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Unter den Historikern, die sich mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus beschäftigt haben, nimmt Joseph Wulf als Auschwitz-Überlebender und erster Chronist des Holocaust eine besondere Stellung ein. 1962 nahm er Kontakt zu Ernst Jünger auf, mit dem er bis zu seinem Tod im Oktober 1974 korrespondierte. Der Briefwechsel, der durch mehrere Treffen in Wilflingen und Berlin ergänzt wurde, umfasst etwa 150 Schreiben, in denen beide ihre Auffassungen zur NS-Zeit, zum Holocaust und deren Aufarbeitung dargelegt haben. In vielen Fällen stimmen ihre Bewertungen…mehr

Produktbeschreibung
Unter den Historikern, die sich mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus beschäftigt haben, nimmt Joseph Wulf als Auschwitz-Überlebender und erster Chronist des Holocaust eine besondere Stellung ein. 1962 nahm er Kontakt zu Ernst Jünger auf, mit dem er bis zu seinem Tod im Oktober 1974 korrespondierte. Der Briefwechsel, der durch mehrere Treffen in Wilflingen und Berlin ergänzt wurde, umfasst etwa 150 Schreiben, in denen beide ihre Auffassungen zur NS-Zeit, zum Holocaust und deren Aufarbeitung dargelegt haben. In vielen Fällen stimmen ihre Bewertungen überein, doch gab es auch Divergenzen. Die Korrespondenz wird damit zu einem bedeutenden Zeugnis der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik.Among the historians who dealt with the persecution and annihilation of European Jews under the reign of National Socialism, Joseph Wulf occupies a special position as Auschwitz survivor and first chronicler of the Holocaust. In 1962, he first made contact with Ernst Jünger, with whom he exchanged letters and postcards until his death in October 1974. The correspondence, which was supplemented by several meetings in Wilflingen and Berlin, comprises some 150 letters in which both presented their views on the Nazi era, the Holocaust, and its reevaluation. In many cases, their assessments are consistent with each other, but there were also divergences. The correspondence thus becomes an important testimony to the early Federal Republic of Germany's confrontation with the NS past.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2019

Begegnung im Humanen
Streitkultur: Ernst Jüngers Briefwechsel mit Joseph Wulf

Im Jahr 1963 veröffentlichte der Historiker Joseph Wulf den Band "Literatur und Dichtung im Dritten Reich". Wie in den meisten anderen seiner Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus hatte er darin Originaldokumente aus den Jahren 1933 bis 1945 zusammengetragen und kommentiert. In der kurzen Einleitung ging Wulf ausführlich auf den Lebenslauf von Ernst Jünger ein, von dem in dem Band drei Briefe abgedruckt waren, darunter ein Schreiben vom 16. November 1933, in dem Jünger die Berufung in die gleichgeschaltete und von ihren jüdischen Mitgliedern "gesäuberte" Deutsche Akademie der Dichtung ablehnte. Jünger, so Wulf, habe sich im Gegensatz zu Schriftstellerkollegen für die "äußerste innere Emigration" entschieden und in den Jahren bis 1945, selbst als Soldat im besetzten Paris, ein Musterbeispiel "leidenschaftlichen Menschentums" im "Dritten Reich" abgegeben. Zum Beleg dieser Einschätzung zitiert Wulf auch aus einem Leserbrief Jüngers vom Juli 1934 an den "Völkischen Beobachter", in dem sich dieser vom Abdruck einer seiner Texte in dem Blatt distanzierte.

