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Um 1900 hatten Vorstellungen über die Zukunft des politischen Staatensystems des bevorstehenden 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur. Die sogenannte "Weltreichslehre" war in Europa ein viel diskutiertes Modell, das besagte, daß das alte System der europäischen Großmächte im neuen Jahrhundert durch ein System von gewaltigen "Superstaaten" abgelöst werden würde. Jedes Land, das nicht imstande sei, in naher Zukunft den Status eines Weltreiches einzunehmen, sei bestenfalls zweitklassig und zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Rußland waren nach dem…mehr

Produktbeschreibung
Um 1900 hatten Vorstellungen über die Zukunft des politischen Staatensystems des bevorstehenden 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur. Die sogenannte "Weltreichslehre" war in Europa ein viel diskutiertes Modell, das besagte, daß das alte System der europäischen Großmächte im neuen Jahrhundert durch ein System von gewaltigen "Superstaaten" abgelöst werden würde. Jedes Land, das nicht imstande sei, in naher Zukunft den Status eines Weltreiches einzunehmen, sei bestenfalls zweitklassig und zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Rußland waren nach dem zeitgenössischen Urteil dazu bestimmt, die Geschicke der Welt zu leiten. Diese Weltmächte würden insbesondere aufgrund ihrer ökonomischen Macht künftig alle anderen Staaten deklassieren.

Die Weltreichslehre war in der Zeit von 1880 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ein internationales publizistisches Phänomen, das in den USA, Großbritannien, dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Frankreich allerdings in sehr unterschiedlicher Form diskutiert wurde. Sie entstand expressis verbis in Deutschland um 1880 und war hier bis in den Ersten Weltkrieg hinein besonders populär. Weitgehend unbekannt ist die Tatsache, daß die Weltreichslehre der Hauptantriebsfaktor für publizistische Forderungen nach einem vereinten "Mitteleuropa" gewesen ist. Deutsche, österreichische und französische Stimmen sahen im Zusammenschluß Mitteleuropas die einzige Möglichkeit, das Zermahlen des in sich zerstrittenen und zerteilten Europa zwischen den drei Mühlsteinen der Weltreiche zu verhindern. Aber auch die Forderungen nach Kolonien und einer schlagkräftigen Flotte gehen zu einem Gutteil auf diese Lehre zurück.

Das vorliegende Werk geht den Spuren der Weltreichslehre in den genannten Ländern von den ersten Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1918 nach und beschreibt und vergleicht Quantität und Qualität der Diskussion, der Schlußfolgerungen sowie der Kritik an diesen Überlegungen. Die Arbeit liefert damit einen wichtigen innovativen Beitrag zur Imperialismusgeschichte.

- "Ein Meilenstein in der Erforschung der Ideengeschichte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts..." (Winfried Baumgart)

Autorenporträt
Sönke Neitzel, geb. 1968, lehrt an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Neuere und Neueste Geschichte. Seine Forschungen befassen sich vor allem mit der Geschichte des Hochimperialismus und dem Zeitalter der Weltkriege. 1994 Promotion, 1998 Habilitation, 2001 Gastdozentur an der University of Glasgow, seit 1994 Fachberater der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Lehrstuhlvertretungen und Lehraufträge in Mainz, Karlsruhe und Bern, 2010 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2000

Vor der Rückkehr zur Unwissenheit und Rohheit
Vision am Ende des 19. Jahrhunderts: Die Lehre von der Vormachtstellung der Großreiche

Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2000. 453 Seiten, 98,- Mark.

Die Nachgeborenen wissen es bekanntlich immer besser - und sie neigen dazu, den Kopf zu schütteln über Zukunftsvorstellungen ihrer Vorfahren. Dabei bedenken sie nicht, dass es ihnen selbst einmal genauso gehen könnte. Vielleicht wird man in 100 Jahren über "Globalisierungs"-Visionen ebenso den Kopf schütteln, wie man dies heute über eine der Zukunftsideen aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert tun könnte: die Weltreichslehre.

Die in erster Linie in Deutschland und Großbritannien, in geringerem Maße auch in den Vereinigten Staaten und in Frankreich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte Lehre bestand in der folgenden Grundannahme: Die kolonialpolitische Expansion und die ökonomische Konzentration im Einflussbereich der großen Mächte werden über kurz oder lang dahin führen, dass sich mehrere Großräume herausbilden, die sich politisch - als Großreiche - und ökonomisch - als abgeschottete Wirtschaftszonen - gegen die übrige Welt wirtschaftlich abschließen und dadurch die Vormachtstellung in der Welt übernehmen werden. Die Lehre differierte nur in einer Hinsicht: ob es sich um zwei (Vereinigte Staaten von Amerika, Russland), drei (Vereinigte Staaten, Russland, das britische Empire) oder vier (Vereinigte Staaten, Russland, das britische Empire und das Deutsche Reich) Weltreiche handeln werde.

Die ursprünglichen Motive für das Entstehen dieser Lehre waren höchst unterschiedlich: Angst vor dem "Zuspätkommen" im kolonialen Erwerbsschacher ebenso wie Furcht vor dem unaufhaltsamen Aufstieg der Vereinigten Staaten im Westen und eines immer mächtiger werdenden Russland im Osten - aber auch, wie in den Vereinigten Staaten, der Stolz auf die unbändige Kraft einer sich unablässig vergrößernden jungen Nation. In Deutschland erreichte die Weltreichslehre nach dem erzwungenen Abgang Bismarcks ihren ersten Höhepunkt.

