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Berlin gilt als Stadt im ewigen Wandel und das Lebensgefühl im »Neuen Berlin« nach der Wende verkörpert niemand so gut wie die Underground-Szene. Diese Szene schweift im Stadtraum umher und funktioniert seine Leerstände zu »locations« um. Sie inszeniert sich als Subkultur und verweigert jegliche Kategorisierung. Die Autorin hat in intensiven Feldforschungen diese Szene aufgespürt und untersucht. Sie betritt damit Neuland in der Erforschung der Großstadt. Ihre Studie zeigt, wie durch Szenen eine spezifisch urbane Kultur entsteht und das Imaginäre der Stadt geformt wird. "Unser Verständnis von…mehr

Produktbeschreibung
Berlin gilt als Stadt im ewigen Wandel und das Lebensgefühl im »Neuen Berlin« nach der Wende verkörpert niemand so gut wie die Underground-Szene. Diese Szene schweift im Stadtraum umher und funktioniert seine Leerstände zu »locations« um. Sie inszeniert sich als Subkultur und verweigert jegliche Kategorisierung. Die Autorin hat in intensiven Feldforschungen diese Szene aufgespürt und untersucht. Sie betritt damit Neuland in der Erforschung der Großstadt. Ihre Studie zeigt, wie durch Szenen eine spezifisch urbane Kultur entsteht und das Imaginäre der Stadt geformt wird. "Unser Verständnis von Urbanität und urbanem Wandel ist durch diese Untersuchung zweifellos neu justiert worden."Rolf Lindner, Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2010

Locations lassen sich überall finden
Mit Bordieu am Prenzlauer Berg: Anja Schwanhäußers Ethnographie des Berliner Techno-Underground

Das Fach Ethnologie lässt an weit entfernte Zivilisationen und fremde Völker denken. Die Autorin Anja Schwanhäußer hat ihr Studienobjekt dagegen in der deutschen Hauptstadt gefunden. Es geht um eine Personengruppe, die in und um Berlin Tanzveranstaltungen mit überwiegend elektronischer Musik organisiert und sich dafür temporäre locations zu eigen macht. In der auf etwa 300 bis 3000 Leute geschätzten Gemeinschaft hat die Autorin eine zwölfmonatige Feldforschung durchgeführt und diese zu ihrer "Ethnografie einer Berliner Szene" verarbeitet.

Was darf der Leser von einer solchen Bestandsaufnahme erwarten? Zunächst eine Beschreibung dieser Szene, die sich nicht nur auf Fakten und Verhaltensweisen beschränkt, sondern über die Mentalitäten der Akteure aufklärt. Die Stadtethnologin Schwanhäußer schafft für ihre Untersuchung einen theoretischen Rahmen, der hier nur kurz angedeutet werden soll. Für die Akteure der "Szene" (ein offenerer Begriff als Subkultur) operiert sie mit dem Konzept des neuen Kleinbürgertums nach Pierre Bourdieu. Ihre zentrale Analysekategorie ist der Raum: Er verliert seine früheren Funktionalitäten, wird zur location verwandelt und auf atmosphärische Qualitäten (Gernot Böhme) hin für events inszeniert - diese Tendenz beginnt bei einer gemütlichen illegalen Lounge in einem leerstehenden Ladenlokal und endet bei knallhartem Stadtmarketing, siehe Love Parade Duisburg.

Schon die Benennung der untersuchten Gruppe ist aufschlussreich. Die Akteure selbst fühlen sich kurz und knapp "der Szene" zugehörig. Sie bleiben dabei gerne unspezifisch, weil es zu ihren Idealen gehört, möglichst offen zu sein und Leute zusammenzubringen. Die Autorin hat sich für ihre Gruppe zu dem Behelf "Techno-Underground" durchgerungen - ein Begriff, der den subkulturellen Hintergrund berücksichtigen soll. Dessen Wurzeln sieht sie in der Hausbesetzer- bzw. Wagenburgszene, der Hippiekultur sowie in der Prenzlauer-Berg-Boheme der achtziger Jahre. Eine Reihe lebendiger Kurzporträts hilft, die Akteure und ihre Hintergründe greifbar zu machen.

Die Darstellung relativiert gängige Klischees über die Partyszene, so etwa die Vorstellung von hemmungslosem Drogenkonsum. Sicherlich werde auf den Veranstaltungen fleißig gekifft. Exzessiven und härteren Drogenkonsum lehnen die Beteiligten aber zumeist ab, "weil die Sensibilität für das gesellige Miteinander verlorengeht, das ja den Kern der Szeneexistenz ausmacht". Auch Sex-Phantasien werden ins Reich der Mythen verwiesen.

Mit einem weiteren Trend setzt sich Anja Schwanhäußer ausführlich auseinander: Der Techno-Underground erobert das Berliner Umland für sich. Die Natur wird jedoch nicht wie zu Hippie-Zeiten idealisiert, sondern mit Möbeln, Dekoration und Technik in Szene gesetzt.

Der Autorin gelingt es sehr gut, eine Vielzahl von Phänomenen treffend zu beschreiben. Auch ökonomische Aspekte werden berücksichtigt: Der Techno-Underground trägt mit seinem kreativen Potential entscheidend zum "neuen Berlin" bei, liefert damit aber zugleich den Rohstoff für die Festivalisierung der Stadt. Nur wenige Akteure profitieren davon, viele leben in sehr unsicheren Verhältnissen und leiden langfristig darunter.