Wulf dankt Jünger ausdrücklich für die Genehmigung, aus diesem Schreiben zitieren zu dürfen, die er im Jahr zuvor schriftlich in Wilflingen eingeholt hatte. Seit dieser Zeit pflegten der Auschwitz-Überlebende Wulf, 1912 in Chemnitz geboren, und der siebzehn Jahre ältere Jünger einen Briefwechsel, der nun erstmals vollständig ediert vorliegt. Ende 2017 hatten die Herausgeber Anja Keith und Detlev Schöttker bereits einen Teil der ungewöhnlichen Korrespondenz in dieser Zeitung vorgestellt (F.A.Z vom 11. Oktober 2017). Die insgesamt 159 Schreiben aus den Jahren 1962 bis 1974, zusammengetragen aus dem Nachlass Jüngers im Deutschen Literaturarchiv und aus dem Nachlass Wulfs im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg, füllen nur gut einhundert Druckseiten, ihre Lektüre aber inspiriert zum Nachdenken über die eigene Zeitgenossenschaft und liefert eindrucksvolle Einblicke in die Persönlichkeit der beiden so ungleichen Briefpartner.

Deren Schreiben sind von gegenseitiger Wertschätzung, vor allem aber von der Lust an der intellektuellen Kontroverse geprägt. Wulf und Jünger stritten vor allem über die Nachgeschichte des "Dritten Reiches", waren sich aber einig, dass es wenige Jahrzehnte nach dessen Ende noch zu viele ideelle und personelle Kontinuitäten in der jungen Bundesrepublik gebe. Dabei kannte Wulf Jüngers Vorgeschichte und war über seine antiparlamentarischen Aktivitäten und antisemitischen Ausfälle in der Weimarer Republik bestens informiert. Er referierte sie ausführlich in der eingangs zitierten Einführung. Den "Helden seiner Einleitung" (so Wulf an Jünger am 27. Dezember 1962) konfrontierte er aber nie direkt damit. Dennoch will sich bei der Lektüre der Briefe der Eindruck des "Scheiterns" dieses deutsch-jüdischen Verständigungsversuchs, wie ihn der Wulf-Biograph Klaus Kempter konstatierte, nicht so recht einstellen.

Denn vielmehr zeugt die Korrespondenz über Fragen und Formen der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von einem Austausch auf Augenhöhe, dessen Themen von der Beurteilung Beate Klarsfelds und Rolf Hochhuths bis zur Rolle der Wehrmacht oder der Frage der Fernsehpräsenz von Intellektuellen reichten. Fast immer lagen der "germanophile" Jünger und der "bodenlose Kosmopolit" Wulf (so ihre Selbstzuschreibungen in den Briefen) dabei über Kreuz.

Anfangs noch etwas hölzern, eher distanziert und sprachlich distinguiert, entwickelt sich im Verlauf des Briefwechsels schnell eine persönliche Zuneigung zwischen den beiden, die sich durch mehrere im Band durch Fotografien dokumentierte Treffen in Wilflingen und Charlottenburg noch verstärkte. "Hoffentlich rauchen Sie nicht zuviel", ermahnt Jünger, der auch gerne über seine Wetterfühligkeit schrieb, und riet Wulf dringend zur Erholung von der kraftraubenden Arbeit an seinen Büchern.

Als Wulfs Frau Jenta 1973 starb, schickte Jünger Geld nach Berlin, um Blumen für deren Grab in der Nähe von Tel Aviv zu kaufen. Stattdessen ließ Wulf fünf Bäume in Israel pflanzen und sandte Jünger die Schenkungsurkunde des Jüdischen Nationalfonds. Der bedankte sich in einem seiner letzten Briefe an Wulf im Juli 1974 mit Worten, die das Fundament der inzwischen erreichten Verbundenheit zwischen den beiden Hommes de lettres des Jahrhunderts der Extreme offenlegen: "Daß Sie nun gerade meine Blumenspende zur Baumstiftung erhöhten, hat mich gerührt. Wir Beide, nach Art und Herkunft so verschieden, begegnen uns mit Frau Jenta im Humanen - das reicht tiefer als Übereinstimmung in der Meinung und hält länger vor." Mit dem Freitod Wulfs nur drei Monate später nahm der Briefwechsel ein jähes Ende.

RENÉ SCHLOTT

Ernst Jünger/Joseph Wulf: "Der Briefwechsel 1962-1974".

Hrsg. von Anja Keith und Detlev Schöttker. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2019. 168 S., Abb., br., 29,80 [Euro].

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