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Er hat ein Leben lang geschrieben: Notizen, Beobachtungen, Aperçus, winzige Essays, Tag für Tag. Einfälle aller Art, Keime zu künftigen Werken, die er dann doch nicht verfasste. Versammelt waren sie auf losen Zetteln und in 205 kleinen Notizbüchern - und niemand wusste davon. Erst nach seinem Tod sind die Aufzeichnungen von Joseph Joubert erschienen (sein erster Herausgeber war im Übrigen sein Freund Chateaubriand). Und immer noch sind sie kaum bekannt. Die Wenigen, die sie kennen, sind glühende Verehrer, von Maurice Blanchot über Elias Canetti bis Paul Auster.Zu entdecken ist ein scharfer und…mehr

Produktbeschreibung
Er hat ein Leben lang geschrieben: Notizen, Beobachtungen, Aperçus, winzige Essays, Tag für Tag. Einfälle aller Art, Keime zu künftigen Werken, die er dann doch nicht verfasste. Versammelt waren sie auf losen Zetteln und in 205 kleinen Notizbüchern - und niemand wusste davon. Erst nach seinem Tod sind die Aufzeichnungen von Joseph Joubert erschienen (sein erster Herausgeber war im Übrigen sein Freund Chateaubriand). Und immer noch sind sie kaum bekannt. Die Wenigen, die sie kennen, sind glühende Verehrer, von Maurice Blanchot über Elias Canetti bis Paul Auster.Zu entdecken ist ein scharfer und wendiger Geist, der unaufhörlich in Bewegung ist und keine Themen scheut. Er schreibt über Leidenschaften, Fragen der Ästhetik und des Rechts, über optische Geräte, Moral, antike Kunst, über Politik und fremde Völker und Liebe. Alles interessiert ihn, nichts scheint seiner Betrachtung unwürdig. Sein schweifendes Nachdenken fördert ständig Überraschungen zutage, ist subtil und elegant, erfrischend und pointiert, ohne es auf Pointen anzulegen, zugleich intimes Selbstgespräch wie offene Auseinandersetzung mit der Welt. Sie werden staunen, wie nahe er uns damit heute noch ist
Autorenporträt
geboren am 1754 in Montignac, Périgord, gestorben am 1824 in Paris, studierte in Toulouse Rechtswissenschaft und Altertumswissenschaften. 1778 ging er nach Paris, wo er die Bekanntschaft von Denis Diderot machte, sich als hochgeschätzter Gesprächspartner unter den intellektuellen Größen seiner Zeit bewegte und sich mit Chateaubriand, Restif de la Bretonne u.¿a. befreundete. Von den politischen Entwicklungen nach der Französischen Revolution enttäuscht, lebte er später abwechselnd in Paris und zurückgezogen auf dem Land in Villeneuve-sur-Yonne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2018

Ein Werk, das nach Sonne riecht

Worte empfand er als Atem: Zu Lebzeiten erschien keine einzige Zeile von Joseph Joubert, zweihundert Jahre später ist nun ein großer Schriftsteller zu entdecken.

In 205 Hefte und auf zahllose Blätter und Zettel notierte Joseph Joubert in den Jahren zwischen 1776 und 1824 Bemerkungen zu seinen Lektüren und zu allen möglichen Themen und Phänomenen, die ihn beschäftigten: Stille und Lärm, Blick und Vorstellungskraft, Meinung und Gefühl, Leben in der Stadt und auf dem Land. Immer wieder erstaunen Joubert besonders das Körperliche und das Sprachliche. In der für ihn so charakteristischen Bildhaftigkeit zieht er eine scharfe Trennlinie zwischen einem "Werk, das nach Sonne riecht", und einem, "das nach Kerze riecht". Jouberts Notate sind selten länger als zehn Zeilen und - um in seinem Bild zu bleiben - riechen stets nach Sonne. Sie folgen unmittelbarer Anschauung, Kopfgeburten sind sie nie. Vielleicht deshalb verblüfft noch heute, was er vor zwei Jahrhunderten beobachtete und aufschrieb. Die poetische Betrachtung hat in Joubert einen seiner genauesten Verfechter gefunden: "In der Welt sind wir, was die Wörter in einem Buch sind", notiert er. "Jede Generation ist darin wie eine Zeile, ein Satz."

Rund 1300 Seiten umfassen die "Carnets", eine erst nach Jouberts Tod gebündelte Sammlung aus Aphorismen ähnelnden, für Sinnsprüche aber viel zu eigen- und widerständigen, da vielfach neu aufgegriffenen, verworfenen oder vertieften Gedanken. Von Beginn an wird darin alle Musealität konterkariert, so sehr überraschen moderne, ja zeitlose Ansätze einer auf Unabgeschlossenheit setzenden Suche weniger nach Wahrheit denn nach der Natur und Sprache des Zweifels, des Restes, des Randständigen und Offenbelassenen. In ihrer gedanklichen Schärfe und kompakten Dichte erinnern viele Notizen an Lichtenbergs Aufzeichnungen, nur fehlt ihnen der Sarkasmus der "Sudelbücher". Emily Dickinsons Gedichten ist Jouberts neugieriger Esprit ähnlicher. So heißt es bei ihm: "Die Notiz ist besser als das Buch", doch auch Dickinsons Vers könnte aus Jouberts Feder stammen: "Ich wohne in der Möglichkeit - ein helleres Haus als die Prosa." Weshalb sich über die Jahrhunderte hinweg der Zauber Jouberts erhalten hat, zeigt exemplarisch eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1800, niedergeschrieben wenige Monate nach Napoleons Staatsstreich: "Wenn eine Vase im Wasser zerschlagen wird, die eine Flüssigkeit enthält, behält diese Flüssigkeit, die sich mit dem Wasser vermischen und zerfließen wird, eine Zeitlang die Gestalt der Vase, die sie enthielt."

