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Zwischen 1975 und 1981 erschien sein »literarisches Hauptwerk«, so bezeichnete Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands. Der Roman war und ist ein Kultbuch. Wer kennt nicht die Eingangsszene, die Analyse des Pergamonaltars im Berlin des Jahres 1937 durch Mitglieder des Untergrunds, und die letzten, von Melancholie getränkten Reflexionen über die mögliche Erfolglosigkeit des Widerstands gegen den Faschismus?
An Versuchen, die Singularität der Ästhetik des Widerstands anzudeuten, hat es nicht gefehlt: die einen verglichen das Werk mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit,
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Produktbeschreibung
Zwischen 1975 und 1981 erschien sein »literarisches Hauptwerk«, so bezeichnete Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands. Der Roman war und ist ein Kultbuch. Wer kennt nicht die Eingangsszene, die Analyse des Pergamonaltars im Berlin des Jahres 1937 durch Mitglieder des Untergrunds, und die letzten, von Melancholie getränkten Reflexionen über die mögliche Erfolglosigkeit des Widerstands gegen den Faschismus?

An Versuchen, die Singularität der Ästhetik des Widerstands anzudeuten, hat es nicht gefehlt: die einen verglichen das Werk mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, andre fühlten sich an James Joyce' Ulysses erinnert, wieder andere an Walter Benjamins Passagen-Werk.

Die beiden Ausgaben, in der Bundesrepublik die des Suhrkamp Verlags, Frankfurt am Main, in der DDR ab 1983 die des Henschel Verlags, Ost-Berlin, weichen im Textbestand vor allem im dritten Teil beträchtlich voneinander ab. Nun hat der ausgewiesene Philologe und Weiss-Kenner Jürgen Schutte die definitive Fassung erstellt: Sie präsentiert den Text nach den Vorgaben von Peter Weiss.
Autorenporträt
Peter Weiss wurde am 8. November 1916 in Nowawes bei Berlin geboren und starb am 10. Mai 1982 in Stockholm. Zwischen 1918 und 1929 lebte er in Bremen, wo er das Gymnasium besuchte. 1929 kehrte die Familie Weiss nach Berlin zurück, musste jedoch 1934 emigrieren. Die erste Station bildete London, darauf folgte 1936 die SR. In diesen Jahren widmete sich Peter Weiss vorwiegend der Malerei - 1937/1938 studierte er Malerei an der Kunstakademie in Prag. In dieser Zeit besuchte er Hermann Hesse während zweier längerer Aufenthalte in der Schweiz. Die dritte und letzte Emigrationsstation bildete 1939 Schweden, wo Peter Weiss zunächst in Alingsås, ab 1940 in Stockholm wohnte. Hier setzte er seine Tätigkeit als Maler fort. 1947 hielt er sich als Korrespondent einer schwedischen Tagesszeitung in Berlin auf. Seine Artikel versammelte er 1948 zu seiner ersten Buchpublikation. Der Band erschien posthum 1985 unter dem Titel Die Besiegten. Ab diesem Zeitraum entstanden, in schwedischer Sprache, die ersten Prosaarbeiten, Gedichte, und Dramen. Zu den wichtigsten Erzählungen aus dieser Schaffensperiode zählen Die Situation aus dem Jahre 1956 sowie das 1980 unter dem Autorenpseudonym Sinclair veröffentlichte Buch Der Fremde. Keines seiner Manuskripte wurde jedoch von einem schwedischen Verlag zur Publikation angenommen. Mitte der fünfziger Jahre begann Peter Weiss in deutscher Sprache zu schreiben. 1960 erschien sein erstes Prosabuch Der Schatten des Körpers des Kutschers. Zu Beginn der siebziger Jahre wand sich Peter Weiss wieder der Prosa zu. Zwischen 1975 und 1981 erschien der dreibändige Roman Die Ästhetik des Widerstands, deren letzter Band begleitet wird von Notizbücher 1971 - 1980. Ihm wurde posthum der Georg-Büchner-Preis für das Jahr 1982 zuerkannt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Helmut Böttiger liest für eine Sammelbesprechung Bücher von und über Peter Weiss. Das wichtigste der zum 100. Geburtstag des Autors erschienen Bücher ist für ihn eindeutig die Neuausgabe der "Ästhetik des Widerstands". Der Mitte der Siebziger bis Anfang der Achtziger in drei Bänden erschienene Roman steht für Böttiger heute wie ein wuchtiger, scharfkantiger Felsbrocken im Kieselstrand der heutigen Literatur. Es geht um alles in diesem Roman: Er ist autobiografisch, so Böttiger, auch wenn sich der als Sohn eines jüdischen Fabrikanten ab 1939 im schwedischen Exil lebende Autor eine neue Biografie als kommunistischer Arbeitersohn und Widerstandskämpfer erfand. Politische Diskurse, die auf eine sich ständig verändernde Gesellschaft reagieren, nehmen großen Raum ein ebenso wie ästhetische. Das man die "Ästhetik" in seiner ganzen, von Weiss autorisierten Version lesen kann, ist erst mit dieser Ausgabe möglich. Ein "Jahrhundertwerk", versichert der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2016

