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Die infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Jahr 2008 neu entfachten Diskussionen über das Verhältnis von Markt, Staat und Politik lenken die Aufmerksamkeit auf Problemlagen, deren Ursprung maßgeblich in den Umbrüchen seit den 1970er-Jahren zu suchen ist. Sowohl Großbritannien als auch die Bundesrepublik teilten in diesen Jahren die Erfahrung ökonomischer Krisenanfälligkeit. Angesichts tiefgreifender sozioökonomischer Wandlungsprozesse war der politische Diskurs hier wie dort durch heftige ideologische Kämpfe und von der Suche nach neuen politisch-ideellen Grundlagen für das…mehr

Produktbeschreibung
Die infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Jahr 2008 neu entfachten Diskussionen über das Verhältnis von Markt, Staat und Politik lenken die Aufmerksamkeit auf Problemlagen, deren Ursprung maßgeblich in den Umbrüchen seit den 1970er-Jahren zu suchen ist. Sowohl Großbritannien als auch die Bundesrepublik teilten in diesen Jahren die Erfahrung ökonomischer Krisenanfälligkeit. Angesichts tiefgreifender sozioökonomischer Wandlungsprozesse war der politische Diskurs hier wie dort durch heftige ideologische Kämpfe und von der Suche nach neuen politisch-ideellen Grundlagen für das Marktgeschehen geprägt. Die Studie beleuchtet diese ideellen Neuverortungen mittels einer vergleichenden Analyse der Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen. Als analytische Kategorie einer kulturgeschichtlich erweiterten Parteiengeschichtsschreibung fasst der Begriff des Marktdiskurses komplexe Aushandlungsprozesse und semantische Auseinandersetzungen über die Ordnung des Verhältnisses von Markt und Staat. Der Vergleich der Marktdiskurse der Mitte-Rechts-Parteien Deutschlands und Großbritanniens rückt das Verhältnis von transnationalen Entwicklungen und nationalen Spezifika ins Zentrum des Interesses. So werden gängige Narrative über die allgemeinen Entwicklungslinien und -phasen der westlichen Industrieländer im 20. Jahrhundert überprüft und eine differenzierende Antwort auf die von der Forschung bislang vernachlässigte Frage nach Beginn und Ausmaß der "neoliberalen Wende" gegeben. National differierende Diskurskontexte und Krisenwahrnehmungen, parteispezifische Begriffstraditionen und semantische Pfadabhängigkeiten sowie deren unterschiedlich stark ausgeprägte Anschlussfähigkeit an neoliberale Axiome führten dazu, dass eine marktradikale Wende in Großbritannien stattfand, während sie in der Bundesrepublik ausblieb. Der konkrete Vergleichsfall fördert alternative Konstellationen in einem grenzüberschreitenden Transformationsprozess im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zutage, der sich durch unterschiedliche Intensitäten und Geschwindigkeiten des Wandels auszeichnete. Während dies die Sichtweise einer mehr oder weniger einheitlichen Entwicklung des "Westens" ebenso relativiert wie die pauschale Annahme einer gemeinsamen (west)europäischen Erfahrung des Umbruchs, tritt die Relevanz von Diskursen in ihren spezifischen Kontexten für politische Entscheidungen, gesellschaftlichen Wandel und die Wahrnehmung von Zäsuren deutlich hervor.
Autorenporträt
Dr. Peter Beule, geboren 1983, studierte Politische Wissenschaft, Neuere Geschichte und Musikwissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Geschichtswissenschaft und im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 2018 ist er Referent im Referat "Public History" im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2020

Antworten auf Krisenanfälligkeit
Deutsche christliche Demokraten und britische Konservative in den siebziger Jahren

Ihr Verhältnis war kompliziert. Wäre da nicht die berühmte Handtasche gewesen, würde ein ins politische Vokabular übergegangenes Instrument gefehlt haben, taktisch eingesetzt sowie eine kompromisslose Grenzziehung signalisierend. Schließlich eignete sich dieses Objekt dazu, das wenige Gemeinsame zwischen Margaret Thatcher und Helmut Kohl wie eine dünne Schnittmenge zwischen sich zu plazieren. Als ob die Handtasche eines Tages eine ähnliche Bedeutsamkeit erlangen könnte wie der abgewetzte rote Koffer des Schatzkanzlers, mit dem dieser sich in der Regel am Regierungssitz vor den Haushaltsdebatten präsentiert.