Geld ist folglich nicht die Triebfeder der Szene - was ist es dann? Darauf hätte man sich eine etwas deutlichere Antwort gewünscht. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass ein möglicher Lösungsansatz stiefmütterlich behandelt wird: die Inhalte der Veranstaltungen, insbesondere die Musik. Sie wird überwiegend als rein funktionales Phänomen dargestellt, das "dem Augenblick eine klangliche Tönung" gebe, ihn "lediglich ästhetisch untermalt". Der Techno-Underground besteht aber zu einem gewichtigen Teil aus Musikern, DJs, Veranstaltern - daher rührt das attestierte kreative Potential - sowie einem hohen Anteil kritischer Hörer. Für sie hat Entdeckungslust, Weiterentwicklung und Förderung von Musik nicht nur eine "zentrale Bedeutungsdimension" (Schwanhäußer), sondern ist Impuls und Motivation für die Aneignung von locations.

Diese unglückliche Gewichtung von Raum und Inhalt führt zu einigen Fehleinschätzungen. So sind Künstler und Musiker vielfach Respektspersonen in der Szene, nicht nur Leute aus dem Besetzer- oder Hippieumfeld, wie die Autorin meint. Verwunderlich ist auch, dass die Autorin als Territorium der Berliner Szene Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg nennt, aber den Bezirk Mitte nicht erwähnt, obwohl dieser auf eine Vielzahl temporärer Orte verweisen kann. Diese Anmerkungen sollen aber den grundsätzlichen Verdienst von Anja Schwanhäußer nicht schmälern. Sie hat eine große Herausforderung bewältigt: über eine im weitesten Sinne subkulturelle Szene objektiv und nicht peinlich zu schreiben.

OLIVER ILAN SCHULZ

Anja Schwanhäußer: "Kosmonauten des Underground". Ethnografie einer Berliner Szene.

Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 333 S., br., 34,90 [Euro]

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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01.10.2010, De:Bug, Kosmonauten des Underground: "Ein Buch, das nicht einfach ein theoretisches oder herbeifantasiertes Raster über eine Szene legt, sondern extrem detailliert jeden Aspekt dieses Untergrunds in gleißend klares, wissenschaftliches Licht rückt, ohne ihm dabei auch nur einen Funken Faszination zu rauben. Allein deshalb schon ist es das Buch über die Berliner Technoszene, das so voller grandioser Sätze steckt, dass man ständig in lautes Lachen ausbricht."

01.10.2010, Groove, Aus den Untiefen des Sumpfs: "Für alle, die wissen wollen, wo die Ursprünge der heute weitgehend im Mainstream gelandeten Openair-Kultur Berlins liegen, bietet das Buch eine Fülle an Informationen, Anekdoten und Tratsch."

28.10.2010, jetzt.de: "Die Kultur des Temporären wird bleiben"

"Anja Schwanhäußer hat den Berliner Techno-Underground erkundet - und eine lesenswerte Doktorarbeit über die Szene geschrieben. Die musikalische Seite ist dabei eher nebensächlich. Im Vordergrund steht die Entwicklung einer urbanen Kultur im Berlin nach der Wende."

01.11.2010, Cicero, Kosmonauten des Underground: "Eine akademische Studie über die Berliner Boheme als Massenphänomen."

11.11.2010, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Locations lassen sich überall finden: "Anja Schwanhäußer hat eine große Herausforderung bewältigt: über eine im weitesten Sinne subkulturelle Szene objektiv zu schreiben."

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Philipp Goll zeigt sich nicht recht überzeugt von Anja Schwanhäußers ethnologischen Untersuchungen des Berliner Undergrounds, wobei er grundsätzlich Zweifel an dessen Untergründigkeit anmeldet. Denn erstens liegt das Thema im Trend, wie sich in mehreren Publikationen zeigt, zweitens werden die subversiven Ortsbesetzungen und Party-Zwischennutzungen mittlerweile durchaus offiziell vermarktet, so der Rezensent. Einige Erkenntnisse will er dann aber doch aus dem Buch mitgenommen haben, das "Kommunikationsweisen, Distinktionspraktiken und Lebensstile" der Party-Szene vor allem anhand von Flyern untersucht. Überwiegend "banal" dagegen scheinen Goll die persönlichen Beobachtungen der Autorin, wie etwa ihre Vermutung, die ausgesuchte Schmuddeligkeit der Szenekleidung verdecke möglicherweise ihre Hochpreisigkeit. Zudem bemerkt er eine gewisse theoretische Überfrachtung und auch die von Schwanhäußer in Anlehnung an Hakim Bey konstatierte politische Ebene der Szene sieht Goll mittlerweile dann doch eher einem ausgeprägten "Hedonismus" gewichen.

© Perlentaucher Medien GmbH
"(...) Anja Schwanhäußer gelingt eine Ethnografie einer postmodernen Szene, die sich sehr positiv von anderen Werken über die Technoszene im weiteren Sinne abhebt (...)." Bastian Thüne, Zeitschrift für Volkskunde, 21.05.2014