schule, die Uniformen, die Enge und Strenge des Systems. Mit achtzehn Jahren der dritte Wohnort: Er folgt seinem Bruder nach Kanada, nach Toronto. Hier ist er bis heute geblieben, von hier aus immer unterwegs in der Welt, in Europa, Sri Lanka, Kanadas Wäldern. Aber Toronto ist eine Art Heimat für den Heimatlosen, dessen Abstammung in Lexika mit dem schönen Dreiklang holländisch-tamilisch-singhalesisch angegeben wird.

Jetzt läuft er etwas unsicher in der großen Lobby umher, fragt den Concierge, ob es hier im Hotel ein ruhiges Café gebe, dieser zeigt sogleich in eine Richtung, doch Ondaatje scheint nicht ganz einverstanden, nein, er wisse einen besseren Ort, wir gehen hinaus auf die Straße, meine Smalltalk-Versuche schlagen auf schroffe Weise fehl.

Ondaatje scheint kaum mit halbem Ohr zu folgen, wir haben das gesuchte Café erreicht, er bestellt Espresso in einer extra großen Tasse, dazu heißes Wasser und heiße Milch, es dauert eine ganze Weile, bestimmt drei falsche Lieferungen lang, bis die Kellnerin das Bestellte in korrekter Kombination an den Tisch bringt. Ondaatje hatte auf jeden Fehler nachsichtig, aber unnachgiebig hingewiesen.

Im Gespräch gibt es nur wenige Momente, in denen er einen Blick in seine Augen gewährt. Seinem Biographen Ed Jewinski hat er vor fünfzehn Jahren einmal geschrieben, als der ihn um Auskünfte über sein Leben bat, er fühle sich verletzlich und sein Leben schon längst "überenthüllt", und er sei "auf so bedrohliche Weise selbst-bewusst", dass er an einem biographischen Werk über sich auf keinen Fall beteiligt sein könne und wolle. Er will kein Medienschriftsteller sein; sein Bild draußen in der Welt, es interessiert ihn nicht, selbst sein Geburtsdatum und Geburtsort waren lange Jahre in allen Nachschlagewerken falsch angegeben.

"Alles ist biographisch, sagt Lucien Freud. Was wir machen, warum es gemacht wird, wie wir einen Hund zeichnen, wer uns anzieht, warum wir nicht vergessen können. Alles ist Collage, sogar die Genetik. Andere sind verborgen in uns gegenwärtig, sogar jene, die wir kaum gekannt haben. Wir enthalten sie für den Rest unseres Lebens bei jeder Grenze, die wir überschreiten." So heißt es in Ondaatjes neuem Roman "Divisadero", der in dieser Woche auf Deutsch erscheint. Ein sonderbares, eigenwilliges, bilderreiches, widerständiges, ein wunderschönes Buch, eine Liebesgeschichte, nein, viele Liebesgeschichten in einer, die Geschichte einer Selbstfindung, der Erschaffung einer eigenen Geschichte, einer Lebensgeschichte, die Geschichte einer tiefen Verletzung. Es sind Versehrte, die in diesem Buch aufeinandertreffen und voneinander loskommen, in eine andere Welt hinein. Lebensverletzte, wie in jedem Buch Michael Ondaatjes. Versehrte, die nach Heilung suchen, in der Kunst, im Erzählen. Menschen, durch deren Leben ein Riss gegangen ist, durch einen Zufall, eine Liebe, einen Heimatverlust, einen Flugzeugabsturz, einen Krieg, einen unbedachten Moment. Mit der Geschichte von "Billy the Kid" (1970), einer beinahe frei erdachten Gedichtbiographie des Massenmörders und Phantasten, fing es vor siebenunddreißig Jahren an; es folgte die Geschichte vom Erfinder des Jazz, Buddy Bolden, der eines Tages den Verstand verlor und die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens in der Psychiatrie verbrachte und von dessen Schaffen kein einziges Tondokument existiert ("Buddy Boldens Blues", 1976), dann der Millionär aus Toronto, der eines Tages spurlos verschwindet und von der ganzen Stadt gesucht wird ("In der Haut eines Löwen", 1987), seine eigene, Ondaatjes Familien- und Herkunftsgeschichte als Mythos eines Untergangs ("Es liegt in der Familie", 1982) und schließlich "Der englische Patient" (1992), der Roman über den Mann, der am Ende des Zweiten Weltkriegs als brennende Fackel vom Himmel in die Wüste fällt, ohne Gesicht, ohne Geschichte, und der dann, in einem abgeschiedenen Landhaus mit Kip und Caravaggio und Hana zusammentrifft, Versehrte auch sie, die sich dann, in einem Viereck der Fremde, gegenseitig ihr Leben entdecken, ihre Geschichten finden und erfinden und miteinander verhaken.