Geboren 1754 in Montignac im Périgord, geht Joubert nach dem Besuch eines geistlichen Kollegs in Toulouse mit Mitte zwanzig nach Paris, wo er Eingang findet in die intellektuelle Bohème. Er lernt D'Alembert kennen, Fontane und Restif de La Bretonne, mit dessen Frau er eine Affäre hat. Der junge Chateaubriand bewundert seine selbstlose Aufgeschlossenheit. In den Jahren nach der Revolution ist Joubert Friedensrichter in der Dordogne, heiratet die Tochter des betuchten Generalstaatsanwalts am Pariser Parlament und verfügt von da an über einen Landsitz in Villeneuve-sur-Yonne. Er wird Vater, pendelt zwischen dem Land und der Hauptstadt, wo ihn Diderot zu seinem Sekretär macht, ehe Fontanes den Kaiser überzeugen kann, Joubert zum Oberaufseher der Université de Paris zu ernennen. Er stirbt 1824 als ein angesehener, wohlhabender Bürger.

Von alledem steht in seinen Notizen nicht das Geringste. Eine Zeitlang schreibt Joubert an einem Nachruf auf den Bildhauer Pigalle, kurz darauf entwirft er eine Eloge auf James Cook, verzettelt sich jedoch in Recherchen und lässt beides bleiben. Stattdessen notiert er: "Ein Gedanke ist eine ebenso reale Sache wie eine Kanonenkugel" und noch kompromissloser: "Ohne Körper leben!" Joubert veröffentlicht nie auch nur eine einzige Zeile.

Dem Verleger Jochen Jung und dem Übersetzer Martin Zingg ist es zu verdanken, dass auch im deutschsprachigen Raum eine Reihe fortgeführt wird, die seit 180 Jahren Jouberts Vergessenwerden verhindert. Angestoßen hatte diese Reihe Jouberts Witwe Adeline: Sie übergab den Nachlass ihres Mannes dem alten Chateaubriand, der 1838 eine "Blütenlese der Gedanken des Herrn Joubert" herausgab. Matthew Arnold widmete sich in seinen 1865 erschienenen "Essays in Criticism" Jouberts Sonderstellung und verglich ihn ausführlich mit keinem Geringeren als Coleridge. Der umstrittene französische Kritiker Sainte-Beuve würdigte Joubert, und Stefan Zweig übersetzte Sainte-Beuves "Portraits littéraires" ins Deutsche, darunter auch eines von Joubert. Elias Canetti notierte, Joubert nehme Geistiges auf, als wäre es eine Bewegung der Luft: "Gedanken und Worte empfindet er als Atem oder als das Auf- und Niederschweben von Vögeln." Maurice Blanchot bescheinigte Joubert visionäre Kraft, denn er habe nicht geschrieben, "um Buch an Buch zu reihen, sondern um die Herrschaft über jenen Punkt zu erlangen, aus dem, wie er meinte, alle Bücher hervorgehen und der ihn, hätte er ihn einmal gefunden, der Aufgabe entheben würde, welche zu schreiben".

Blanchots Essay "Joubert und der Raum" von 1959 war für den jungen Paul Auster der Anlass, Joubert 1983 ins Englische zu übersetzen. Austers Nachwort zu dieser Publikation bildet den Abschluss von "Alles muss seinen Himmel haben", einer von Martin Zingg punktgenau getroffenen und so verschmitzt wie warmherzig, so elegant wie konzise übertragenen Auswahl. "Je mehr man von Joubert liest, desto mehr will man ihn lesen", schreibt Auster. "Er fesselt einen mit seiner Diskretion und Aufrichtigkeit, mit seiner umstandslosen Brillanz und mit seinem überaus eigenwilligen Blick auf die Welt."

Dass die Notizen damit in der Gegenwart angekommen sind, möchte man nicht nur ihm wünschen, dem - wie Paul Auster ihn nennt - "unsichtbaren Joubert". Dessen im besten Sinn bescheidenes Werk steht unter dem Stern einer erfüllten Individualität, die er jedem Lebewesen zubilligt. Für Joubert sind Notizen alles andere als Vorstufen oder Ausschuss, sie bilden nicht nur die Grundlage seines Werks, sondern eines selbstbestimmten Lebens. "Alle Anstrengungen der Intelligenz und des menschlichen Fleißes", notiert er 1779, "können nur ein Ziel haben: die individuellen Grenzen des Menschen zu erweitern."

MIRCO BONNÉ

Joseph Joubert: "Alles muss seinen Himmel haben". Aus den Notizen.

Ausgewählt, aus dem Französischen und mit einem Vorwort von Martin Zingg. Nachwort von Paul Auster. Jung und Jung, Salzburg 2018. 168 S., geb., 20,- [Euro].

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