Ein herausgemeißeltes Jahrhundertwerk
Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss sind eine Neuausgabe seiner „Ästhetik des Widerstands“,
eine Ausgrabung schwedischer Zeitungsartikel und zwei neue Biografien erschienen
VON HELMUT BÖTTIGER
Drei junge Kommunisten besichtigen zur Zeit von Hitlers Machtergreifung den antiken Pergamonaltar in Berlin und diskutieren intensiv, wie man ihn zu interpretieren habe. Neben dem Ich-Erzähler sind es Hans Coppi und Horst Heilmann. Der Ich-Erzähler rückt jedoch oft an den Rand, und in den langen Satzperioden, die die absatzlosen Seiten des Buches bestimmen, löst er sich mitunter in Dialogen auf und verschwindet hinter anderen Personen, die plötzlich im Vordergrund stehen. So monumental die äußere Gestalt dieser „Ästhetik des Widerstands“ auch ist, so unsicher wirken die unterschiedlichen Bewegungen im Inneren. Das Buch täuscht eine klassische, realistische Erzählweise vor, doch sie wird zwischen den Zeilen und später auch in ihnen selbst erschüttert.
  Das Hauptwerk von Peter Weiss, ein Gipfelpunkt deutscher Prosa nach 1945, hatte in den Jahren seines Erscheinens und noch lange danach Kultstatus. In jeder deutschen Universitätsstadt gab es manchmal ganze Semester lang tagende Lektüregruppen, die sich über seinen gesellschaftspolitischen und ästhetischen Ansatz den Kopf zerbrachen. Weiss hat das Buch 1975, 1978 und 1981 (er starb 1982) in drei aufeinanderfolgenden Bänden veröffentlicht. Ursprünglich war es als ein Buch über den kommunistischen Widerstand in Berlin und Stockholm während des Zweiten Weltkriegs gedacht, doch es wuchs sich aus zu einer weit in die Geschichte ausgreifenden Epopöe, die die Klassengegensätze zwischen unten und oben mit den Widersprüchen zwischen Geist und Macht zusammendenkt. Die Vorstellungen einer besseren Gesellschaft werden in jedem Abschnitt neu konturiert und reflektiert, sie befinden sich in einem ständigen Veränderungsprozess. Das hatte für die damalige Rezeption einen irritierenden, provokativen Effekt.
  Peter Weiss, vor hundert Jahren am
8. November 1916 als Sohn einer bürgerlichen jüdischen Fabrikantenfamilie in Deutschland geboren, erlangte im Exil die schwedische Staatsbürgerschaft und bekannte sich, nach schwierigen Selbstfindungsversuchen, in den Sechzigerjahren radikal zum Sozialismus. Dieser Weg erschien ihm symptomatisch und konsequent. Überall in der „Ästhetik des Widerstands“ finden sich deshalb autobiografische Reflexionen des Autors, die ins Allgemeine und Überpersonale überführt werden.
  Die Kunst erschien Weiss früh als eine Gegenwelt. In den Fünfzigerjahren in Schweden beschäftigte er sich intensiv mit dem Surrealismus, und sein Essay über die visuelle Kunst der Avantgarde bewegte sich auf einer Höhe der Zeit, die in der damaligen Bundesrepublik noch überhaupt nicht vorstellbar war. Der Verbrecher-Verlag legt jetzt unter dem Titel „Dem Unerreichbaren auf der Spur“ einen Band mit bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten schwedischen Artikeln vor, die vor allem diese Phase mehr erhellen. Nach zwei Psychoanalysen und einigen sozialkritischen Dokumentarfilmen radikalisierte sich Weiss zusehends. Der Besuch des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses fungierte dabei als Katalysator.
