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Der Osten - die neue Dimension Europas
Mit der Wende von 1989 ist die ursprüngliche Vielgestaltigkeit des ehemals grauen »Ostblocks« wieder hervorgetreten, dessen Geschichtsraum nicht zuletzt durch seinen deutschen Anteil geprägt wurde. Weit jenseits der älteren Geringschätzung der slawischen Völker durch ihre deutschen Nachbarn und zugleich bahnbrechend in der Überwindung national begrenzter Geschichtsschreibung unternimmt der Band eine Gesamtschau, in der sich die Wurzeln der heutigen Völker und Staaten des östlichen Europa im Mittelalter offenbaren, als vor allem im zehnten Jahrhundert…mehr

Produktbeschreibung
Der Osten - die neue Dimension Europas

Mit der Wende von 1989 ist die ursprüngliche Vielgestaltigkeit des ehemals grauen »Ostblocks« wieder hervorgetreten, dessen Geschichtsraum nicht zuletzt durch seinen deutschen Anteil geprägt wurde. Weit jenseits der älteren Geringschätzung der slawischen Völker durch ihre deutschen Nachbarn und zugleich bahnbrechend in der Überwindung national begrenzter Geschichtsschreibung unternimmt der Band eine Gesamtschau, in der sich die Wurzeln der heutigen Völker und Staaten des östlichen Europa im Mittelalter offenbaren, als vor allem im zehnten Jahrhundert Polen, Tschechen und Ungarn wie auch Alt-Russland ihre Identitäten als Fürstenstaaten und Kulturen gewannen.
Die mittelalterliche Geschichte des weiten Landes im Osten Europas ist eine Geschichte der Bildung von Stämmen, Völkern und Nationen und ihrer Europäisierung. Es ist eine Geschichte, an der Kaiser und Päpste mitwirkten, kriegerische Wikinger und Tataren, christliche Missionare und Kreuzritter, wagemutige Fernhändler, Städtegründer und bäuerliche Kolonisten. Tapfere Fürsten und demütige Märtyrer, glorreiche Siege und vernichtende Niederlagen lieferten den Stoff für Legenden, die bis heute die historische Erinnerung der slawischen und baltischen Völker und der Ungarn prägen.
Reichhaltig mit Abbildungen und Karten versehen, zeichnet der Band die Geschichte des gesamten Raumes zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Donau und Wolga nach.

Ausstattung: mit ca. 100 Abbildungen, Landkarten, Illustrationen; Band 2 der vierbändigen Reihe "Die Deutschen und das europäische Mittelalter"
Autorenporträt
Christian Lübke, geboren1953 in Langenhain/Hessen, Studium der Osteuropäischen Geschichte und Slavistik, 1980 Promotion in Gießen; 1996 Habilitation FU zu Berlin. Arbeitsschwerpunkt: Deutsch-slawische Beziehungen. Leitung des Arbeitsgebiets "Germania Slavica" im Leipziger 'Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas'. Seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Greifswald.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2004

Das Vordringen der Wallanlagen
Christian Lübkes gelungene Geschichte des östlichen Europas

Nach Birgit und Peter Sawyers Werk über die Wikinger erscheint als zweiter Band von Siedlers vierteiliger Reihe zum Umfeld der Deutschen im Mittelalter Christian Lübkes Darstellung über "Das östliche Europa". Dieser Teil des Kontinents hat seit dem Ende des Ersten Weltkrieges tiefergreifende Einschnitte erlebt als der Westen: Die epochale Serie begann mit dem Ende von drei Kaiserreichen und wurde mit der Auflösung der Sowjetunion, der Renaissance der erst Jahrzehnte zuvor inaugurierten Staatenvielfalt sowie dem Krieg im zerfallenden Jugoslawien fürs erste beschlossen. Der Autor, seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte in Greifswald, hat im Vorwort die grausigen Aspekte des vergangenen Jahrhunderts nur streifen müssen und kann am Ende Erinnerungen an glücklichere Ereignisse der Vergangenheit aufgreifen, die nach der Wende von 1989 aufs neue geweckt werden konnten. Genannt werden die Jahrtausendfeiern zum Gedenken an den aus Böhmens Adel stammenden Märtyrer Adalbert, an Kaiser Otto III., Polens Fürst Boleslaw Chrobry und Ungarns König Stephan den Heiligen.

