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Städtische Leerräume sind zu einer Realität geworden, die sich längst nicht mehr auf Krisenregionen beschränkt: Es dominiert die Wahrnehmung urbaner Brachen als Missstand. In diesem Buch wird eine andere Perspektive eingenommen: Christine Dissmann wagt einen architekturtheoretisch geprägten Blick auf die städtische Leere und betrachtet diese nicht mit der Intention einer möglichst erfolgreichen Stadtreparatur, sondern interessiert sich für deren ästhetische Eigenschaften.Gängige Umgangsweisen mit urbaner Leere werden auf ihren kulturellen Bedeutungsgehalt hin befragt, und es wird ein…mehr

Produktbeschreibung
Städtische Leerräume sind zu einer Realität geworden, die sich längst nicht mehr auf Krisenregionen beschränkt: Es dominiert die Wahrnehmung urbaner Brachen als Missstand. In diesem Buch wird eine andere Perspektive eingenommen: Christine Dissmann wagt einen architekturtheoretisch geprägten Blick auf die städtische Leere und betrachtet diese nicht mit der Intention einer möglichst erfolgreichen Stadtreparatur, sondern interessiert sich für deren ästhetische Eigenschaften.Gängige Umgangsweisen mit urbaner Leere werden auf ihren kulturellen Bedeutungsgehalt hin befragt, und es wird ein alternatives Leitbild entwickelt, das unter dem Titel »Dornröschenprinzip« Verfahren des geschützten Liegenlassens der Leere erlaubt.
Autorenporträt
Dissmann, ChristineChristine Dissmann (Dr.-Ing.) arbeitet freiberuflich als Architektin, Stadtforscherin und Autorin. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf Konstruktion, Wahrnehmung und Vermittlung städtischer Wirklichkeit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2011

Es schläft das Leben in Ruinen

Wie mit Städten und Landstrichen umgehen, die sich entvölkern? Christine Dissmann setzt einige Hoffnung in die Gestaltung der kommenden Leere.

Während weltweit der Verstädterungsdruck zunimmt und die Mega-Cities ungeheure Größe und Dichte erreichen, leiden zahlreiche Regionen Europas und auch der Vereinigten Staaten an Bevölkerungsschwund und Siedlungszerfall. Nach dem Kahlschlag der Deindustrialisierung seit 1970 macht sich der neue Niedergang seit 1990 nicht mehr allein wirtschaftlich, sondern auch siedlungsgeographisch bemerkbar. Zu Geburtenmangel und Überalterung kommt besonders in den neuen Bundesländern eine Abstimmung mit den Füßen hinzu, die zur Entvölkerung ganzer Landstriche führt. Hoffnung auf sozioökonomische Transformation gibt es kaum, weil die Menschen fehlen. So können Politik und Planung nur noch den Mangel verwalten.

Diese harten demographischen Fakten haben mittlerweile auch die weichen Disziplinen von Raumdenken, Architekturtheorie und Stadtgestaltung erreicht. Eigentlich müsste es für einen Berufsstand, der ursprünglich an der Vervollkommnung der Welt durch Baukörper und Raumkompositionen arbeitete, eine gehörige Demütigung sein, anstelle der Erschließung und Nutzbarmachung des Erdbodens nun das Liegenlassen und Preisgeben zu üben. Doch die vielen Protagonisten der schrumpfenden, konvertierbaren, transitorischen, temporären und erodierenden Städte zeigen bei Ausstellungen, Kongressen und Publikationen stets eine derart gute Laune, als sähen sie in der kommenden Leere die eigentliche Erfüllung. Nachdem ein Jahrhundert moderner Stadtfeindschaft zur einzigartigen Ausdehnung und Ausdünnung der Siedlungsflächen geführt hat, setzen diese Vordenker in das, was ohnehin passiert, emanzipatorische Hoffnungen.

Für eine neue Wertschätzung verlassener, brachliegender und überflüssig gewordener Räume plädiert auch die Cottbusser Architekturtheoretikerin Christine Dissmann. Sie geht von der theoretischen Analyse des Kulturphänomens der Leere aus, das mal als Luxus und Läuterung gefeiert, mal als Deprivation und Depression gefürchtet wird. Danach übt sie sich in der Beschreibungsmethodik urbaner Brachen und versucht schließlich, daraus praktische Konsequenzen für die aktive Umwidmung und Anverwandlung heutiger Stadtwüsten zu ziehen.

Am aufschlussreichsten gelingt der Autorin die kultur- und begriffsgeschichtliche Herleitung des Reinen, Klaren, Leeren als Komplementärvorstellung zum Abwesenden, Amorphen und Mangelhaften. So setzen die großen Schöpfungsgeschichten stets beim Skandalon wüster und leerer Räume an, die dringend der Gliederung und Gestaltung durch den Herrn oder seine Stellvertreter bedürfen. Freilich kann das schöpferische Handeln wider das Gestaltlose immer raffiniertere Formen annehmen, etwa in der vergeistigten Moderne, die mit puristisch-minimalistischer Abstraktion die reine Leere als Gipfel des Sublimen anstrebte. Mit leeren Räumen lässt sich auch Macht inszenieren, ebenso wie Spiritualität in Kirchen und Museen - wobei die aseptischen Weißräume heutiger Galerien wie Heiligenschreine der Kunst strahlen. Hauptsache ist, so die Autorin, dass das materielle oder ideelle Vakuum als bewusste Hervorbringung verstanden wird und nicht als Zufallsprodukt und Abfall.