  In der „Ästhetik des Widerstands“ lässt Weiss die Bindung an ein bürgerlich-subjektives Ich hinter sich und entwirft eine „Wunschautobiografie“, wie er es in einem Interview anfangs unvorsichtig nannte. Die Ich-Figur des Romans verbindet tatsächlich Weiss’ konkrete Lebensorte mit dem Weg eines kommunistischen Arbeitersohns. Im Mittelpunkt stehen dabei keine individuellen Gefühlswelten, sondern die zeitgenössischen politischen und ästhetischen Diskurse, die durch das Ich hindurchgehen und es zu einem agierenden wie getriebenen Teil der Zeitgeschichte machen. Spannende und dramatische Szenen, etwa im Spanischen Bürgerkrieg oder im Berliner Untergrund der Vierzigerjahre, gehen über in differenzierte Auseinandersetzungen über Brecht oder den Dadaismus, über Dante oder über Kafka – wodurch auch die Obsessionen des Autors Peter Weiss auf einer höheren Ebene wieder neu verhandelt werden.
  Charakteristisch für diesen sperrigen, mehrdeutigen und überbordenden Roman ist, wie sich die Debatten über den Pergamonaltar durch die drei Bände ziehen. Immer wieder werden neue Perspektiven entwickelt, aus denen man ihn betrachten kann. Das vorläufige Schlusswort wird wie nebenbei gesprochen: „Weniger das Abgeschlossne als das im Entstehn Begriffne bestimme unser Leben, sagte Heilmann“ – und das ist auch ein Schlüssel für die Interpretation der „Ästhetik des Widerstands“ überhaupt. Es geht um etwas noch Unbestimmtes, um einen Prozesscharakter. Das forderte damals dogmatische linke Weltverenger heraus und ist heute umso mehr eine Herausforderung für Lesegewohnheiten, die Zwischenräume aussparen, auf Eindeutigkeit setzen und allzu Schwieriges als „unklar“, „schwammig“ oder „raunend“ ablehnen. Die „Ästhetik des Widerstands“ ragt in die heutige Literaturlandschaft wie ein Fremdkörper herüber, ein verwitterter Monolith.
  Aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Peter Weiss sind zwei höchst unterschiedliche Biografien erschienen. Birgit Lahanns Buch ist von der momentan grassierenden Mode historischer Reportage gezeichnet. Die Autorin vermittelt den Eindruck, unmittelbar dabei gewesen zu sein, ohne zeitliche Distanz, mit den Mitteln von Home-Story und Spaziergängen mit Prominenten. Hauptquelle sind Gespräche mit der Witwe von Weiss. Wegen der beabsichtigen Wirkung gehen Interview-Dialoge ohne Zitatzeichen, wenn auch mit Zeilensprung, in den Text ein: „Was war bei dieser ersten Begegnung das Interessante an ihm? / Er hatte eine Ausstrahlung, das muss ich sagen. Die hatte er. / Und Sie waren eine intelligente und sehr schöne Frau. / Schön? Das hab ich selbst nie so gesehen. / Aber er wird es gesehen haben.“ Als prägendes Trauma in Weiss’ Leben erscheint dann gleich im ersten Kapitel der Unfalltod seiner erst zwölfjährigen Schwester Margit 1934, der durchaus Spuren in seinem Werk hinterließ, bei Lahann aber eine zusätzliche melodramatische Note bekommt.
  Werner Schmidt hingegen beginnt seine Biografie exemplarisch mit der großen Lebenskrise, die Weiss um 1960 hatte – er war 43 Jahre alt, als bildender Künstler wie als Filmemacher erfolglos geblieben und schien als schwedisch schreibender wie als deutschsprachiger Autor gescheitert zu sein. Zeitgleich kam es zur vorübergehenden Trennung von seiner langjährigen Partnerin und späteren Ehefrau Gunilla Palmstierna. Damit trifft Schmidt einen Nerv. Als emeritierter Professor für Neuere Geschichte in Stockholm