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Fliegen ist notwendig, Leben nicht. - Aris Fioretos erzählt in seinem neuen Roman die faszinierende Geschichte einer deutschen Flugpionierin in Berlin.
Ein mitreißender Roman über eine Flugpionierin im Berlin der wilden zwanziger Jahre: Als der Arzt Nelly B. eröffnet, dass sie wegen eines Herzleidens nicht mehr fliegen darf, bricht für sie eine Welt zusammen. Als erste Frau in Deutschland hat sie den Pilotenschein gemacht und mit ihrem Mann eine Flugschule geleitet. Sie verlässt Paul, findet eine Stelle bei BMW, wo sie Motorräder verkauft, nimmt Quartier bei einer Berliner Zimmerwirtin und…mehr

Produktbeschreibung
Fliegen ist notwendig, Leben nicht. - Aris Fioretos erzählt in seinem neuen Roman die faszinierende Geschichte einer deutschen Flugpionierin in Berlin.

Ein mitreißender Roman über eine Flugpionierin im Berlin der wilden zwanziger Jahre: Als der Arzt Nelly B. eröffnet, dass sie wegen eines Herzleidens nicht mehr fliegen darf, bricht für sie eine Welt zusammen. Als erste Frau in Deutschland hat sie den Pilotenschein gemacht und mit ihrem Mann eine Flugschule geleitet. Sie verlässt Paul, findet eine Stelle bei BMW, wo sie Motorräder verkauft, nimmt Quartier bei einer Berliner Zimmerwirtin und trifft die viel jüngere Irma, in die sie sich rettungslos verliebt. Aris Fioretos erzählt die Geschichte einer modernen, emanzipierten Frau und einer großen, tragischen Liebe. Aus einem aufregenden Leben wird große Literatur.
Autorenporträt
Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016), Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen - er übertrug u.a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische - wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Seit 2010 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; seit 2022 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Frühjahr 2024 hält er die Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.03.2020