Lübke weiß, daß Polen oder Tschechen indigniert sein können, wenn vor allem Deutsche ihre Heimatländer als Bestandteile Osteuropas bezeichnen. Ein Blick auf eine vom Ural bis zum Atlantik reichende Karte genügt, um zu erkennen, daß Böhmen oder Tschechien im Zentrum der dem asiatischen Kontinent vorgelagerten Halbinsel liegt - und das Polen der Zeit vor 1945 mußte schon aus geographischen Gründen zu Europas Mitte gerechnet werden, in die es dann noch weiter hineinrücken konnte.

Ursprung und Bedeutung der Namen Ost-, Westmittel- oder Ostmitteleuropa erläutert der Autor mit dem Verweis auf das 1952 in deutscher Übersetzung erschienene Werk des polnischen Historikers Oskar Halecki, dessen englisches Original den damals östlich des Eisernen Vorhangs als anstößig oder strafbar gewerteten Titel "Borderlands of Western Civilization" trug und den deutschen Lesern als "Grenzraum des Abendlandes" präsentiert wurde. Lübke greift zurück in die Geschichte dieser mit politischen Sprengsätzen geladenen Namen und Begriffe, skizziert die vor dem Zerfall der Habsburger-Doppelmonarchie einsetzende Debatte über die Gestaltung des Raums zwischen Rußland und dem von Preußen dominierten Deutschen Reich, erwähnt die seit 1933 geförderte "Ostforschung", deren Bemühen, das einstige Ausmaß deutschen "Volks- und Kulturbodens" zu ermitteln, erst jüngst aufgeklärt wurde.

Der zeitliche Rahmen von Lübkes Geschichte läßt sich anhand von zwei Karten auf den Vorsatzblättern eingrenzen. Die erste illustriert mit zahlreichen Völkernamen den Zustand der Welt östlich der Elbe und nördlich der Donau gegen Ende des neunten Jahrhunderts, wie er in historischen und ethnographischen Quellen aus Antike und Frühmittelalter bezeugt ist. Die zweite vermittelt einen Überblick über die hier inzwischen etablierten Reiche und Fürstentümer gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts. Viele auf der ersten Karte verzeichnete Namen vor allem slawischer Völker finden sich in einer vermutlich im Regensburg des neunten Jahrhunderts konzipierten "Beschreibung der Burgen und Regionen am nördlichen Ufer der Donau", die zunächst wohl nur die unmittelbar ans Frankenreich grenzenden Gebiete berücksichtigte, dann durch ebenfalls karge, aber aufschlußreiche Notizen über den gesamten Osten bis zur Wolga ergänzt wurde. Lübke übersetzt und erläutert das als Foto reproduzierte Dokument, wobei er hier wie in anderen Abschnitten auf seine die verstreuten Quellen erfassenden und referierenden "Regesten zur Geschichte der Slawen an Elbe und Oder" zurückgreifen konnte. Dieses bahnbrechende Werk dient jetzt als Grundlage für eine brillant geschriebene Geschichte der Zeit vom zehnten bis zum frühen dreizehnten Jahrhundert.

Indes erweist sich Lübke auch außerhalb seines Spezialgebietes als vortrefflicher Erzähler. Die Anfänge der Entwicklung stellt er unter den von dem polnischen Historiker Alexander Giesztor geprägten Begriff einer "Grauzone", deren naturräumliche Gegebenheiten ebenso übersichtlich beschrieben werden wie die dank intensiver Archäologie ermittelten Kenntnisse über den Bau von Häusern und oft weiträumigen Burgen oder Wallanlagen, die in fränkisch-lateinischen Quellen der Zeit als "civitates" (Burgen) bezeichnet wurden und als Kult- oder Herrschaftszentren dienen konnten. Die Routen des Fernhandels werden auf der Grundlage von Reiseberichten jüdischer und arabischer Kaufleute sowie von Schatzfunden nachgezeichnet. Das erwähnte Regensburger Dokument läßt erkennen, daß die seit Karl dem Großen als Nachfolger der Caesaren auftretenden Frankenkönige Pläne erwogen, ihre Herrschaft und damit das römisch-lateinische Christentum in Europas Orient zu tragen, wo allerdings die Kaiser des Westens sowie ihre Päpste von Anfang an auf die Konkurrenz aus Konstantinopel stießen.