interessieren ihn allerdings vornehmlich gesellschaftspolitische Aspekte. Deshalb ist seine Biografie auch weniger eine klassische Lebensbeschreibung als eine Folge instruktiver Essays über die einzelnen werkgeschichtlichen Phasen. Das Privatleben von Weiss bleibt nahezu ausgeklammert. Interessant sind Schmidts Ausführungen über die politische Haltung des Autors, der von Stockholm aus BRD und DDR als ihm gleichermaßen nahe und fremde deutschsprachige Staaten ansah und in seiner radikalsten politischen Phase sich eindeutig zur DDR bekannte. Ästhetische Fragen treten aber fast völlig in den Hintergrund, sodass auch diese Biografie nur Teile des Gegenstands adäquat erfasst.
  Die zentrale Neuerscheinung zum 100. Geburtstag von Peter Weiss ist zweifellos die „Neue Berliner Ausgabe“ der „Ästhetik des Widerstands“, die sich tatsächlich von den legendären drei grauen Kartonbänden der Originalausgabe unterscheidet. Weiss war mit dem Lektorat vornehmlich des dritten Bandes damals überhaupt nicht einverstanden. Die Lektorin Elisabeth Borchers monierte Skandinavismen in Weiss’ Sprache und hatte den Verdacht, der Autor habe sich in seinem jahrzehntelangen Exil von der deutschen Umgangssprache zunehmend entfernt. Sie wollte vor allem Partizipialkonstruktionen auflösen und „die Begriffe schärfen“, außerdem „Subjekt und Verb einander näher“ bringen. Für Weiss spielte jedoch die Musikalität der Sprache eine entscheidende Rolle, markant sind etwa seine herausgemeißelten Endungen bei den Verben: „sehn“, „haun“, „vorziehn“. Die DDR-Ausgabe, die von 1983 an erschien, ging dann eher auf diese Intentionen des Autors ein. Sie war ihm also nicht aus politischen Gründen näher, wie später gemutmaßt wurde. Die Neuausgabe berücksichtigt jetzt sämtliche erhaltenen Skripte und Angaben des Autors und ist daher wirklich von „letzter Hand“ – ein Jahrhundertwerk mit Ecken und Kanten.
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Hrsg. und mit einem editorischen Nachwort von Jürgen Schutte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 1199 Seiten, 38 Euro.
Werner Schmidt: Peter Weiss. Leben eines kritischen Intellektuellen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 461 Seiten, 34 Euro. E-Book 29,99 Euro.
Birgit Lahann: Peter Weiss. Der heimatlose Weltbürger. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2016. 336 Seiten, 24,90 Euro.
Peter Weiss: Dem Unerreichbaren auf der Spur. Schwedische Essays und Interviews 1950 – 1980. Hrsg. und übersetzt von Gustav Landgren. Verbrecher Verlag, Berlin 2016. 304 Seiten,24 Euro.
Nach einer schwierigen Phase
der Selbstfindung bekannte Weiss
sich radikal zum Sozialismus
Die zentrale Neuerscheinung
ist die „Neue Berliner Ausgabe“
seines Monumentalromans
Die Reaktionen auf den Film waren vernichtend: ein „Skandal“ in „Inhalt und Ausführung, hieß es. Peter Weiss distanzierte sich danach öffentlich von seinem Werk.
Dieser Film sollte ein kommerzieller Erfolg werden: Peter Weiss bei den Dreharbeiten zu „Schwedinnen in Paris“ (1960 / 61)
Fotos: Christer Strömholm
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Geisterbeschwörung und Geschichtsroman zugleich ... In seinem grandiosen Epitaph gegen das Vergessen lässt Peter Weiss auf den Untergang der realen Utopie ihre imaginäre Auferstehung folgen: Die Toten leben noch.« Kurt Darsow WDR 20161108