Alles verwandelt sich in Sonnendunst
Aris Fioretos’ Roman „Nelly B.s Herz“ erzählt die hinreißende Geschichte einer spektakulär verliebten Fliegerin. Sie beruht auf der Biografie der ersten
Frau, die in Deutschland eine Fluglizenz erwarb, Melli Beese. Nutzt es dem Roman, wenn man von ihr weiß?
VON CLAUDIA TIESCHKY
Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten, den Roman „Nelly B.s Herz“ des schwedischen Schriftstellers Aris Fioretos zu lesen. Ein unbefangener Leser nimmt den Roman zur Hand. Er liest den Bericht der achtunddreißigjährigen Nelly, die erzählt, wie sie die Beherrschung über ihr Leben verliert von dem Moment an, als ihr im Dezember 1924 eine junge Frau die Hand auf die Hand legt. Der Text hat einen halb die Erinnerung streichelnden Ton, halb den eines sachlich-flotten Sprechens. Diese Nelly redet davon, wie sie zu der Person wird, die den Kosenamen Duvölligverrückte hinreißend findet und das Ausgeliefertsein und das Warten auf die Geliebte. Dabei ist diese Person kein Mäuschen, sondern Fliegerin oder mit dem schönen altmodischen Wort gesagt Aviatikerin. Absolventin der Kunsthochschule in Stockholm, beseelt vom Gedanken an das „Vage und Gewaltige“. Furchtlos. Herzkrank. Leidend unter Nicht-mehr-Fliegen-Können. Vertraut mit einem seelischen Zustand, den sie „schlammig werden“ nennt. Und nach einem Absturz anfällig für die Wirkung morphinhaltiger Tropfen – „alles verwandelte sich in Sonnendunst“. Eine spektakuläre Verliebte voller Zweifel und Depressionen.
Dieser Leser wird hingerissen sein vom Funkeln der Erzählung, von der Eleganz der Bilder und Nebenher-Erfindungen, mit denen Fioretos den Text schmückt. Seine Nelly ist eine Person, die als Künstlerin Wolkenskulpturen aus Gips entwarf und sie beschreibt als „rippenstraff und selbstständig“ oder „schwerelos, wie warme, schaumig geschlagene Luft“. Mit Irma, der angebeteten Blonden, wird sie noch einen letzten Flug unternehmen, obwohl sie nicht mehr sollte. Nelly denkt Dinge wie: „Ich komme zur Ruhe wie Regen in einer Tonne“. Sie katalogisiert im November so umständlich wie gewissenhaft Nuancen von Zementgrau bis Grabsteingrau – „und die ungewohnte Nelly, dieses graue Geschlecht, wuchs von innen“. Oder sie systematisiert drei Arten Hautgefühl, die erste „ist die Mechanikerin, die eine Dichtung festdreht und im richtigen Moment innehält, bevor sie reißt“. Und die dritte: „DIE Haut ist der Ort, an dem man gerettet wird“. Fioretos verleiht der Figur eine Innenausstattung, die alle äußeren Abenteuer in den Schatten stellt, ein Luxus aus lyrischer Gefährdung und Flugbenzingeruch.
Vielleicht hat der unbefangene Leser das Buch von einem einschlägig bestückten Tisch des Berliner Kulturkaufhauses Dussmanns weg gekauft, wo neben Ampelmännchen-Fruchtgummi auch Christopher Isherwoods „Leb wohl, Berlin“ (1939) lag, dessen Held genau wie Nelly in einer Pension logiert, wenn auch in einer weniger bürgerlichen. Vielleicht wird er die Lebensumstände dieser Nelly etwas zu repräsentativ für ihre Zeit erdacht finden, dem Autor vielleicht anlasten, dass diese Hauptfigur allzu viel Bekanntes sieht, liest und erlebt in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, auf dem derzeit so schicken Schauplatz Babylon Berlin.
Aber wie wahrscheinlich ist es, dass jemand die Geschichte als kühne, prächtige Erfindung liest? Wo Fioretos doch den Roman im Nachwort als „literarische Fantasie“ kenntlich macht und damit die Möglichkeit des naiven Lesens versperrt?
Tatsächlich folgt er – zwar „ohne biografische Treue“, aber doch weitgehend – der Lebensgeschichte der 1886 in Dresden-Laubegast geborenen und 1925 gestorbenen Amelie Hedwig „Melli“ Beese-Boutard, die im September 1911 ihre Fluglizenz erwarb, als erste Frau in Deutschland und gegen großen Widerstand der Männer. Verheiratet war Beese, wie Nelly, mit einem französischen Flieger. Wie Nelly hatte sie an der Kunstakademie in Stockholm studiert, wie Nelly betrieb sie mit ihrem Mann eine Flugschule auf dem Flugplatz Johannisthal, wo sich vor Tempelhof die Berliner Luftfahrt abspielte. Damals flog man winters noch im Pelz, wegen des offenen Cockpits. Von Melli Beese gibt es ein sehr apartes Foto im Flugpelz. Sie wäre wie gemacht gewesen für die Art Werbeverträge, mit denen andere frühe Fliegerinnen bald Geld verdienten. Die elf Jahre jüngere Amelia Earhart brachte nach ihrem ersten Atlantik-Alleinflug sogar eine eigene Modelinie heraus. Bei Fioretos verliebt sich die Fliegerin vielleicht nicht zufällig hemmungslos in Irma, das Girl aus der Werbebranche.
Abgesehen davon, dass das Wissen um Beeses Leben den Plot brutal spoilert: Wenn das Abenteuerliche dieses Lebens nicht erfunden ist – wie verhält es sich dann mit dem wilden Innenleben dieser Frau? Was fängt man als Leser damit an, so wie es auf die historische Figur draufgepackt ist? Ist es nur notwendig, um die ebenfalls wilde Biografie zu motivieren? Der Verdacht nährt ein Misstrauen, das sich bei der Lektüre nie abschütteln lässt: Stützt ein Detail etwas historisch Verbürgtes oder gehört es in die höheren Luftschichten der Imagination – zum Vagen und Gewaltigen, wie Nelly sagen würde?
Anders ausgedrückt: Das Wissen um die echte Melli Beese stellt für die feine Kraft der Erzählung eher ein Hindernis dar. Dabei könnte der immer wieder zitierte Spruch „Fliegen tut not, Leben tut nicht not“, der bei Zeitgenossen heroisch geklungen haben wird, hier ein Gleichnis sein – das Fliegen für das Abheben des Textes von der Biografie. Er könnte das poetologische Programm dafür abgeben, wie das literarische Halbwesen Nelly aus Geschichte und Erfindung gefügt wurde. Aber konsequent arbeitet Fioretos das nicht aus.
Nelly ist eine Vielleicht-Erfindung geworden. Und als solche kann sie auch geschmeidig andocken an die Kontexte hundert Jahre später, wenn beim Nachdenken über Geschlechterrollen ausgerechnet die Toilettentür bemüht wird, das Reizstück der Genderdebatte.
Interessant ist die Erzählung vor allem da, wo Fioretto seine Abenteurerin sich in ein langsames Verlöschen hineinreden lässt. Sie ist eine Abhängige – erst vom Fliegen, dann von der „Kohlensäure“ in den Adern, die sie mit Irma spürt, schließlich von den Drogenvorräten des Mitbewohners Reinhardt, die sie auf Würfelzucker träufelt und später in die Adern spritzt.
Fioretos erfindet (und Paul Berf übersetzt) großartige Gedanken und Sätze, wenn seine Fliegerin beinah irre wird, die Zahl ihrer beim Absturz gebrochenen Rippen mit der von Urvater Adam vergleicht, und diese Zahl mit der Abweichung des julianischen vom gregorianischen Kalenders übereinstimmt: „Wenn die Gefühle durcheinandergeraten sind, entdecke ich einen Zusammenhang nach dem anderen.“ Oder sie diskutiert die Muskeln über Irmas Gesäß, berührt Flaumhaare mit der Zunge, betrachtet jede Hautfalte. Nein, Angst vorm Fliegen hat diese Nelly nicht, auch nicht im Sinn von Erica Jongs Skandalroman. Aber sie wünsche sich, sagt sie einmal, „Irma würde sich vorbeugen und in mich hineinschauen wie in einen Briefschlitz und danach erkären, da drinnen sei offenbar alles in Ordnung“. Was es natürlich nicht ist.
Die Fantasie soll aber immer wieder zurück zum Beese-Plot. Darum muss Nelly sehr oft unbedingt von Flugfeldern oder einem Fallschirmsprung berichten. Sogar dann, wenn sie gerade etwas ganz anderes im Kopf hat, Selbstmord beispielsweise, sinniert sie über die technische Entwicklung von Otto Lilienthal bis zu Junckers F 13. Auf das Fliegen kommt Fioretos immer wieder zurück, ausgerechnet das Fliegen erdet paradoxerweise die Erzählung, pflockt sie entschlossen fest. Wo sie doch so wunderbar schweben kann.
Allzu viel Bekanntes sieht
die Figur im derzeit so schicken
Berlin der Zwanzigerjahre
Sie diskutiert die Muskeln über
Irmas Gesäß, berührt Flaumhaare
mit der Zunge
Aris Fioretos:
Nelly B.s Herz. Roman.
Aus dem Schwedischen
von Paul Berf.
Carl Hanser, München 2020. 331 Seiten, 24 Euro.
Hedwig Amelie „Melli“ Beese war ein Mädchen aus gutem Hause, aber eines mit Vorliebe für Abenteuer. 1911 legte sie die Pilotenprüfung ab. Bald darauf eröffnete sie in Berlin-Johannisthal eine Flugschule.
Foto: picture alliance / dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2020