",Überall auf der Welt muss es Leute wie uns geben', hatte Anna daraufhin gesagt, ,Leute, die verletzt wurden, als sie sich verliebten, obwohl es die natürlichste Sache der Welt sein sollte.'" So heißt es in "Divisadero". Und so fängt es an: Claire und Anna und Coop wachsen gemeinsam auf einer Farm im kalifornischen Nirgendwo, fünfzig Kilometer von San Francisco entfernt, in den siebziger Jahren auf. Es ist eine magische, scheinbar zeitlose Welt in größter Abgeschiedenheit. Ondaatje sagt, so habe es angefangen, das Buch, der erste Gedanke daran. Er habe diese Farm entdeckt, diesen verlorenen Landstrich und wusste, dass hier sein neues Buch beginnen würde. Er sammelte Karten, Bücher und Geschichten über die Gegend, bis er eine große Karte der Landschaft und ihrer Menschen im Kopf hatte. "An jedem winzigen Punkt der Karte hatte sich etwas ereignet. An diesem Flussufer hatten zwei Brüder einander erschlagen, als sie darüber stritten, welchen Weg sie einschlagen sollten. Auf jener Lichtung war vor hundert Jahren eine Frau gegen ein Grundstück getauscht worden. Es war, als lauerte hinter jeder Wegbiegung ein Balzac-Roman." So steht es im Buch. Und irgendwann hat Ondaatje dann auch - in sich, in der Landschaft - Coop und Claire und Anna gefunden und ihren Vater, den einsamen, schweigsamen Farmer, der eigentlich nur der Vater von Anna ist, deren Mutter bei der Geburt starb, Claire wurde in der gleichen Woche, im selben Krankenhaus geboren, und auch ihre Mutter starb, einen Vater gab es nicht, und so nahm Annas Vater auch sie auf, als Waisenschwester der eigenen, halbverwaisten Tochter. Wenig später kam noch Coop hinzu, dessen ganze Familie ermordet wurde und der dem Massaker mit Glück versteckt entkam. Da war er vier. Später verlieben sich Anna und Coop, oder auch: ihre alte, scheinbar ewige Vertrautheit geht in eine neu, andere, körperliche über. Als der Vater sie beide entdeckt, schlägt er Coop halbtot. Anna kämpft verzweifelt gegen ihren Vater und rammt ihm eine Glasscherbe tief ins Fleisch. Diese Szene ist kaum eine Seite lang, sie ist unvergesslich. Ondaatje beherrscht die Kunst, in wenigen Zeilen Bilder von mythischer Kraft und Farbigkeit zu schaffen. Die Familie, diese sonderbare, herkunftslose Familie zerfällt. Es geschieht in einer Explosion, nach der das Leben jedes Beteiligten ein anderes ist, für immer bestimmt von diesem einen Augenblick. Anna flieht, Coop flieht, Claire bleibt zunächst, doch auch ihr Leben ist von nun an von diesem Moment beherrscht, in dem ihr gemeinsames Leben zerbrach. Coop wird ein Spieler, ein Falschspieler, ewig auf der Flucht; Anna sehen wir viel später wieder, wie sie in einem französischen Landhaus die Lebensspuren eines vergessenen Schriftstellers sucht und neu zusammensetzt. Die Geschichte dieses Autors ist die zweite Hälfte des Buches. Zunächst wundert man sich, warum Ondaatje den ganzen ersten Teil des Buches, all die begonnenen Fäden, scheinbar achtlos fallen lässt. Doch nach einer Weile merkt man, dass der zweite Teil ein Spiegelbild des ersten ist. Gespiegelt in einem anderen Leben, durch die Augen Annas, die aus dem Leben dieses geheimnisvollen Schriftstellers ihr eigenes Leben und das ihrer Familie herausliest. Oder hineinliest. Einmal hatte sie seine Stimme gehört, als er aus seinen Werken las, und da hatte sie eine Verwundung herausgehört, der sie sich verwandt fühlte. So beginnt ihre Rekonstruktion. Eines anderen Lebens. Ihres eigenen. "Mein Gebiet ist der Bereich, wo Leben und Kunst sich im verborgenen begegnen", erklärt Anna. Und weiter: "So habe ich erfahren, dass wir die Kunst benutzen können, um uns in ihr zu verbergen."