Der Wettstreit beider Reiche um Einfluß und Herrschaft in Regionen mit überwiegend slawischen, aber auch baltischen und finno-ugrischen Stämmen und Völkern ist ein wichtiges Leitmotiv von Lübkes Geschichte. Er zieht sich hin von Karl dem Großen über das von Kyrill und Method missionierte, am Ende von den Ungarn zerstörte Großmährische Reich, über die Ottonen, Heinrich den Löwen, den Deutschen Orden bis zu dem von einer premyslidischen Mutter stammenden Luxemburger Karl IV. Der hat zwar nach seiner Kaiserkrönung versucht, die letzten Heiden Europas, die vom Deutschen Orden bekämpften Litauer, auf diplomatischem Wege von Segen und Nutzen des christlichen Glaubens römischer Prägung zu überzeugen, ist damit aber an Mißtrauen und politischem Geschick von deren Fürsten gescheitert.

Nach Karls Tod hat Großfürst Jagiello durch seine Ehe mit Hedwig, der jüngeren Tochter König Ludwigs des Großen von Ungarn und Polen, deren polnisches Erbe gewinnen können. Den dazu erforderlichen Wechsel des Bräutigams mit allen Bewohnern seiner Länder zum Glauben der Heiligen Römischen Kirche kündigte Jagiello im August 1385 zu Krewo mit dem Zusatz an, daß sich schon viele Kaiser und Fürsten vergeblich bemüht hätten, dieses Ziel zu erreichen; Gott habe diese Ehre seiner (nunmehr) königlichen Majestät vorbehalten. Niemand, weder der Kaiser von Rom noch der damals von den Türken umzingelte Basileus in Byzanz oder ein sonstiger Fürst lateinischer oder griechischer Konfession, durfte das stets mit weniger frommen Absichten einhergehende Verdienst in Anspruch nehmen, die Litauer zum wahren christlichen Glauben bekehrt zu haben, sondern nur Gott und der Täufling selbst.

Lübke versteht es nicht nur an dieser Stelle, seinem mit der Sache weniger vertrauten Publikum den springenden Punkt des Geschehens vor Augen zu führen. Die von anderen Autoren mühselig analysierten Bedingungen für den Aufstieg von nomadisierenden, allenfalls ihre Nachbarn behelligenden Reiterkriegern zu alle Welt in Angst und Schrecken versetzenden Herrschern dokumentiert er mit einem Zitat aus der einzigartigen Inschrift des osttürkischen Bilgä-Khan, die den Aufstieg von dessen Vater schildert: Der Khagan habe mit einem Trupp von siebzehn Leuten ein Heer von anfangs 70, später 700 Mann um sich versammelt, dieses einer straffen Organisation unterworfen und sei dann über die Feinde wie Wölfe über die Schafe hergefallen.

Heerscharen dieser Art haben Europa mehrfach heimgesucht. Vor allem das Schicksal der russischen Fürstentümer wurde von ihnen geprägt. Für deren noch nicht vom Mongolensturm beeinträchtigte Frühgeschichte greift Lübke auf Erzählungen der von Anfang an mit den Werken von Franken oder Sachsen ebenbürtigen Historiographie in der Kiewer Rus zurück, erörtert, unter Berücksichtigung der jüngsten archäologischen Forschung, die vor allem in der Nestor-Chronik aus dem Anfang des zwölften Jahrhunderts bezeugte warägisch-skandinavische Komponente der Reichsgründung im Osten Europas. Auch die Entwicklung im piastischen Polen mit der hier entwickelten Dienstverfassung wird gewürdigt sowie die sich bald auf die eine Dynastie der Premysliden konzentrierende Entwicklung in dem mit dem Rest des Großmährischen Reiches vereinigten Böhmen.

Dessen Strukturen unterschieden sich unverkennbar von denjenigen anderer Fürstentümer im römisch-deutschen Reich und ermöglichten es Karl IV. als dem Erben dieser slawischen Dynastie, seine durch die Wahl gewonnene Herrschaft über das Römische Reich des Westens auszubauen. Lübkes Werk über das östliche Europa kann wie der vorausgegangene Band über den Norden als ein trefflich gelungener Versuch gewertet werden, die Erinnerung an die kollektive Identität dieser Welt wiederzuerwecken.