Die bittere Kälte der Sweetness
Nicht nur die Liebe bringt die Heldin ins Schweben: Der Roman "Nelly B.s Herz" von Aris Fioretos

Da hat sich der schwedische Schriftsteller etwas zugetraut mit seinem Roman "Nelly B.s Herz". Er schreibt über mehr als dreihundert Seiten, als schlüge in ihm selbst ebendieses Herz, ein "coeur distordu", das Nellys Körper mit immer weniger Sauerstoff versorgen kann, Kardiomyopathie heißt das. Den Mangel an Oxygen muss sie anders ausgleichen - im Rausch, in den Formen der Entgrenzung, die Nelly in ihrer Haut, die mehr als nur eine ist, leben lässt: die Haut als Hülle und Rolle, die Haut als Mechanikerin und Ehefrau, und die "dritte Haut, die man nur bekommt, wenn man nicht essen kann, weil alles, was sie umschließt - jedes Gefäß und Organ, jeder Nerv, jedes Gewebe - von einem anderen Menschen in Anspruch genommen wird". Aris Fioretos schreibt diesen veritablen Trip auf Leben und Tod seiner Nelly B. aus der Ich-Perspektive, in erzählerischen Passagen und als inneren Monolog, mit Leidenschaft und mit schon abenteuerlich geschmeidiger Einfühlung.

Gewissermaßen als Treibstoff nimmt sich Fioretos dafür die biographischen Eckdaten von der Flugpionierin Melli (Amelie) Beese, die 1886 in der Nähe von Dresden geboren wurde. Von 1906 bis 1909 studierte sie Bildhauerei an der Königlichen Akademie in Stockholm, die schon damals Frauen aufnahm. Ihre Begeisterung fürs Fliegen führte sie zu einem technischen Studium zurück nach Dresden, und sie schaffte es im Jahr 1911, als erste Frau in Deutschland einen Pilotenschein zu erwerben. Das gelang ihr gegen die massiven Widerstände, bis hin zu lebensgefährlichen Sabotageakten, einer reinen Männerdomäne. Im Jahr darauf gründete Beese mit dem französischen Piloten Charles Boutard eine eigene Fabrik für Flugzeuge und eine Flugschule in Johannisthal bei Berlin; sie heiratete Boutard 1913 und nahm die französische Staatsbürgerschaft an. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden beide in Deutschland als "feindliche Ausländer" interniert, sie verloren ihre Maschinen, eine Entschädigung nach dem Krieg konnte den Konkurs der Flugschule nicht verhindern. Das Paar trennte sich 1923. Melli Beese zog nach Berlin, sie erschoss sich dort am 21. Dezember 1925. Kaum mehr ist über ihr Leben bekannt.