Mit ihrem zentralen Lehrsatz, dass Leere kein objektiver räumlicher Zustand, sondern ein subjektiver raumbezogener Eindruck ist, rüstet sich die Autorin anschließend für die Nobilitierung des Banalen und Verfemten in Alltagsräumen. Damit knüpft sie an die gute alte Verklärungsstrategie der Pop-Art an, die Konservendosen in Kunst verwandelte und lange vor der Ökobewegung die totale ästhetische Wiederverwertung des Abfalls wollte. Freilich romantisiert die Autorin die aus dem Verwertungskreislauf gefallenen Brachen und Resträume vor allem ostdeutscher Städte als Gegenmodell zur kapitalistischen Wachstumslogik. So kann sie der Stadtglatze rund um den neuen Berliner Hauptbahnhof mehr Reiz abgewinnen als dem durch Investorenarchitektur neuerdings vollgestellten Bahnhofsplatz in Magdeburg. Dieses Lob der Leere mag den Magdeburgern freilich zynisch erscheinen angesichts der Tatsache, dass sie ein halbes Jahrhundert auf dem Niemandsland eines nahezu ausgelöschten Stadtgrundrisses lebten und vorerst wohl kaum für die neue Architektenlust an Frei-, Spiel- und Möglichkeitsräumen empfänglich sind.

Gleichwohl kommt die Autorin bei der Begehung von ausgedünnten Stadtzentren im Osten zur produktiven Grunderkenntnis, dass Leere kein räumlicher Aggregatzustand, sondern als Zeitraum zu verstehen ist. Deshalb plädiert sie für die Neubewertung von Brachen als "Zwischenstadien in Transformationsprozessen". Doch ihre abschließenden Beispiele für den planungspraktischen und künstlerischen Umgang mit verlassenen Räumen und nutzlosen Gebäuden stehen merkwürdig quer zur geforderten Temporalisierung der Stadtwahrnehmung. Denn alle Installationen und Interventionen - spanische Wände vor Abrisslücken, Versiegelung von Ruinen, Naturreservate in ehemaligen Sperrgebieten und viel mentale Geographie durch "Spaziergangswissenschaft" - scheinen das ohnehin Absterbende ganz stillstellen zu wollen. Merkwürdigerweise gibt es nirgendwo Vorschläge für die Gestaltung der wahren Zukunftsbrachen: der gigantischen Raumreserven im Straßen- und Wegebau. Mittlerweile fast die Hälfte der gesamten Siedlungsfläche nehmen die hypertrophen Verkehrsräume ein, und ihr Rückbau für postfossile, stadtverträgliche Mobilitätsformen wäre eine Jahrhundertaufgabe für den Planernachwuchs.

Immerhin fordert die Autorin mit ihrem "Dornröschenprinzip" des Einfrierens und Verschonens von Ungenutztem ein neues Leerstandsmanagement, das anstelle von Verschleiß und Abbruch auf Vorratshaltung zielt. Ganz wie die notleidenden Regionen befindet sich offenbar auch die Architekturtheorie mit Christine Dissmanns Buch in einem Moratorium, das sich im selben Maße temporär und transitorisch wie die Stadtleere entpuppen könnte.

MICHAEL MÖNNINGER.

Christine Dissmann: "Die Gestaltung der Leere". Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit.

transscript Verlag, Bielefeld 2010. 244 S., Abb., br., 28,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Michael Mönninger hat dieses Buch der Cottbusser Architekturtheoretikerin Christine Dissmann mit Interesse gelesen, ganz überzeugt ist er jedoch nicht. Mit ihren Gedanken zur Gestaltung der Leere liegt die Autorin im Trend, meint Mönninger, den unaufhaltsam schrumpfenden Städten Positives abzugewinnen. Wenn Dissmann in verlassenen Städten ein Gegenmodell zur kapitalistischen Wachstumslogik erkennen will, erhebt der Rezensent Einspruch und verweist darauf, dass sie eher Ergebnis einer hundertjährigen Stadtfeindschaft sind. Gewinnbringender findet er ihre Unterscheidung von Leere als ungestalter Ödnis und Leere als etwas Reines, von Deprivation und Luxus also. Die Leere als Ergebnis der Sublimierung ja, da macht Mönninger noch mit, nicht aber bei der Verklärung städtischer Brachen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein begrüßenswerter Beitrag zur aktuellen Fachdebatte.« Anne Pfeil, Raumforschung und Raumordnung, 69 (2011) Besprochen in: Forum Wohnen und Stadtentwicklung, 2 (2011) Fraunhofer IRB, 5 (2011) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.04.2011, Michael Mönninger Kunstbulletin, 4 (2011)