Alles in diesem Buch ist ein Geheimnis. Es ist fast unheimlich, wie dieses Buch dem Mann hier im Café entspricht. Es leuchtet, das Buch, in unendlich vielen, unvergesslichen Bildern; ein Pferd geht durch in einer Sonnenfinsternis, ein Hund schlägt mit einer Pfote eine Scheibe ein, und das zersplitternde Glas verletzt das Auge des jungen Schriftstellers, Unglück und Glück, vollkommenes manchmal: "Diese Reise nach Süden und zurück nach Norden brach ihm vor Glück immer wieder das Herz. Damals spürte er deutlicher als je zuvor oder danach, dass es keine Trennung zwischen ihm und dem gab, was außerhalb seiner selbst war."

Das Buch zeigt alles, das Wesen der Kunst, thematisiert immer wieder sich selbst, die Technik des Schreibens, doch immer im Verborgenen. Kaum hält man eine Wahrheit in der Hand, ist sie schon wieder fort. "Kunst heißt Sich-Verbergen, in den Schatten treten." Ja, auf der einen Seite. Auf der anderen ist die Kunst ein Mittel, es auszuhalten, das Leben, den Schmerz. "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen", dieses Nietzsche-Wort ist Teil des Mottos des Romans.

Ondaatjes Biograph hat geschrieben, seine Bücher seien alle Briefe an den Vater, den er so früh für immer verlor. Das kann natürlich sein, es kann auch ganz anderes sein, es ist nicht wichtig, jedenfalls nicht für den Leser seiner Bücher. Ondaatje erzählt von der Technik des Schreibens, ich frage, ob das nicht sonderbar sei, das Schreiben als eine Verbergungskunst zu betrachten und gleichzeitig, wie er es lange Zeit tat, das Schreiben als Handwerk an der Universität zu lehren. "Aber nein, das ist kein Widerspruch. Das eine ist eine Technik, das andere ein Geheimnis. Das lässt sich sehr klar trennen."

Und wie er an dem Buch, wie an allen anderen Büchern gearbeitet hat, wie er selbst immer wieder überrascht wird beim Schreiben, wie auch all das Sprunghafte als lineare Geschichte entsteht, in dreieinhalb Jahren Schreibarbeit. Der dann noch anderthalb Jahre behutsamstes Bearbeiten folgen. Zusammen mit dem Lektor werden da Wort für Wort die zu persönlichen Passagen aus dem Buch wieder entfernt. "Diese Linie zu finden ist unendlich schwer. Die Linie zwischen dem Sich-Offenbaren und dem Sich-Bewahren - das ist der größte Teil der Arbeit, diese Linie zu finden und ihr zu folgen."

Dann gibt es da noch diese Passage im Buch, in der er den Sänger Rafael beschreibt, die Figur, die dem Schriftsteller Ondaatje vielleicht am ähnlichsten und am nächsten ist: "Es war der Spätsommer seines Lebens, das Jahr, in dem er Anna begegnete, und er hätte nicht sagen können, ob es ihm jemals möglich sein würde, zu der eingrenzenden Arbeit der Kunst zurückzukehren, über das zu verfügen, was er benötigte, um auch nur das schlichteste Lied zu schaffen. Bis auf weiteres war es ihm genug, sich in die Dunkelheit aufzulösen."

Das ist die einzige persönliche Frage, die ich mich durch die Schutzhülle hindurch zu fragen traue, ob der Künstler Ondaatje dieses Gefühl kenne, es vielleicht vor dem Schreiben an "Divisadero" und währenddessen besonders stark empfunden habe. Da lacht er überraschend auf, schaut und sagt: "Das kann gut sein. Das kann sehr gut sein, dass Rafael mir hier besonders nahe ist."

Er gibt mir noch ein Exemplar der von ihm und seiner Frau herausgegebenen Literaturzeitschrift "Brick". Das Motto jeder Nummer stammt von Rilke: "Kunstwerke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie."