Auf einen Zettel hatte sie am Ende geschrieben "Das Fliegen tut not, das Leben tut nicht not"; dieses Motiv durchzieht auch den Roman, als eine Raison d'Être. Fioretos macht daraus eine "literarische Fantasie", wie er es in einer Anmerkung am Schluss des Buchs nennt - ganz großes Kino. Und der Film, der beim Lesen abläuft, scheint schon jetzt reif für die ganz große Leinwand. Es sind die zwanziger Jahre, und Ruth Cornelia Becker-Boulard, wie Fioretos' Protagonistin heißt, mietet sich nach der Trennung von ihrem Ehemann Paul in einer Berliner Pension ein. Weil sie sich mit Maschinen auskennt, bekommt sie eine Stelle bei BMW, die neuen Motorräder liegen ihr. Auf der Deutschen Automobilausstellung in Berlin im Dezember 1924 legt sich eine Hand auf die ihre an der Kupplung des Motorrads, Auftritt Irma Maak: "Erst lehnt sie sich vor und schiebt ihre Hand auf meine. Sie berührt mich nur für ein paar Sekunden. Gleichwohl fühlt ihre Haut sich unerwartet kühl an, ähnlich einem Flugzeug, das länger auf einem Wind gleitet, als man das für möglich gehalten hätte. Dann presst sie ihre Finger auf meine. Das hat zur Folge: Dass ich die Kupplung drücke. Dass sie ihre Hand justiert. Dass wir gemeinsam die Kupplung kommen lassen. Mehr passiert nicht."

Das ist, mit Verlaub, ein wenig kitschig und nicht die einzige Passage dieser Art im Roman. Aber erotische Versessenheit tendiert nun einmal zum Pathos; was nicht schlimm ist, wenn sie so stark erzählt wird wie von Fioretos. Er synchronisiert gleichsam den Rausch der Maschine, des Fliegens, mit dem Leib Nellys. Sie, wie Rückblenden in ihre Kindheit und Jugend klarmachen, fühlt sich schon früh erotisch zu Frauen hingezogen. Es beginnt eine leidenschaftliche Beziehung mit der viel jüngeren Irma; Nelly ist 39 Jahre alt. Irma ist unkaschiert Prototyp des blonden Vamps, arbeitet in einer Werbeagentur, inkarnierte Versuchung einer Scheinwelt. Sealed tight, kept right, the flavor lasts bringt sie Nelly bei, die Französisch, aber nicht Englisch kann; der "Spearmint"-Werbespruch könnte für Irma selbst stehen. Und es ist ebenso cool wie berührend und berechnend, dass Fioretos die zärtlich und diskret geschilderten Sexszenen zwischen den Frauen mit dem Erlernen einer für Nelly neuen Sprache verkoppelt, sweetness.

Nelly ist eine Person, die eigentlich Ordnung braucht, sinnvoll genug, um die Maschinen zu warten und zu beherrschen, die dann erst den Rausch des Fliegens generieren können. Sie wollte früher immer "die Form halten"; wenn sie "schlammig" wurde, blieb ihr Mann Paul "heutrocken". Ihn vermisst sie, ohne sich nach ihm sehnen zu können. Und sie muss erkennen, dass sie, seit Doktor Rosenblatt ihr das Fliegen verboten und Tropfen gegen ihr schwaches, sich vergrößerndes Herz verordnet hat, zunehmend abhängig ist von dem "Sonnenschaum", der sie dann durchflutet. Sie nennt die Droge "Murphy", "Schwester Murphy". Wer denkt da nicht an "Sister Morphine", den stahlkalten Blues der Rolling Stones (auf der LP "Sticky Fingers" von 1971): "Well it just goes to show / Things are not what they seem / Please, Sister Morphine / Turn my nightmares into dreams / Oh, can't you see I'm fading fast? / And that this shot will be my last."