HEINZ THOMAS

Christian Lübke: "Das östliche Europa". (Die Deutschen und das europäische Mittelalter). Siedler Verlag, München 2004. 544 S., 100 Abb., geb., 60,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2004

Kein Volk, kein Reich, kein Führer
Christian Lübke entwirrt die verwirrende Geschichte Osteuropas
Abgesehen von der Herrschaft der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Geschichte der Völker östlich von Deutschland nie so homogen erscheinen können wie die der westlichen Länder. Im Mittelalter gab es dort kein Heiliges Römisches Reich, das in der Mitte des Kontinents eine, wenngleich problematische, Ordnung herstellte, es gab kein Spannungsverhältnis von Monarchie und Feudalismus, durch das der Okzident zum Vorreiter sozialer, wirtschaftlicher und intellektueller Entwicklungen wurde, und nur teilweise wirkte hier das Papsttum ein, dem europageschichtlich ansonsten die religiöse Durchdringung des Diesseits in singulärem Maße gelang.
So widersprüchlich, verworren und instabil erschienen lange die Geschichten der Ethnien und Staaten zwischen Elbe und Ostsee, Wolga, Kaukasus, Schwarzem Meer und Adria, dass sich bisher kein Geschichtsschreiber den ganzen Raum als Aufgabe stellen mochte. Unklar blieb schon, wie der Gegenstand zu umreißen wäre. Natürlich mag heute niemand mehr das östliche Europa auf ein Glacis deutscher Politik, deutscher Kolonisation oder Kulturverbreitung verengen, wie es im vorigen Jahrhundert geschehen ist; aber wer dem Raum sein Eigengewicht geben möchte, gerät mit den Begriffen in Schwierigkeiten.
Tschechische, ungarische und auch polnische Historiker sprechen gern von „Ostmitteleuropa”, um die Geschichte ihrer Völker gegen Russland zu profilieren. Gehörten dann aber das Baltikum und der Balkan dazu? Amerikanische Autoren der Gegenwart würden, anders als die meisten Europäer, das eine verneinen, das andere bejahen. Kann man ferner Ungarn zu Ostmitteleuropa rechnen, ohne Byzanz einzubeziehen, das es nachhaltig geprägt hat? Und müsste, wer Südosteuropa mit dem alten Kaiserreich berücksichtigte, nicht auch wieder das orthodoxe Russland hinzurechnen?
Russland gehört dazu
Der eminent schwierigen Herausforderung, eine Geschichte ohne Zentrum zu schreiben, wie es das östliche Europa verlangt, hat sich der Greifswalder Historiker Christian Lübke mit Mut, Sachverstand und Augenmaß gestellt. Zwar ist sein Buch in einer Reihe erschienen, die das Verhältnis des mittelalterlichen Deutschland zu seinen Nachbarn in vier Himmelsrichtungen bestimmen soll, aber Lübke ist nie in der Versuchung gewesen, den Osten (allein) als Objekt deutscher Einwirkungen darzustellen; andererseits vermied er es, die betreffende Region isoliert zu betrachten. Sein Thema ist auch nicht „Ostmitteleuropa”, sondern das „östliche Europa” einschließlich des alten Russlands.
Der Autor hat sein Buch am Vorabend des Beitritts zahlreicher osteuropäischer Staaten zur Nato oder EU vorgelegt, dabei aber jeder Anpassung an das politisch Korrekte widerstanden. Die Erweiterung der Europäischen Union bedrücke manchen, wie er schreibt, mit dem Problem, ob die neuen, polnischen Außengrenzen nicht zu durchlässig seien. Dabei werde übersehen, dass hier Gebiete voneinander getrennt würden, die eine gemeinsame Geschichte haben, eine Geschichte, die nach Westen wie nach Osten zugleich verweise: „Das historische und kulturelle Europa endet nicht an der polnischen Ostgrenze, und es endet auch nicht an den heute noch weiter im Osten verlaufenden Grenzen Russlands.” Die „Welt im Osten”, die vor mehr als tausend Jahren ins Blickfeld Europas getreten sei, habe seitdem an seiner Gestaltung mitgewirkt und die lateinische Welt immer wieder herausgefordert; Europa sei daran gewachsen.
Diese Botschaft konnte Lübke allerdings nur um den Preis räumlicher und zeitlicher Beschränkungen vermitteln, die einem einzigen Leitmotiv folgten. Der Autor entschied sich dafür, Südosteuropa gänzlich auszuklammern und seine Darstellung vom Auftauchen der Slawen im fünften Jahrhundert bis zur Christianisierung Litauens 1386 zu führen. Mit beiden Ansätzen waren die großen Reichsbildungen im Osten Europas beiseite gelassen: das Kaiserreich von Byzanz, das schon aus der Antike stammte, ebenso, wie die polnischlitauische Union und das Moskauer Fürstentum seit dem späten Mittelalter. Auch die „Goldene Horde” der Mongolen wurde nur berücksichtigt, soweit es die Geschichte der russischen Herrschaften verlangte. Imperiale Traditionen sind nicht das, was gegenwärtigen Europäern zur Bewältigung ihrer eigenen politischen Aufgaben aus dem Mittelalter nahegebracht werden muss.