An traditionellen Accessoires dieser Art mit großer Symbolwirkung mangelt es im Vereinigten Königreich also nicht. Ebenso wenig an politischer Sprengkraft der an sie geknüpften Budgetfragen. Es ist deshalb eine ungebrochen aktuelle Fragestellung, Staat und Marktdiskurse, politisches und wirtschaftliches Denken und Handeln in einer engen Symbiose als Kommunikationsfaktoren zu erfassen. Peter Beules vortrefflicher Studie zufolge lässt sich über die Marktdiskurse ein Zugang zu den politischen Vorstellungen finden, wie sie sich im deutsch-britischen Vergleich in Antwort auf die Erfahrung ökonomischer Krisenanfälligkeit gänzlich verschieden entfalteten.

Mithin lagen in jeder Hinsicht dem beiderseitigen Verhältnis komplizierte Bedingungen zugrunde. Inwiefern die Entwicklung der Märkte und die öffentlichen Diskurse über sie parteiideologisch richtungsweisend sein konnten und damit nicht zuletzt nationale Eigenheiten ans Licht brachten, untersucht Beule für die Phase der langen 1970er Jahre. Welchen Einfluss hatte die Wahrnehmung ökonomischer Krisen auf die "neoliberale Wende", in welchen spezifischen semantischen Traditionen befanden sich die deutschen Christdemokraten und die britischen Konservativen in dem Moment, in dem sie herausgefordert waren, in Reaktion auf die sozioökonomischen Krisen ihrer Zeit sich ideologisch neu zu positionieren?

Als der CDU-Vorsitzende Kohl im Oktober 1982 zum Bundeskanzler gewählt wurde, war Thatcher als Parteiführerin der britischen Konservativen bereits seit drei Jahren und fünf Monaten Premierministerin. Die Antworten ihrer Parteien steuerten aber nicht auf einen transnationalen Konsens zu, wie immer wieder gerne behauptet wird. Im Gegenteil, von Annäherung könne, so Beule, keine Rede sein, sondern vornehmlich von einer marktradikalen, neoliberalen Neuorientierung in Großbritannien zum einen, von deren Ausbleiben in der Bundesrepublik zum anderen. Die Handlungsstrategien der deutschen Christdemokratie speisten sich dabei unter anderem aus einem in den 1970er Jahren entstandenen Grundnarrativ des Niedergangs, nach dem die Bundesrepublik im Vergleich mit der Zeit vor 1969 an Wohlstand und ökonomischer Stabilität deutlich verloren habe.

War Thatcher in einigen außenpolitischen Punkten durchaus verhandlungsbereit wie etwa anfangs ihrer Amtszeit in der schwierigen Rhodesien-Frage, so hielt sie unnachgiebig an denjenigen Überzeugungen fest, die ihr schließlich den Beinamen "eiserne Lady" verliehen. Eisern nämlich war das Programm, um die langfristigen Konsequenzen des allmählichen wirtschaftlichen Niedergangs, der Energiekrise 1973/74, der hohen Arbeitslosigkeit, niedriger Produktivität und schließlich der strukturellen landesweiten Modernisierungsdefizite und veralteten Produktionsweisen zu bekämpfen. Eine britische Eigenheit im Unterschied zu Deutschland war die Übermacht der Gewerkschaften mit einer ständigen Streikbereitschaft, ihrerseits aufgesplittert in zahllose Einzelgewerkschaften und deutlich stärker mit der Labour Party verflochten, als dies der Fall bei den sozialdemokratischen Parteien auf dem europäischen Kontinent gewesen war.