Der in Diensten der Reichsregierung stehende "offiziöse" Publizist Constantin Rößler formulierte 1890 die in weiten Kreisen verbreitete Phobie vor einem drohenden Abschluss der Weltreiche. Er stellte fest, das Deutsche Reich werde, sofern es nicht rechtzeitig Gegenmaßnahmen treffe, "als ein entvölkertes, armes, notgedrungen zur Unwissenheit und Rohheit zurückkehrendes Land . . . unter den Völkern stehen". Einige Jahre später stellte der führende deutsche Nationalökonom Gustav Schmoller fest, "drei riesenhafte Eroberungsreiche", nämlich die Vereinigten Staaten, das Empire und Russland, seien entstanden, "die mit ihrer Ländergier, ihrer See- und Landmacht, ihrem Handel, ihrem Export, ihrer expansiven Kraft alle anderen kleineren Staaten herabdrücken, ja sie zu vernichten, wirtschaftlich einzuschnüren, ihnen das Lebenslicht auszublasen drohen".

Ähnlich dachte eine ganze Reihe anderer führender Experten in Deutschland - darunter Koryphäen wie Adolph Wagner, Max Sering, Lujo Brentano und Max Weber. Sönke Neitzel betont mit Recht, dass die reale weltpolitische und weltwirtschaftliche Entwicklung seit der Jahrhundertwende im Allgemeinen die Grundannahmen der Weltreichslehre nicht bestätigte, weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht (wie etwa das Scheitern der Empire-Reformpläne Joseph Chamberlains oder die russische Niederlage im Krieg mit Japan zeigten). Dennoch blieben diese Vorstellungen, besonders in Deutschland und in Großbritannien, weiterhin wirksam.

Drei vermeintliche "Gegenmittel" stellte man im Deutschen Reich zur Diskussion: eine forcierte Kolonialpolitik (die freilich mit dem weitgehenden Abschluss der Aufteilung der Welt keine großen Möglichkeiten mehr bot), den Ausbau der Flotte und schließlich die Schaffung einer einheitlichen mitteleuropäischen Wirtschaftszone. Die Vorstellung von Wirtschaftszonen unter deutscher Führung sollte während des Ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf die Weltreichslehre in Deutschland ihren publizistischen und politischen Höhepunkt erreichte, noch einmal besonders populär werden: als Naumanns "Mitteleuropa"-Buch intensiv diskutiert wurde und als sich 1918 in der trügerischen kurzen Phase nach dem Separatfrieden von Brest-Litowsk die Möglichkeit eines von Deutschland beherrschten "Ostreiches" anzudeuten schien. Beide Konzeptionen scheiterten jedoch an der Realität.

Neben der dargebotenen und ausgewerteten immensen Quellenfülle bietet die Arbeit Neitzels zwei besondere Vorzüge: Er nimmt, weit entfernt von der meist üblichen deutschen Nabelschau, eine international vergleichende Perspektive ein, und er fragt nach dem konkreten Einfluss der Weltreichslehre auf die politisch Handelnden. Vor allem der deutsch-englische Vergleich ist sehr ergiebig, denn er zeigt, dass in beiden Nationen konkrete Bedrohungsängste vorhanden waren. Auf den Britischen Inseln sah man sich vor allem von den Vereinigten Staaten oder von Deutschland bedroht. Eine zeitweilig sehr populäre Antwort war der - unter anderen von Cecil Rhodes propagierte - "Anglo-Saxonism", die Idee von der notwendigen Vorherrschaft der "angelsächsischen Rasse". Sie kulminierte schließlich in der Empfehlung einer "Wiedervereinigung" des Empire mit den Vereinigten Staaten. Eine andere Antwort war Chamberlains realistischere Vision eines politisch-ökonomisch einheitlich organisierten britischen Empire.

In Deutschland wiederum war, wie Neitzel nachweist, eine Reihe führender Politiker, vom Bismarck-Nachfolger Caprivi über Posadowsky-Wehner, Tirpitz bis hin zu Kaiser Wilhelm II. (und sogar einzelne Sozialdemokraten wie der Reichstagsabgeordnete Richard Calwer), vom Gedanken der Weltreichslehre mehr oder weniger nachhaltig geprägt. Nicht zuletzt ist die Flottenpolitik hiervon deutlich beeinflusst worden.

Der eigentliche Grund für die vorübergehende Popularität der Weltreichslehre in Deutschland und England lag sicher darin, dass beide Mächte "ihren Status quo im 20. Jahrhundert bedroht sahen", also von massiven Zukunftsängsten geplagt wurden. Es bleibt das große Verdienst von Neitzels Arbeit, auf diesen fundamentalen Tatbestand, dessen Kenntnis für das Verständnis des politischen Bewusstseins und zugleich der kollektiven Ängste der Zeit vor 1918 unverzichtbar ist, mit überzeugenden Argumenten hingewiesen zu haben. Welche konkrete Auswirkung Ideen haben können, ist selten so einleuchtend sichtbar gemacht worden wie am Beispiel dieser Vergegenwärtigung der Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus.

HANS-CHRISTOF KRAUS

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Im 19. Jahrhundert wurde in Nationalökonomie und Publizistik viel diskutiert, welche Riesenmächte in Zukunft die Erde unter sich aufteilen würden. Dass sie es tun würden, stand kaum in Frage. Sönke Neitzel ist diesem "Diskurs" in England, Frankreich, den USA und dem Deutschen Reich nachgegangen und Stefan Breuer lobt die Darstellung für ihre "klare Sprache und die sorgfältige Erschließung der Quellen", stört sich aber daran, dass die Argumentation bald klar ist, und nur noch Variationen folgen. Am Ergebnis, dass dort "wo der eigene Status unsicher erschien", nämlich im Deutschen Reich und in Großbritannien, der Anspruch auf Großmacht am größten war, wird die Imperialismus-Forschung nicht mehr vorbeikommen.

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