Ich bitte ihn noch, mir sein Buch zu signieren. Er schreibt rasant. Die Unterschrift ist nur ein Strich, vom einen Nichts ins andere, und nur am Ende ist ein kleiner Haken, wie ein Lächeln. Dann ist er auch schon weg.

VOLKER WEIDERMANN

Michael Ondaatje: "Divisadero". Deutsch von Melanie Walz. Hanser-Verlag. 276 Seiten, 21,50 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Thomas David preist den jüngsten Roman Michael Ondaatjes als Glanzpunkt seines bisherigen Schaffens und zeigt sich tief beeindruckt von der Schönheit und der geradezu mythisch anmutenden Eigenartigkeit. "Divisadero" handelt von drei durch Adoption verbundene Geschwister, die durch eine verbotene Liebe jäh wieder auseinander gerissen werden. Diese Zerrissenheit überführe der Autor auf bewunderungswürdige Weise auch auf die formale Ebene seines Romans, indem er Coop, Anna und Claire in einzelnen Kapiteln ihrer Vergangenheit nachspüren lässt, was wiederum nur in Erinnerungsfragmenten möglich ist. Zudem schreibt Anna an der Biografie eines vergessenen französischen Schriftstellers, die das letzte Drittel des Romans ausmacht, in dem sich nun wieder die Vergangenheit der Geschwister spiegelt, erklärt der Rezensent die verwickelte Struktur des Buches. Ein gewagtes Romanunternehmen, so David fasziniert, der das Ergebnis nichts weniger als vollkommen findet und darin das "poetische Vermächtnis" eines herausragenden Erzählers erkennt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Michael Ondaatjes neuer Roman markiert einen Höhepunkt in seinem Schaffen. ... Ein sonderbares, ein eigenartiges Buch: geheimnisvoll und einzigartig, eine ferne, wie von Dunst und Nebel durchzogene Landschaft, in der Scheunen zu erkennen sind, konturlos ineinanderfliessende Schatten, einzelne Figuren, die sich für Augenblicke in ihrer ganzen Gestalt zeigen, um dann wieder in den Nebel zurückzutreten. ... Eines von Ondaatjes anspruchsvollsten und schönsten Büchern." Thomas David, Neue Zürcher Zeitung, 06.09.07

"Ondaatjes unerreichte Kunst liegt unter anderem darin, in einzelnen Beobachtungs- und Erzählsplittern ein ganzes Leben aufscheinen zu lassen." Sigrid Löffler, Literaturen, 09/2007

"Ein sonderbares, eigenwilliges, bilderreiches, widerständiges, ein wunderschönes Buch, eine Liebesgeschichte, nein, viele Liebesgeschichten in einer, die Geschichte einer Selbstfindung, der Erschaffung einer eigenen Geschichte, einer Lebensgeschichte. ... Ondaatje beherrscht die Kunst, in wenigen Zeilen Bilder von mythischer Kraft und Farbigkeit zu schaffen." Volker Weidermann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.08.07

"Nicht die Figuren und Handlungsfäden halten "Divisadero" zusammen, es sind die Motive, die Bilder und ihre stete Wiederkehr, die Trost spenden und den Leser im Text heimisch lassen werden." Wieland Freund, Die Welt, 25.08.07

"Ein ganz besonderes, irgendwie geheimnisvolles Buch. Ein Roman für geübte, süchtige Leser." Elke Heidenreich, Lesen!, ZDF, 07.09.07

"Die Bilder, die Ondaatje malt, sind innig, seine Sprache ist genauso subtil wie gewaltig. Sie bohrt sich ins Herz, bis es weh tut und spürt, dass es am Leben ist." Brigitte, 29.08.07

"Es gibt wenige Erfahrungen innerhalb der zeitgenössischen Literatur, die einen ebenso sinnlichen und fesselnden Eindruck hinterlassen wie die langsame Lektüre eines Romans von Ondaatje." Pico Iyer, The New York Review of Books, 28.06.07

" Ondaatje beweist, dass er mitwenigen Zutaten eine atmosphärisch dichte Welt entwerfen kann." Julian Schütt, Die Weltwoche, 06.09.07

"Ondaatje ist ein Meister der Anmutung, des Atmospährischen, des Unausgesprochenen, und deshalb vielleicht machen seine Bücher glücklich. ... Und natürlich gibt es schöne Stellen in Fülle in diesem Roman, ja vielleicht ist 'Divisadero' insgesamt so etwas wie eine große schöne Stelle." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 12.10.07
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