Was Aris Fioretos schreibt, ist in manchen Momenten auch Rock 'n' Roll, bis zum Finale. Die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind dafür seine perfekte Folie. Und er retardiert die Katastrophe, die Nellys ersehnter Befreiung im so nie gekannten Begehren nach Irma folgt, indem er Schlaglichter auf diese prekäre Zeit wirft, die Schicksale der anderen Bewohner in der Berliner Pension schildernd anreißt. Unter der lackierten Oberfläche wird eine im Kern vor allem misogyne Gesellschaft sichtbar, die auch die scheinbare Freizügigkeit in der Geschlechterordnung entlarvt, bis in die Sprache. Nelly muss das, schrecklich leidend in ihrer "dritten Haut", erfahren, wenn Irma sie gelegentlich "Papa" nennt, sie endlich als einen "frechen Vater" ausstaffiert für den Besuch eines einschlägigen Lokals, in dem ihr die Kontrolle über sich völlig abhandenkommt.

Noch ein letztes Mal fliegt Nelly danach ihre alte Maschine und erfüllt Irmas Wunsch, sie auf einen Flug mitzunehmen. Der Rausch eines Jahres schlägt um in den Albtraum; Nelly kommt an die Grenzen, ihrer Physis und ihrer Seele. Was sie "meinen Muskel" genannt hat, mein "graues Herz", ist nicht mehr zu retten. Aris Fioretos folgt Nelly, seinem Ich des Romans, mit der Kraft der Liebe - und der Macht des Futur II: "Ich werde dieser wilde Muskel gewesen sein", heißt der letzte Satz - this shot will be my last. "Nelly B.s Herz" driftet hinüber in seine vollendete Zeit, die es nie gegeben haben wird.

ROSE-MARIA GROPP

Aris Fioretos: "Nelly B.s Herz". Roman.

Hanser Verlag, München 2020. 336 S., geb., 24,- [Euro].

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"Das Gleichgewicht zu halten, das ist sehr schwierig. Davon erzählt dieser Roman. Es ist das Prinzip des Tragischen, dass es am Ende keine Erlösung gibt. Aber in der Literatur ist das Schöne, dass es immer das 'Wie' gibt. Also: Wie wird erzählt. Dieses 'Wie' ist es, das in diesem Roman die ganze Geschichte zum Schweben bringt." Wiebke Porombka, Deutschlandfunk Kultur, 04.07.20

"Fioretos schreibt mit Leidenschaft und mit schon abenteuerlich geschmeidiger Einfühlung. ... Ganz großes Kino. Der Film, der beim Lesen abläuft, scheint schon jetzt reif für die ganz große Leinwand." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.20

"Aris Fioretos erzählt uns diese Liebesgeschichte aus dem Berlin der 1920er Jahre sachlich und zart, lebensklug und formvollendet." Martina Läubli, NZZ am Sonntag, 05.04.20

"Nelly B.s Herz" ist ein faszinierender Roman über den Rausch in allen seinen schönen und gefährlichen Facetten." Anja Höfer, SWR 2 Lesenswert, 15.03.20

"Aris Fioretos' Roman "Nelly B.s Herz" erzählt die hinreißende Geschichte einer spektakulär verliebten Fliegerin. ... Der Leser wird hingerissen sein vom Funkeln der Erzählung, von der Eleganz der Bilder und Nebenher-Erfindungen, mit denen Fioretos den Text schmückt." Claudia Tieschky, Süddeutsche Zeitung, 03.03.20

"Poetisch und nüchtern widmet sich Aris Fioretos in seinem neuen Roman der Liebe einer Flugpionierin." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 16.02.20

"Wie schon in den beiden Vorgängerromanen mischt Aris Fioretos auch in "Nelly B.s Herz" Fakten und Fiktion und erzählt eine Lebensgeschichte zwischen höchster Euphorie und tiefster Depression, in der sich die Stimmung der Epoche beispielhaft spiegelt." Christel Wester, Deutschlandfunk, 14.02.20

"Erfreulich, wenn biografische Literatur gelingt, und dann noch auf so überzeugend hohem Niveau. ...Aris Fioretos erweist sich als kluger und eleganter Romancier." Carsten Otte, taz, 06.02.20

"Mit diesem Roman lässt sich tief eintauchen in das Berlin der 1920er-Jahre, mühelos abheben in die Welt der Flugpionierinnen und der Liebe begegnen. Aris Fioretos hat ein kluges Buch geschrieben, das auch als Kommentar zur immer noch andauernden Debatte über Geschlechterrollen gelesen werden kann. Und das ist einfach schön geschrieben ist. ... Unbedingt lesenswert." Katja Weise, NDR Kultur, 29.01.20
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