1974 hatten die britischen Konservativen die Wahl verloren, weil sie sowohl die symbolische Überhöhung der Bergarbeiter unterschätzten als auch die Notwendigkeit der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten. So war Thatcher 1979 mit dem Anspruch auf einen grundsätzlichen Kurswechsel angetreten. Die Abkehr von der Strategie des politischen Konsenses sollte verstanden werden als eine Antwort auf den die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik rücksichtslos bedrohenden "winter of discontent". Denn nur ein halbes Jahr vor dem Machtwechsel war Großbritannien zum einen durch eine breite, nahezu alle öffentlichen Bereiche betreffende Streikwelle, zum anderen durch eine daraus resultierende politische Lethargie gelähmt worden.

Geschickt bindet Beule das Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftskrisen und den auf diese folgenden Marktdiskursen an die Neuausrichtungen des politischen Konservativismus. Thatchers Faszination für das vermeintlich freie Spiel des Marktes reagierte ablehnend auf den Konsens der Nachkriegszeit, der den Wohlfahrtsstaat und mit ihm das Ideal der Vollbeschäftigung zur Folge gehabt hatte. Die radikale Abkehr von einer Politik der Mitte, wie sie ihr Vorgänger Edward Heath vertreten hatte, war überdies extrem eurokritisch zu deuten, denn seit dem Beitritt der Briten zur Europäischen Gemeinschaft zum Jahresbeginn 1973 vergingen nur wenige Momente, in denen britische politische Debatten nicht von "Europa" bestimmt gewesen wären. Die in die DNA der deutschen Christdemokratie eingeschriebene Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft teilten die britischen Konservativen daher nur äußerst bedingt. So war das schlechte Verhältnis zwischen Thatcher und Kohl auch auf den rechthaberischen Ton einer Premierministerin zurückzuführen, mit dem sie die Reduzierung des britischen Beitrags durchsetzte und später sowohl gegen die Initiative für Geldwertstabilität als auch gegen eine Währungsunion polemisierte.

Dieser Haltung lag letzten Endes die Überzeugung zugrunde, die Politik übernehme keine Verantwortung für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Man wird die seit den frühen 1970er Jahren stark an Einfluss gewinnende Position des Monetarismus keineswegs als britischen Sonderweg bezeichnen können. Doch der wegen seiner fremdenfeindlichen Äußerungen umstrittene Keith Joseph, zuerst Industrie-, dann Bildungs- und Wissenschaftsminister, nahm durchaus eine Sonderrolle hierbei ein, zumindest im deutsch-britischen Vergleich, wenn er, wie Beule in seinem sehr empfehlenswerten Buch plausibel darlegt, die britische Position vom Konzept der sozialen Marktwirtschaft abgrenzte.

Auf den Nenner gebracht, standen sich zwei Marktdiskurse gegenüber, in denen sich parteipolitische Weltanschauungen so abbildeten, dass einerseits die jüngere Vergangenheit rezipiert, andererseits ältere Traditionen in Gegenwartspositionen integriert werden konnten. Die parteipolitischen Semantiken des Marktdiskurses verwiesen insofern auf Deutungen von Wirtschaftskrisen, wie sie in der Bundesrepublik zwischen 1973 und 1976 deutlich wahrgenommen wurden. Ob sie sich zudem mit vorangegangenen Krisen wie beispielsweise dem Jahr 1929/30 erklären lassen können, steht dann auf einem anderen Blatt. Vielleicht liegt es in den Tiefen des Koffers des Schatzkanzlers verborgen.

BENEDIKT STUCHTEY.

Peter Beule: Auf dem Weg zur neoliberalen Wende? Die Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen in den 1970er-Jahren.

Droste Verlag, Düsseldorf 2019. 575 S., 64,- [Euro].

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