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2004

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Heimschläfer auf Höllenfahrt: Die Belletristik in diesem Herbst

Kurz und Gut steht jeden Morgen an der Ecke und erzählt. Man nennt ihn Kurz und Gut, weil er, ständig hustend und lungenkrank, nicht mehr ausreichend Luft für eine ausführliche Erzählung hat. "Also kurz und gut, sagte er dann: Viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter." So rezitiert er wörtlich den Beginn von Dostojewskis "Idiot" und erzählt dann, kurz und gut, dessen Quintessenz in einem einzigen Satz. Dieser Kurz und Gut ist nur eine der unvergeßlichen Figuren in Dieter Fortes neuem Roman "Auf der anderen Seite der Welt" (S. Fischer), eine Gestalt wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der sich ins Nachkriegs-Düsseldorf verirrt hat. Wie alle diese Figuren ist er ein Führer in die Unterwelt. Zu Beginn des Romans reist der Erzähler, das Kind aus Fortes autobiographischer Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern", ans Meer, in ein Lungensanatorium, eine Hadesfahrt ohne Wiederkehr. Fortes Buch ist eines der düstersten dieses Herbstes und zugleich eines der reichsten, eine postapokalyptische Version des "Zauberbergs", die die "Stunde Null" nicht als Tor zu hellen Wirtschaftswundertagen versteht, sondern als schwarzes Loch, das Vergangenheit wie Zukunft in seinen Sog reißt.

Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken. Es ist kein Zufall, daß eine der interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, "Höllenfahrten" von Isabel Platthaus (Wilhelm Fink), die "Unterwelten der Moderne" von Joyce bis Pynchon ausmißt. Der Abstieg in die Unterwelt ist stets auch ein Blick in die Tiefe der eigenen Seele und die Untiefen der Vergangenheit.

"Da geht's gleich richtig in den Schacht", nennt das Lutz Schaper, eine der Hauptfiguren in Antje Rávic Strubels Roman "Tupolew 134", der auf einem authentischen Fall beruht: 1978 entführten zwei DDR-Bürger eine polnische Linienmaschine auf dem Rückflug nach Schönefeld und zwangen sie zur Landung in Tegel. Wie Strubel die bleierne Atmosphäre jener Jahre sinnlich heraufbeschwört und zugleich die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit demonstriert, ist virtuos. Der "Schacht" wird dabei zur zentralen Metapher der Erinnerung, immer wieder geht es nach "ganz unten", wo die Grenzen der Dinge und alle Gewißheiten verschwimmen.

Nicht nur für DDR-Bürger war West-Berlin ein Sehnsuchtsort. Auch mancher bundesrepublikanischer Wehrpflichtiger entzog sich so der Einberufung. Der zweite Roman von Sven Regener "Neue Vahr Süd" (Eichborn) liefert die Vorgeschichte seines Herrn Lehmann nach, der in den frühen Achtzigern nahe bei Bremen zum Bund muß. "Die ihr antretet, laßt alle Hoffnung fahren" könnte hier über dem Kasernentor stehen. Regener liefert die burleske Variante der Höllenfahrt, die immer pünktlich am Wochenende unterbrochen wird. Doch als Heimschläfer kann er nicht sicher sein, ob seine versifftes WG-Zimmer nicht in Wahrheit der allerunterste Kreis der Hölle ist.

Das gleiche gilt für jenen diabolischen Sexclub namens "Klapsmühle", den Abel Nema in Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage" (Luchterhand) betritt und nur nackt und zerschunden wieder verläßt. Schlagender als durch Moras grandioses Panorama unserer Epoche der Fluchten und Vertreibungen mit seiner Vielzahl faszinierender Figuren und Geschichten läßt sich das Motto von Kurz und Gut nicht beweisen. Eine ähnliche Stoffülle bietet Thomas Brussig in "Wie es leuchtet" (S. Fischer) auf. Doch der vermeintlich ultimative Wenderoman demonstriert, daß allein die Addition von Episoden noch lange kein Zeitpanorama macht.

Die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss ging ja aus dem Plan hervor, Dantes "Commedia" für das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben. Der dunkelste Schreckensort war hier Plötzensee, die Schlachtstätte der Hitler-Attentäter. F. C. Delius erinnert in "Mein Jahr als Mörder" (Rowohlt Berlin) an das Schicksal des Widerständlers Georg Groscurth, der im Mai 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde und dessen Sohn ein Kindheitsfreund des Autors war. Als 1968 der NS-Richter freigesprochen wird, faßt der Erzähler den Entschluß zur Selbstjustiz. An '68 arbeiten sich gleich mehrere Generationen ab: Gerhard Seyfried, Jahrgang 1948, stellt sich noch einmal unter den "Schwarzen Stern der Tupamaros" (Eichborn), Sophie Dannenberg, geboren 1971, klagt im Namen der unter Spätfolgen leidenden Kinder "Das bleiche Herz der Revolution" an (DVA), und Peter Rühmkorf (1929) veröffentlicht seine Tagebücher 1971/72 (Rowohlt).