Zahlung gern in Naturalien
Die Aporien der Historiographie beiseitegelassen, gelingt es Christian Lübke, durch einen ständigen Wechsel der Schauplätze im Rahmen der chronologischen Ordnung den Raum seiner Erzählung hervorzubringen. Da er nur über wenige Leitüberlieferungen verfügt, muss er seine Bilder mit Quellensplittern ganz verschiedener Herkunft, nicht zuletzt aus Berichten arabischer oder jüdischer Reisender, zusammensetzen. Als überaus wertvoll erweisen sich die archäologischen Funde, aber auch die Einsichten der Ethnologie bei der Interpretation der Zeugnisse.
Ein Glanzstück des Buches ist die Deutung der akephalen, also fürstenlosen, politischen Systeme bei den frühesten Slawen; wie Lübke zeigt, waren solche „segmentären” Gesellschaften, die auf Sippen und Siedlungsgefilden beruhten, auch ohne ständige Monarchen durchaus zur Integration größerer Einheiten in der Lage, sie konnten sich aber unter Druck von außen auch zu verdichteten Herrschaften fortentwickeln. Schon im Großmährischen Reich, das bis zum Beginn des zehnten Jahrhunderts bestand, bildeten sich die für das östliche Europa charakteristischen Gefolgschaften heraus, die nicht - wie das Feudalsystem im Westen - auf Lehen und Vasallität beruhten; stattdessen wurden die Krieger der Fürsten mit Einkünften aus Handel, Kriegsbeute und Erträgen spezialisierter Produzenten entlohnt, die in besonderen Ortschaften angesiedelt waren. Diese Dienstorganisation hatte bei den Rus länger Bestand als bei Böhmen, Polen und Ungarn. Ein überragendes Kennzeichen des östlichen Europa war der Fernhandel, sei es, dass die Skandinavier zwischen Ostsee, Schwarzem und Kaspischem Meer die Wasserstraßen von Norden nach Süden befuhren, sei es, dass man sich vom Mittelrhein oder von Bayern aus nach Osten wandte. Als die Ungarneinfälle den Verkehr auf der Donau zum Erliegen brachten, bildete sich eine neue Route zu Lande von Regensburg über Prag nach Krakau, Przemysl und Kiew heraus, die bis ins Kalifat weiterführte. Es waren deshalb auch Handelsplätze wie Prag in Böhmen oder Visby auf Gotland, an denen sich Menschen verschiedener Zungen und Religionen begegneten und ansiedelten.
Ethnische, religiöse und politische Vielfalt ist - zweifellos mehr als im Westen Europas - das Kennzeichen der ganzen Region gewesen. Um diesen Befund stärker zu profilieren, hätte der Autor besser nicht das alte Fehlurteil wiederholen sollen, dass die Litauer als letztes der europäischen Völker zum Christentum übergetreten seien. Denn schon im dreizehnten Jahrhundert waren Dominikanermönche etwa bei Wolgaungarn oder nomadisierenden Kumanen mit der Verbreitung des Christentums gescheitert, als die Mongolen von Asien her einfielen und auf mittlere Sicht die Stellung des Islam im mittelalterlichen Europa stabilisierten.
MICHAEL BORGOLTE
CHRISTIAN LÜBKE: Das östliche Europa. (Die Deutschen und das europäische Mittelalter.) Siedler Verlag, München 2004. 544 Seiten, 60 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieser Band von Christian Lübke, seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte in Greifswald, erscheint als zweiter Band von Siedlers vierteiliger Reihe zum Umfeld der Deutschen im Mittelalter, informiert uns Heiz Thomas. Der Rezensent lobt den Band insgesamt als "trefflich gelungene" Geschichte des östlichen Europas, und den Autor als vortrefflichen Erzähler - auch außerhalb seines Spezialgebietes. Außerdem lobt Thomas die umsichtige Auseinandersetzung Lübkes mit der Geschichte "mit politischen Sprengsätzen" geladener Begriffe wie "Ost-, Westmittel- und Ostmitteleuropa", seine Darstellung der "naturräumlichen" Voraussetzungen der Geschichte im behandelten Raum, der Bedeutung des Fernhandels für diese Weltregion und des Wettstreits verschiedener Reiche um den Einfluss und die Vorherrschaft in diesen Gebieten mit überwiegend slawischen, aber auch baltischen und finno-ugrischen Stämmen und Völkern.

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