Wer hierzulande familiengeschichtliche Grabungen anstellt, stößt irgendwann immer auf eine Kammer des Schreckens. Martin Pollack forscht seinem Vater nach, einem später wohl von Partisanen 1947 ermordeten SS-Offizier und Kriegsverbrecher ("Der Tote im Bunker", Zsolnay). Jakob Hein dagegen erinnert sich anrührend an seine verstorbene Mutter und erkundet dabei die jüdischen Wurzeln der Familie im Dritten Reich ("Vielleicht ist es sogar schön", Piper). Auch einige der wichtigsten Übersetzungen sind Familienromane, doch wer hier angesichts der Titel Erbaulicheres erwartet, täuscht sich: Über der "Liebe" in Toni Morissons gleichnamigem Roman (Rowohlt) scheint ein Fluch zu liegen; in Amoz Oz' gewaltiger "Geschichte von Liebe und Finsternis" (Suhrkamp) droht den knapp den europäischen Schrecken entronnenen Juden in Palästina erneut die Vernichtung. Daß der Amerikaner Denis Johnson nicht allzu optimistisch in die Welt blickt, ist aus seiner Novelle "Train Dreams" (Mare) in aller Konzentration abermals zu erfahren. Endlich übersetzt wurde "Der Besen im System", der hintersinnig-irrsinnige Debütroman des genialischen David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch). Im Osten Europas taugt der Fortschritt schon lange nur noch als Groteskenstoff. Der Tscheche Péter Zilahy blickt in seinem verspielten "Revolutions-Alphabet" "Die letzte Fenstergiraffe" (Eichborn) mit Kinderblick auf das ehemalige Jugoslawien. Viktor Pelewin stellt in "Die Dialektik der Übergangsepoche von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" (Luchterhand) den ganzen postkommunistischen Aberwitz Rußlands bloß. "Das jetzige System nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus", so heißt es bei Forte.

Nicht nur die deutsche Literatur also hat jeden Glauben an Fortschritt und Vervollkommnung längst aufgegeben. Das bevorstehende Schiller-Jahr dürfte spannend werden: Zwar ist Schiller ja selbst vor allem in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" der schärfste Fortschrittskritiker gewesen, hatte aber doch mit allem Pathos die Kunst als Remedium inthronisiert. Vielleicht ist ja der "ästhetische Zustand", als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, gar nicht so weit weg von Pelewins buddhistischer Weltentrücktheit. Neben neuen Werkausgaben erscheinen zwei Biographien: Während Sigrid Damm (Insel) eher das Private erkundet, nimmt Rüdiger Safranski (Hanser) eine ambitionierte Rekonstruktion des Schillerschen Idealismus vor.

Und wo versteckt sich in der Gegenwart das Positive? Natürlich in der literarischen Form - und in der Liebe, die ja auch nur eine Funktion der Sprache ist. Marion Poschmanns Buch "Grund zu Schafen" (Frankfurter Verlagsanstalt) ist einer der wichtigsten Gedichtbände der letzten Zeit und markiert die Rückkehr einer Naturlyrik auf höchstem Sprach- und Reflexionsniveau. Diese in wunderbaren, manchmal zunächst dunklen, dann blitzartig klaren Sprachbildern eingefangene Natur erobert sich auch hier die resignierende industrielle Zivilisation zurück. Und wo die Biologie kein Rätsel mehr offenläßt, muß die Sprache die Welt ins Wundersame und Märchenhafte überführen.

Ein Programm, das auch die große Naturerzählerin Brigitte Kronauer unterschreiben würde. Sie hat mit "Verlangen nach Musik und Gebirge" (Klett-Cotta) einen ausgelassenen, entrückten Liebesverwirrungsroman geschrieben. Wie bei Forte beginnt das Buch mit einer seltsamen Reise ans Meer, nach Oostende. Und wenn man diese beiden Zugfahrten nacheinander liest, dann hat man fast schon das ganze Spektrum dieses Herbstes aufgefächert.

RICHARD KÄMMERLINGS

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